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Warum haben so viele Männer immer noch ein Problem mit geschminkten Frauen?

Foto: Shingi Rice
„No-Make-up“-Make-up ist für all diejenigen da, die schminktechnisch gern zweigleisig fahren – die sich zwar strahlende Haut, definierte Augenbrauen, gerötete Wangen und geschwungene Wimpern wünschen, weil sie sich mit einem ungeschminkten Gesicht irgendwie „nackt“ fühlen, aber auch nicht „zu geschminkt“ aussehen wollen.
Natürlich aussehendes Make-up ist kein neuer Trend; schon 2007 veröffentliche die Beauty-Vloggerin Michelle Phan eins der ersten YouTube-Tutorials zu dem Look. Erst in den letzten Jahren ist das No-Make-up-Make-up aber wirklich „groß“ geworden, angeführt von Promis wie Meghan Markle und Zoë Kravitz. Beim No-Make-up-Look geht es nicht darum, die Haut zu verstecken oder zu maskieren, sondern Unebenheiten oder Verfärbungen auf natürliche Weise zu kaschieren, in Form von natürlichen Nude- und Pinktönen, als Cremes und/oder Seren mit leichter Deckkraft. Auf den ersten Blick scheint sich der Look dabei gleichzeitig gegen unser Beauty-Konsumverhalten zu richten und mit Gender-Normen zu brechen, die von Frauen noch immer erwarten, sich möglichst feminin zu präsentieren. Leider verbirgt sich hinter dem Trend zum No-Make-up-Make-up aber auch der gesellschaftliche Hass für „unauthentische“ Frauen, die sich schminken. Dieses Symptom der Patriarchie zeigt uns wieder einmal, wie sehr wir uns noch immer darum bemühen, als Frauen nur nicht „zu viel Raum“ einzunehmen
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Die 21-jährige Studentin Imogen braucht für ihren No-Make-up-Look rund 30 Minuten; sie gibt zu, dass „geschminktere“ Looks ungefähr genauso lange dauern. „Ich trage Augenbrauen-Wachs, Concealer, Mascara, Primer, Lipbalm und vielleicht auch einen nudefarbenen Lippenstift. Oh, und natürlich Feuchtigkeitscreme!“, erzählt sie. Als ich sie frage, wie viel sie für diese Produkte wohl insgesamt ausgegeben hat, spekuliert Imogen: „Locker über 115 Euro.“ Dabei ist Imogen sehr bewusst, dass sie womöglich dafür kritisiert werden würde, wenn sie „zu geschminkt“ aussähe. „Als ich jünger war, postete ich mal ein Foto auf Instagram, auf dem mein Contouring und Bronzer in meinem Gesicht deutlich zu erkennen waren. Dafür bekam ich superviele negative Kommentare – sogar von Leuten, die ich gar nicht kenne. Die schrieben: ‚Du siehst so fake aus‘, oder: ‚Das ist viel zu viel Make-up.‘“

Seitdem Frauen Make-up tragen, sehen viele Männer – und die Gesellschaft als Ganzes – das als Grund für Misstrauen.

Diese Meinung beschränkt sich leider nicht nur auf Instagram-Kommentare. „Geh beim ersten Date mit einer Frau schwimmen“, steht auf einem weitverbreiteten Meme, das eine Frau vor und nach dem Schminken zeigt. „Genau deswegen hab ich Vertrauensprobleme“, steht auf einem anderen. Seitdem Frauen Make-up tragen, sehen viele Männer – und die Gesellschaft als Ganzes – das als Grund für Misstrauen, und weil Kosmetik schon im alten Rom mit Sexarbeit verbunden wurde, steht sie auch im Zusammenhang mit Moralfragen. Während der italienischen Renaissance galt die Schönheit einer Frau als Spiegel ihres Charakters; im viktorianischen England galten Prostituierte als „painted women“ („bemalte Frauen“), und auch im Christentum wird die Schminke mit Sünden verknüpft. In der Bibel hatte die böse Königin Isebel „bemalte Augen“, und wie die Professorin Dr. Brooke Erin Duffy für Vox schrieb, „verurteilte der puritanische Pfarrer Thomas Tuke 1657 den weiblichen Gebrauch von Kosmetik mit der Warnung: ‚Ein bemaltes Gesicht ist ein falsches Gesicht.‘“
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Auch über 350 Jahre später sind davon scheinbar noch immer viele Menschen überzeugt. Eine Studie von 2017 ergab, dass rund 63 Prozent aller Männer der Meinung sind, Frauen würden Make-up tragen, um sie auszutricksen. Im Arbeitsumfeld hingegen fühlen sich viele Frauen dazu gezwungen, Make-up zu tragen, um beruflich voranzukommen. „Von Frauen wird erwartet, mühelos und natürlich so schön zu sein, wie es eigentlich nur mit Make-up und Filtern möglich ist. Wenn du es damit aber übertreibst, giltst du als fake, als Hochstaplerin oder Narzisstin“, erklärt Dr. Duffy. „Das führt dazu, dass Frauen unheimlich vielen prüfenden Blicken ausgeliefert sind und letztlich nur verlieren können.“ Kurz gesagt: Tragen wir „zu viel“ Make-up, gelten wir als betrügerisch – tragen wir aber „zu wenig“, halten wir uns nicht an die Regeln unserer Gesellschaft.
Das betrifft insbesondere Frauen of color, meint Dr. Duffy. „Frauen of color haben die zusätzliche Bürde zu tragen, gesellschaftlich ‚durchgehen‘ zu müssen“, erklärt sie. „Die Kosmetikbranche zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieß eine heute tief verwurzelte kulturelle Unsicherheit los, indem sie Frauen of color kommunizierte: Passt euch der gerade geltenden kulturellen Norm an – also der heteronormativen, weißen Version femininer Perfektion –, aber verheimlicht nicht, wer ihr wirklich seid.“

