Um eines vorab klarzustellen, bevor ich mich mit diesem Text ins Kreuzfeuer begebe: Ich bin gegen das am 1. Oktober 2017 erlassene Vermummungsverbot in Österreich, ein Land, das ich seit nunmehr einem Jahr mein Zuhause nenne und das sich politisch im Grunde nicht viel von Deutschland unterscheidet. Nach Frankreich, Belgien und den Niederlanden hätte das Gesetz streng genommen genauso gut in Berlin erlassen werden können, stattdessen gibt es in Deutschland seit dem 22. September 2017 erst einmal eine eingeschränkte Regelung, die die Vollverschleierung zumindest am Steuer eines Autos verbietet. Ich bin jedenfalls gegen diese Art von Reglements, und zwar aus einem einfachen Grund: Ich halte nichts von Verboten.
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Während meines Studiums in Heidelberg hatte ich eine türkische Freundin. Sie ist bis heute die einzige Frau, die ich kenne, die ihr Gesicht in der Öffentlichkeit nicht zeigen wollte und es lieber hinter einem Nikab versteckt hat. Der Nikab ist eine Form der Vollverschleierung, wie sie vor allem in Saudi-Arabien getragen wird. Ein schwarzer Gesichtsschleier bei dem nur die Augen zu sehen sind, wird über einem Kopftuch, das man Hijab nennt, getragen und durch einen weiten Rock oder ein langes Kleid namens Abaya ergänzt. Letzteres trug die besagte Freundin nicht sehr konsequent. Aber egal, was sie anhatte, das Kopftuch passte farblich immer perfekt dazu. Nur der Nikab war schwarz und ließ ihre tiefbraunen Augen leuchten. Sie trug diese Verschleierung aus freien Stücken. Ich konnte das nie so recht nachvollziehen und glaubte zumindest am Anfang, dass sie sich damit einfach einem jahrelangen, anerzogenen Druck von außen beugen würde, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ich musste meine Meinung allerdings revidieren, denn ihre Schwestern trugen im Gegensatz zu ihr keinerlei Kopfbedeckung. Zumindest in ihrer Gegenwart kam ich deswegen oft nicht umhin, meine grundsätzliche Einstellung zur Vollverschleierung als ziemlich anmaßend zu empfinden. Immerhin wirkte sie alles andere als unglücklich. Irgendwann hatte ich mich an die zwei Gesichter meiner Freundin gewöhnt und hörte auf zu fragen. Sie entschied, wann sie wem ihr Gesicht zeigen würde. Das war okay für mich, auch weil sie eigentlich eine durch und durch moderne Frau war. Aus eben diesem Grund hoffte ich aber auch immer, dass sie irgendwann erkennen würde, was die Verschleierung für viele andere Frauen, die nicht ihre Freiheiten genossen, nun einmal war: ein Werkzeug der Unterdrückung.
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Zumindest darin sind unser neuer Bundeskanzler und ich uns einig. Aber wie vom Vermummungsverbot halte ich von Sebastian Kurz auch sonst recht wenig. Neben Trump ist er nichts anderes als eine weitere Marionette, die auf der Bühne des politischen Weltgeschehens nach ein wenig Aufmerksamkeit hascht. Kurz selbst sieht sich allerdings als Robin Hood des Liberalismus. Da kommt die Debatte um die Vollverschleierung natürlich wie gerufen. Sie ist für ihn „ein Symbol der Gegengesellschaft und des politischen Islamismus, und diesen bekämpfen wir entschieden,“ erklärte er der Presse in einem Interview Anfang Oktober und fügte hinzu: „Wir stehen zu unseren europäischen Werten, wie der Gleichstellung von Mann und Frau. Diese werden wir weiterhin unbeirrt verteidigen.“ Zur Not eben auch mit Gewalt – denn ein Verbot, das etwas erzwingen will und mit Strafen einhergeht, ist für mich leider nichts anderes als eine Form von Gewalt.
