Was ist die Rolle der Frau in der Gesellschaft? Diese Frage wurde schon oft gestellt. Und jedesmal bringen einige Antworten mein Blut zum Kochen. Gerade wenn es um die Gleichberechtigung der Frau am Arbeitsplatz, den Gender-pay-gap oder #MeToo geht, kommen von konservativen und rechten Seiten oft sehr bedenkliche Aussagen. Frauen gehören an den Herd. Frauen sollten sich um den Haushalt kümmern. Frauen sind dafür da, um Kinder zu kriegen, damit unser Land bestehen bleibt... Vor allem Letzteres ist der Kernpunkt der politischen Pronatalist*innen.
In Margaret Atwoods dystopischem Roman The Handmaid's Tale geht es um eben so eine Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der die Fruchtbarkeit der Frau durch eine politische Diktatur zur Waffe gemacht wird. Frauen werden ihrer Rechte beraubt und gezwungen, ihr Leben im Dienste einer patriarchalischen Gesellschaft zu leben. Ihr Wert wird daran gemessen, wie viele Kinder sie in ihrem Leben gebären... Und auch wenn die Idee für viele von uns eher surreal erscheint, ist sie doch gar nicht so weit von der Realität entfernt, wie man glauben mag.
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Der Natalismus (oder Pronatalismus) ist eine politische Ideologie, die es schon immer gab und wahrscheinlich auch immer geben wird. Er propagiert zwar in erster Linie die Reproduktion des menschlichen Lebens, aber in Wirklichkeit drängt er Frauen dazu, viele Kinder bekommen, um die einheimische Bevölkerung des eigenen Landes zu stärken. In Europa ist die Geburtenrate in den letzten Jahren gesunken. Die Folge daraus: Einige Länder brauchen Immigrant*innen, um die Population in Balance zu halten. Das Thema ist so wichtig, dass es auf die strategische Agenda des Europäischen Rates für die nächsten fünf Jahre gesetzt wurde; in einigen Ländern wurden sogar neue Maßnahmen zur Förderung der Familiengründung vorgenommen.
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Der Natalismus (oder Pronatalismus) ist eine politische Ideologie, die es schon immer gab und wahrscheinlich auch immer geben wird.
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Laut Eurostat, der Statistikbehörde der EU, ist die Bevölkerungszahl im Jahr 2018 in 10 der 28 EU-Mitgliedsstaaten, darunter Kroatien, Lettland, Bulgarien und Rumänien, gesunken. Der kroatische Premierminister Andrej Plenković sagte sogar mal, dass dieser Rückgang ein existenzielles Risiko für seine Nation darstelle.
Andere Staatsoberhäupte beließen es nicht nur beim Reden. In den vergangenen Jahr führte zum Beispiel der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán mehrere pronatalistische Konzepte ein. Dazu gehörten unter anderem Wohngeld für alleinerziehende Mütter und 21.000 neue Kindergartenplätze. Außerdem hat er dafür gesorgt, dass Frauen, die mehr als vier Kinder haben, lebenslang von der Einkommenssteuer befreit werden.
Auf den ersten Blick klingt diese Politik schon wirklich feministisch, oder? Immerhin brauchen gerade alleinerziehende Mütter Hilfe bei all den Fixkosten und eine gute staatliche Kinderbetreuung sollte in jedem Sozialstaat ein Muss sein. Aber auch wenn diese Politik so pro-feministisch wirkt, verschleiert sie doch nur viele rassistische und sexistische Ideologien des Ministerpräsidenten.
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Die Geburtenraten gehen in Europa zurück, weil es Frauen einfacher gemacht wurde, an Verhütungsmittel heranzukommen. Dadurch können sie selbst entscheiden, ob – und wenn ja – wie oft sie schwanger werden wollen. Das führt in einer patriarchalen Welt nun einmal dazu, dass man infolgedessen darüber nachdenkt, die Rechte der Frauen wieder einzuschränken.
Zwar wird in Ungarn Müttern finanziell besonders stark geholfen, aber gleichzeitig setzt sich das Land strikt gegen die Abtreibung ein. Der Zugang zu einer legalen und sicheren Abtreibung ist beispielsweise mittlerweile massiv eingeschränkt worden. Im vergangenen Jahr veranstaltete Orbán eine Konferenz zum Thema Bevölkerungsrückgang und erlaubte vor allem Abtreibungsgegner*innen sich zu Wort zu melden. Und mehr noch: Orbán hat sich ausdrücklich gegen eine Lockerung der Gesetze zur Einwanderung geäußert und begründete das mit der Aussage, er wolle nicht irgendwelche Kinder, sondern nur ungarische. In einer Ansprache zur Lage der Nation sagte er dazu Folgendes: „In Europa werden immer weniger Kinder geboren. Für den Westen ist die Antwort auf diese Herausforderung Immigration. Für jedes Kind, das fehlt, soll ein Kind einreisen und dann kommen die Zahlen schon wieder in Ordnung… Die Ungarn denken anders. Wir brauchen keine Zahlen. Wir brauchen ungarische Kinder… Migration ist für uns Kapitulation.“
Es wäre nicht weit hergeholt, diese Rhetorik und die Anti-Immigrationsmentalität mit einem anderen prominenten nationalistischen populistischen Politiker zu vergleichen: Donald Trump. Diese Sätze haben wir in leicht verändertet Form ja auch schon oft vom amerikanischen Präsidenten gehört – und seine Wählerschaft feiert ihn dafür.