„Frauen haben das Gefühl, hübsch sein zu müssen, aber nicht zu viel Make-up tragen oder zu viel essen zu dürfen. Wir Frauen haben eine sehr reale Angst vor dem Übermaß.“

Charlotte Fox Weber
Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts kam dann die Ära von Social Media, und mit ihr die noch intensivere Begutachtung weiblichen Aussehens. Heute sind TikTok, YouTube und Co. voller Männer, die Frauen in den Kommentaren oder in eigenen Videos und Posts darüber informieren, dass sie ja ‚natürlich viel besser‘ aussähen. „Im öffentlichen Raum – wie in sozialen Netzwerken – werden Frauen noch mehr für ihr Aussehen verurteilt, wenn es als ‚nicht authentisch‘ oder ‚unecht‘ gilt. Das kann sich auf Zweifel am ‚echten‘ Aussehen einer Frau beschränken, kann aber sogar zum Beispiel dazu führen, dass ihr ihre Gewaltsvorwürfe nicht geglaubt werden“, meint Dr. Duffy. Online kann es schwer sein, Fake und Realität auseinanderzuhalten. Durch die Hypersichtbarkeit unserer Online-Profile – man kann uns jederzeit und überall betrachten – fühlen sich viele Social-Media-User dazu berechtigt, alles in ihren Augen Unechte anzuprangern.
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Die Psychotherapeutin Charlotte Fox Weber ergänzt: „Sogar die Arbeit im Homeoffice hat unser zutiefst menschliches Bedürfnis verstärkt, Unauthentisches zu entlarven.“ Dieses Bedürfnis ist wohl auch für unsere Faszination für Fotos von ungeschminkten Promis mitverantwortlich. Berühmte Frauen, die es „wagen“, sich öffentlich als nicht perfekt zu zeigen, werden mit solchen Fotos „geoutet“. „Wenn wir sowas machen – also solche Makel an anderen finden –, haben wir dadurch das Gefühl, gleiche Verhältnisse zu schaffen. Dadurch wirken diese Stars irgendwie normalsterblicher, und ihre Looks erscheinen selbst für uns machbar“, fährt Fox Weber fort. Aber sind diese Make-up-Looks wirklich machbar? Alicia Keys wird immer wieder für ihren natürlichen Style gelobt – aber selbst diese No-Make-up-Routine kostet deutlich mehr, als sich die meisten wohl leisten könnten. Der Druck, ungeschminkt immer noch makellos auszusehen, bleibt. 
Die kulturelle Erwartung an Frauen, Diäten zu machen und ihre Körper möglichst klein zu halten, kursiert bis heute und erinnert uns daran, dass die Gesellschaft von uns erwartet, möglichst wenig Raum einzunehmen. Könnte der Trend zum No-Make-up-Make-up davon womöglich eine Erweiterung sein? Fox Weber erklärt, dass viele der Frauen, die sie therapeutisch behandelt, „Angst haben, ‚zu viel‘ zu sein – die Männer hingegen machen sich Sorgen, ‚nicht genug‘ zu sein. Frauen haben das Gefühl, hübsch sein zu müssen, aber nicht zu viel Make-up tragen oder zu viel essen zu dürfen. Wir Frauen haben eine sehr reale Angst vor dem Übermaß.“
Die Vermutung, dass unsere Vorliebe für den No-Make-up-Look etwas mit unserer Angst davor zu tun haben könnte, Männer (und andere) könnten uns für „zu geschminkt“ halten, liegt nahe. Natasha, eine 28-jährige Software-Ingenieurin, trägt kaum Make-up und lernte schon früh, dass Männer sie für ihre Schminke verurteilen könnten. „Als ich noch ganz jung war, erzählte mir mein älterer Bruder immer wieder, dass Frauen mit natürlichem Make-up viel schöner seien. Er meinte, wenn ich mich schminke, sollte ich darauf achten, dass Männer nicht sehen, dass ich Make-up trage.“ Dafür gibt es eine psychologische Erklärung, sagt Fox Weber. „Ganz oft geht es dabei darum, gewollt zu werden. Manchmal zerbrechen wir uns aber so sehr den Kopf darüber, wie wir von anderen gesehen werden, dass wir aus den Augen verlieren, was wir selbst wollen.“ Das zeigt sich dann zum Beispiel in der Sorge, zu viel Make-up zu tragen, zu viel zu reden oder als zu emotional oder meinungsstark rüberzukommen. „Das ist paradox“, meint sie. „Frauen haben das Gefühl, ‚zu viel‘ zu sein – und dadurch wiederum unzureichend zu sein, ‚nicht genug‘ zu sein.“
Klar ist: Make-up kann jede Menge Selbstbewusstsein verleihen, und der subtile Glow von fast unsichtbarem Make-up ist eine Kunst für sich. Dabei sollten wir aber nie vergessen, dass wir die Freiheit haben, uns körperlich auszudrücken, wie wir es uns selbst wünschen. Frag dich einfach mal: Was ist denn so schlimm daran, als fake zu gelten? Warum sollten wir Frauen immer und auf jeden Fall unsere Authentizität unter Beweis stellen müssen? Sei gut zu dir selbst – und wenn du Lust drauf hast, trag den bunten Lidschatten oder den dunklen Lippenstift. Trag so viel oder so wenig Make-up, wie du magst. Das ist absolut deine Sache!
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