Mich stören an dem Verbot vor allem zwei Dinge: Zum einen, dass Europas Angst vor Vielfalt damit noch weiter geschürt wird, eine Vielfalt, die doch irgendwann einmal als das Aushängeschild dieser Vereinigung galt. Und zum anderen der Aspekt, dass das Verbot die Konsequenzen für die Leidtragenden der Verschleierung vollkommen ausblendet. Es gibt nämlich immer mehrere Gründe, warum Frauen sich verschleiern: aus Gefälligkeit gegenüber Gott und aus Gefälligkeit gegenüber Männern. Der erste Grund ist von der Religionsfreiheit gedeckt und stellt ein grundsätzliches Menschenrecht dar. Der zweite Grund ist selbstverständlich inakzeptabel, aber dennoch Realität. Die Verschleierung von Frauen ist leider allzu oft keine selbstgewählte Lebensweise, sondern wird als radikales, politisches Symbol mißbraucht oder ist ein Relikt aus dem Dunstbereich der Traditionen. Jeder, der das mit Freiheit verbindet, blendet rätselhafterweise aus, dass viele muslimische Frauen keine Wahl haben, ob sie sich verschleiern möchten oder nicht.
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Genaue, offizielle Zahlen, wieviele Frauen allein in Österreich vollverschleiert sind, gibt es nicht. Seit 2010 kursiert ohne nachvollziehbare Quelle die Angabe 150 im Netz, in Deutschland sollen es um die 100 sein. Sehr wahrscheinlich sind es jedoch einige mehr. Von den wenigen, die ich ausfindig machen konnte, war erst einmal keine bereit, mit mir zu sprechen. Zu groß war die Angst vor Stigmatisierung. Und ich kann sie gut verstehen, sind sie doch derzeit Zielscheibe für etliche Debatten. Auch wenn die Vollverschleierung vielleicht nicht immer frei gewählt ist, so ist sie doch das einzige, was viele von ihnen kennen. Dank einer glücklichen Fügung, erklärt sich doch noch eine Frau bereit, mir ihre Geschichte zu erzählen. Sie möchte mich allerdings lieber nicht persönlich treffen, um unnötigen Aufruhr zu vermeiden. Außerdem wüsste sie ohnehin keinen Ort, der dafür in Frage käme; in die Öffentlichkeit traue sie sich ohne ihren Nikab nicht mehr, und auch für unser Skype-Interview legt sie ihn nicht ab.
Nemi Aras (Name von der Redaktion geändert) ist 28 Jahre jung, hat früh geheiratet und ist ihrem Mann, einem erfolgreichen Unternehmer, vor vier Jahren von Saudi-Arabien nach Österreich gefolgt. Damals sei sie sehr aufgeregt gewesen, in ein so liberales Land zu kommen. Sie hoffte auf ein besseres Leben, wirklich erfüllt habe sich diese Hoffnung aber nicht. In ihrer Heimat sei sie wenigstens unter Gleichgesinnten gewesen, erzählt sie, hier sei sie fremd, mit wie ohne Schleier. Ob sie sich denn unter ihrem Nikab wohlfühlen würde, möchte ich wissen. Zu meiner Verwunderung beantwortet sie diese Frage mit: „Ja! Ich weiß, das klingt absurd, aber das ist nun mal meine Identität. Mir ist klar, dass Frauen, die sich nicht verhüllen, in euren Augen ein freieres Leben führen, und vielleicht stimmt das ja auch, aber mir macht es eher Angst. Das ist vielleicht schwer nachvollziehbar, aber ich weiß einfach nicht, wie das gehen soll.“
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Für ihre Tochter wünscht sie sich zwar eine andere Zukunft, wie die aussehen kann, weiß sie allerdings selbst nicht genau. Seit dem Vollverschleierungsverbot Anfang Oktober noch weniger als vorher. „Wie soll ich meiner Tochter denn beibringen, sich in dieser Welt zu behaupten, wenn ich mich nicht einmal selbst ohne Nikab aus dem Haus traue? Ich habe erst seit dem Verbot, wenn ich nur mit Kopftuch unterwegs bin, das Gefühl aufzufallen, auch wenn ich weiß, dass das Unsinn ist. Glaube mir: Es ist einfacher einen Nikab anzulegen, als ihn abzulegen!“