Die ungarische Wissenschaftlerin Anikó Gregor ist derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin tätig. Davor war sie an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest, wo sie sich mit dem Thema Populismus beschäftigt hatte und vor allem über dessen Attraktivität für jüngere Menschen publizierte. Für Anikó ist es zu einfach, das Wiederaufleben des Pronatalismus als Gegenreaktion auf den Fortschritt zu betrachten. Stattdessen sollten wir darüber nachdenken, warum die linken Argumente in der Gesellschaft keinen Anklang finden. „Orbán hat erkannt, dass viele Bürger*innen mit den Problemen der neoliberalen Umstrukturierung der unserer Demokratie allein gelassen wurden – viele davon Frauen“, erklärte sie. Deshalb sei seine familienorientierte Politik ‘etwas für diese Frauen‘“, sagt sie.
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Orbán hat sich ausdrücklich gegen eine Lockerung der Gesetze zur Einwanderung geäußert und begründete das mit der Aussage, er wolle nicht irgendwelche Kinder, sondern nur ungarische.
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„Orbán bringt Familie und Politik zusammen, um dann die Spaltung der Gesellschaft für seine Zwecke zu nutzen. Die Familie ist das einzige Sicherheitsnetz, das die Menschen um sich herum spüren. Der Sozialstaat ist fehlerhaft und das macht die Menschen offen für jemanden, der sagt: ‘Wir stärken das einzige Sicherheitsnetz, das ihr habt‘“, fügt sie hinzu.
Siege von rechten Politikern wie Donald Trump in Amerika, Jair Bolsonaro in Brasilie oder dem Brexit und der AfD hier in Deutschland zeigen, dass der Westen schon ganz schön weit nach rechts gerückt ist. Gleichzeitig nimmt die Unterstützung für fortschrittliche, sozialdemokratische Parteien ab und populistische Bewegungen gewinnen an Kraft. Anikó führt dies zum Teil auf die Sparmaßnahmen zurück, die viele Länder nach der Finanzkrise von 2008 durchführen mussten. In Deutschland ist die Wirtschaft damals um fast fünf Prozent eingesunken. Das macht das Land zu einem der größten Verlierer dieser Krise. Um die Lage noch retten zu können, musste die Politik an vielen Stellen der Gesellschaft sparen. Und das führt logischerweise zu unzufriedenen Bürger*innen, die vom Staat enttäuscht sind.
Anikó ist der Ansicht, dass die Linke es damals einfach verschlafen hat, den Menschen eine alternative Vision zu vermitteln. Sie konnten ihnen nicht zeigen, wie die Welt aussehen könnte. Dagegen hatten die Rechten schnell Gehör gefunden, denn sie hatten klare Visionen und Bilder, die sie den Leuten präsentierten. „Ungleichheiten werden eher im Rahmen kultureller Gegensätze und Unterdrückung problematisiert“, erklärt sie, „während die materiellen Aspekte sozialer Ungleichheiten eher im Verborgenen liegen. Die Wähler*innen hören viel von den Politiker*innen über die Bedeutung der Menschenwürde verschiedener Minderheiten in der Gesellschaft. Aber sie hören weniger über die Menschenwürde derer, die am Existenzminimum leben oder am Fließband für einen Mindestlohn arbeiten – viele von ihnen Frauen, viele von ihnen allein erziehende Mütter“, erklärt sie.
„Politiker wie Orbán, Putin, Erdogan, Bolsonaro, Trump, Parteien wie die AfD und Fälle wie der Brexit sind allesamt Symptome derselben Krise. Diese Krise ist durch die freien Märkte und der Globalisierung entstanden und niemand hat sich darum gekümmert“, meint sie.
Wenn es der Linken nicht gelingt, mit sozialdemokratischen Ideen Argumente zu gewinnen, ist klar, dass ein völliges Umdenken erforderlich ist. Solange wir keine politische Kraft haben, die diesen Argumenten entgegentreten kann, gehen die Anti-Abtreibungsdemos und der Pronatalismus nirgendwo hin. Diejenigen, die sich zurückgelassen fühlen, flüchten sich in Nationalismus und Protektionismus. Die traurige Wahrheit ist aber: Frauen sind in jedem Fall am Ende der Kette zu finden.
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