„Die Frau, die Fotos aß“, „Die Frau, die Bisswunden auf ihrer Haut fand“ oder „Die Frau, die ihren eigenen Mord aufklärte“: Die neue Apple-TV+-Serie Roar (zu Deutsch: brüllen) verbindet den dystopischen Vibe von Black Mirror mit dem warnenden Ton der Märchen der Gebrüder Grimm und liefert feministische Fabeln mit bizarren Wendungen. Die Serie ist surrealistisch, verrückt und furchterregend und zeigt durch Stars wie Nicole Kidman, Issa Rae, Alison Brie und Cynthia Erivo, wie es heutzutage ist, eine Frau zu sein.
Basierend auf der Kurzgeschichtensammlung von Cecelia Ahern steht in jeder halbstündigen Folge eine andere Frau im Mittelpunkt, die sich aus welchen Gründen auch immer – durch einen glücklichen Zufall, weil sie Pech haben, aus Scham oder Angst oder aufgrund von Schuldgefühlen – in extremen Umständen wiederfindet.
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In der ersten Episode mit dem Titel „Die Frau, die verschwand“ spielt Issa Rae (Insecure) eine Autorin, die nach Los Angeles reist, um ein Team voller schmieriger, selbstgefälliger, weißer Hollywood-Führungskräfte zu treffen, die ihre Memoiren verfilmen wollen. Ein Traum, oder? Das bedeutsame Treffen nimmt aber eine albtraumhafte Wendung, als diese ankündigen, dass sie ihre Geschichte stattdessen in ein Virtual-Reality-Erlebnis verwandeln wollen. Die Autorin hasst die Idee und besteht darauf, dass sie diese Arbeit unter diesen Umständen nicht machen will, weil sie weiß, dass ihr Trauma auf diese Weise zum Vorteil der anderen genutzt werden wird. Obwohl sie sich wortgewandt ausdrückt und all die richtigen Fragen stellt, fangen die Führungskräfte an, sich einander komische Blicke zuzuwerfen. Sie versuchen, sie zu beruhigen, bieten ihr ein Glas Wasser an und sagen ihr, dass es in Ordnung sei, nervös zu sein. Dann dämmert es ihr: Trotz all ihrer lautstarken Proteste können sie sie buchstäblich nicht hören. Für sie sitzt sie schweigend da und schmollt. Sie wird langsam unsichtbar. Mit Anspielungen auf Get Out ist das eindeutig eine Allegorie auf die Art und Weise, wie weiße Leute Schwarze Menschen zum Schweigen bringen, aber aus ihrem Schmerz und ihren Erfahrungen Kapital schlagen. Die letzten Momente der Episode, in denen zu sehen ist, wie eine glamouröse Gruppe von Influencern den rassistischen Schmerz ihrer Kindheit durch VR-Headsets als eine Form der Unterhaltung erlebt, sind gelinde gesagt verstörend.
Die Serie wird auf diese offenkundig offensichtliche Weise fortgesetzt. Sie lässt niemanden kalt; das ist sicher, aber die Kernbotschaft wird uns ein bisschen zu stark um die Ohren gehauen. Den Zuschauer:innen wird nicht viel Spielraum für Schlussfolgerungen oder persönliche Interpretationen gelassen, weil jede einzelne Geschichte so wörtlich genommen wird. Das sehen wir bei Cynthia Erivo als vielbeschäftigte berufstätige Mutter in der Folge „Die Frau, die Bisswunden auf ihrer Haut fand“. Schließlich entpuppen sich die Bisswunden als ein Ausdruck ihrer Schuldgefühle, die sie buchstäblich auffressen. Das ist auf schmerzhafte Weise (verstehst du, was ich meine?) offensichtlich. In der Episode „Die Frau, die auf einem Regal aufbewahrt wurde“ verbringt ein ehemaliges Model ihre Tage damit, auf einer kunstvollen Plattform in ihrem Wohnzimmer herumzuliegen, die ihr reicher Ehemann für sie gebaut hat. Sie ist eine Vorzeigefrau, was sonst?
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Die mit Abstand herausragendste Folge zeigt Nicole Kidman in der Rolle einer Frau, die sich um ihre schroffe ältere Mutter kümmert, deren rasch fortschreitende Demenz eine große Belastung für Beziehung der beiden darstellt. Kidmans Figur steht unter großem Stress und entwickelt den Zwang, alte Familienfotos zu essen. Dabei entdeckt sie, dass sie dadurch die auf jedem Bild festgehaltenen Erinnerungen für einen kurzen, berauschenden Moment wiedererleben kann. Die Wärme der Sonne auf ihrer Haut, das ferne Lachen, der Gesang der Möwen in der Brise. Sie versucht, sich an diesen schönen Momenten festzuhalten, während ihre Mutter mehr und mehr davon vergisst. Mach dich gefasst: Nichts kann dich auf den bizarren Anblick von Nicole Kidman vorbereiten, die sich zerknitterte Fotos mit Tränen in den Augen in den Hals stopft. Dieser Moment ist aber auf seltsame Weise bewegend, weil es eine universelle Geschichte ist. Wir wissen, dass auch wir uns eines Tages mit der Sterblichkeit unserer Eltern konfrontiert sehen werden und uns mit denselben Ängsten vor unserem eigenen alternden Körper und davor, uns nicht mehr an alles erinnern zu können, auseinandersetzen werden müssen.
Letzten Endes hat Roar gute Absichten. Die Serie feiert Frauen (wenn auch meist weiße Frauen aus der Mittelschicht) und all die Dinge, die unser Leben ausmachen. Und es lässt sich nicht leugnen, dass die Serie Zuseher:innen in ihren Bann zieht und Stars in Hülle und Fülle bietet. Bei Roar handelt sich um eine Anthologie-Serie mit dem kühnen Anspruch, Probleme rund um Identität und Selbst zu thematisieren, die Frauen heutzutage plagen. Doch anstatt die wirklich schrecklichen Abgründe unseres Geistes zu beleuchten oder die lustigen und hoffnungsvollen Momente unserer täglichen Erfahrungen unter die Lupe zu nehmen, bedient sich die Serie offensichtlicher Klischees, deren Ausführung sich zu verrückt anfühlt, um nachvollziehbar zu sein. Ich bin eine Frau, hört mich brüllen – das ist alles nichts Neues.
Roar ist weltweit seit dem 15. April auf Apple TV+ zu sehen.
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