Lange ablegen muss sie ihn ohnehin nicht. In wenigen Wochen wird Nemi nach Saudi Arabien zurückkehren, sobald ihr Mann seine Geschäfte hier beendet hat. Sie freue sich sogar ein bisschen darauf. „In Saudi-Arabien dürfen Frauen ab 2018 wieder Auto fahren. Das ist doch ein erster Schritt, und vielleicht nur einer von vielen.“ Und in Europa? Hätte es in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Österreich einen anderen Ansatz geben können, als das strikte Verbot? „Ich verstehe wenig von Politik und kann nur von mir selber sprechen, aber das Verbot hierzulande ändert für Frauen wie mich überhaupt nichts. Unabhängig davon, dass ich mich jetzt nicht mehr allein aus dem Haus traue (Anm. d. Red.: auch wenn ihr Mann zugesichert habe, die Strafen für sie zu bezahlen, scheue sie doch die Konfrontation), fühle ich mich durch dieses Verbot ausgegrenzt aus einer Gesellschaft, zu der ich ohnehin nie dazugehört habe. Ich lege meinen Nikab gegenüber Freunden natürlich ab, ebenso wie gegenüber Menschen, die ich besser kenne. Ich hätte ihn auch heute wahrscheinlich nicht getragen, wenn das Thema unseres Gesprächs nicht so persönlich gewesen wäre.“
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Und sie fügt hinzu: „Machen wir uns nichts vor: Die Frauen, die aus Überzeugung einen Nikab oder eine Burka tragen, werden das auch weiterhin tun. Sie werden einfach die Strafen zahlen. Und alle anderen werden wahrscheinlich ein noch eingeschränkteres Leben führen, als sie es ohnehin schon getan haben.“ Ob Nemi den Nikab aus freien Stücken gewählt habe, dazu schweigt sie. Überhaupt überlegt sie vor jeder Antwort sehr lange, so als wolle sie sich ihrer Worte erst zweimal versichern. Ich bin ihr dennoch sehr dankbar und wünschte, wir hätten uns persönlich treffen und ich mich richtig bei ihr bedanken können. So bleibt mir nur, ihr alles Gute zu wünschen und mich zu fragen, wer diese Frau wirklich war. Dank des Verbots werde ich das jetzt aber erst recht nicht herausfinden.
Fazit: Ein Verbot geschieht fast immer aus den falschen Beweggründen. Es geht weniger um die Betroffenen, als viel mehr um die Ängste unsicherer Spießbürger, um ihre angeblich bedrohte Freiheit und das Verlangen, sich lieber weiter in ihrer Komfortzone aalen zu können. Die leidtragenden Frauen, die Opfer dieser patriarchalischen Machtspiele sind, profitieren jedenfalls nicht davon, soviel ist nach dem Gespräch mit Nemi klar. Vielleicht wäre eine Kleiderordnung eine Alternative gewesen, die sich auf bestimmte Bereiche beschränkt – ähnlich wie in Deutschland. Eine Verordnung dieser Art klingt weniger drastisch als ein Verbot und hätte dazu beitragen können, Annäherung und Auseinandersetzung zu schaffen, anstatt die Fronten noch mehr zu verhärten. Dass ein Sebastian Kurz allerdings wenig von ganzheitlicher Integration versteht oder hält, hat er im vorangegangen Wahlkampf ausdrücklich bewiesen. Schade nur, dass ihm so viele zugestimmt haben.
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Und was ist nun mit den Frauen, die den Nikab so wie meine Kommilitonin von damals aus freien Stücken tragen? Was bedeutet Freiheit noch für sie, in einem Land, in dem eine Regierung sie zwingt, ihn abzulegen? Meine Freundin lacht nur, als ich sie nach vielen Jahren mal wieder anrufe, um sie nach ihrer Meinung zu fragen: „Sie werden ihn trotzdem tragen, noch stolzer als vorher. Wer den Nikab aus religiöser Überzeugung anlegt, lässt sich von so einem weltlichen Verbot nicht abschrecken.“ Sie selbst habe ihn im letzten Jahr wieder abgelegt, aus freien Stücken, an dem Tag, an dem sie ihren heutigen Mann kennengelernt hat.
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