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Warum jede*r Weiße eine Mitschuld am White Privilege trägt

Artwork by Anna Jay.
Die globale Pandemie scheint in den Nachrichten schon fast vergessen zu sein, als Layla Saad und ich uns zum ersten Mal unterhalten. „Weiße Menschen sind es nicht gewohnt, sich selbst als Weiße zu sehen“, sagt Saad, die Autorin des Buches Me and White Supremacy. „Ich war mir von klein auf bewusst, dass ich eine Schwarze Person bin, denn wenn man nicht Teil der dominanten Kultur ist, ist man immer nur der andere. Und so weißt du einfach, dass du nicht zu denen gehörst, die als ‘normal‘ angesehen werden.“
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„White Privilege bedeutet, du siehst dich nicht als weiße Person, sondern nur als Mensch“, sagt Saad.
In den letzten Jahren hat Saad es geschafft, weiße Frauen – weiße Feministinnen – auf der ganzen Welt dazu zu veranlassen, sich über wichtige Fragen Gedanken zu machen. Als Antwort auf ein von ihr verfasstes Essay mit dem Titel “Ich muss mit spirituellen weißen Frauen über die Vorherrschaft der Weißen sprechen“ startete sie eine 28-tägige Challenge auf Instagram. Die Arbeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Doch so gut das auch klingen mag, Saad erfuhr dadurch einen Nebeneffekt: Sie musste sich nämlich ständig den Fragen weißer Frauen stellen, die versuchten, sie besser zu verstehen.
In der 28-Tage-Challenge sollten Weiße sich vor allem ihrer Selbst bewusst werden: Was haben sie über sich selbst gelernt? Was ist White Supremacy und wie zeigt sie sich im Alltag? Und wer hat sich entschieden, sich von den Auswirkungen der weißen Vorherrschaft und seiner Rolle darin zu distanzieren, und vor allem, warum?

White Privilege bedeutet, du siehst dich nicht als weiße Person, sondern nur als Mensch.

Layla Saad
Die globale Krise, in der wir uns gerade noch befinden, hat diese Frage wohl um so relevanter gemacht. „Die Leute behaupten gerne, das Coronavirus unterscheide nicht zwischen Ethnie, Klasse oder Land, die Krankheit sei geistlos und werde jede*n infizieren, den oder die sie infizieren kann“, schrieb Charles M. Blow Anfang April für die New York Times. „In der Theorie ist das wahr. Aber in der Praxis, in der realen Welt, verhält sich dieses Virus wie andere und zielt wie eine Rakete auf die Schwächsten in der Gesellschaft. Und das passiert nicht, weil es diese Menschen bevorzugt, sondern weil sie anfälliger, verletzlicher und kranker sind als andere.“
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In Wirklichkeit hat COVID-19 nicht nur gesundheitliche Hierarchien, sondern auch Kultur- und Klassenprivilegien offengelegt. Die Todesrate unter Schwarzen, Asiat*innen und Angehörigen ethnischer Minderheiten in Großbritannien ist „mehr als doppelt so hoch wie die der Weißen“, wie eine Analyse des britischen Instituts für Steuerstudien in diesem Monat ergab. Anfang Mai berichtete das Rechnungsprüfungs- und Forschungszentrum für Intensivmedizin des Landes, dass 33 Prozent der kritisch kranken COVID-19-Patienten aus einer Minderheit stammten, obwohl sie 19 Prozent der Gesamtbevölkerung Großbritanniens ausmachten – eine Zahl, die seit März konstant geblieben ist. Eine Analyse von Sky News ergab, dass 70 Prozent der an vorderster Front im Gesundheitswesen Beschäftigten, die am Coronavirus gestorben sind, einer Minderheit angehören.
In den USA ist die Situation ähnlich krass: Die Sterblichkeitsrate ist bei Schwarzen Amerikaner*innen durch das Virus 2,4-mal höher als bei weißen. Rassismus – gepaart mit einer „Kultur der lynchähnlichen Komplizenschaft“ rund um die Gewalt an Schwarzen, die durch die tödlichen Schüsse auf Ahmaud Arbery im Februar deutlich wurde – tötet Menschen. Die systematisch auftretenden institutionellen Probleme, die die Ungleichheit gedeihen lassen, werden für die politisch Verantwortlichen immer schwieriger zu ignorieren.
Genauso wichtig sind die Gespräche, die vor Ort geführt werden müssen. „Das Coronavirus ist eine Katastrophe für den Feminismus“, heißt es in einem Artikel des Online-Magazins The Atlantic bereits im März. Darin wird darauf hingewiesen, dass Pandemien – die auch die Ungleichheit zu Hause und in der geschlechtsspezifischen Arbeitswelt offenbaren – „nachhaltige Auswirkungen auf die Ungleichheit der Geschlechter“ haben. Wir wissen natürlich, dass jede Ungleichheit zwischen den Geschlechtern BPoC-Frauen immer am härtesten trifft. Und der problematische, ungebremste weiße Feminismus macht das noch schwieriger.
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Trotz regelmäßiger Lippenbekenntnisse zu Themen wie Rassismus und Klassenunterschieden und Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts sind echte Aktionen von Weißen rar. Selten analysieren Weiße, mich eingeschlossen, ihre eigene Mitschuld und Aktivität innerhalb des rassistischen Systems, in dem wir alle leben. Die emotionale Last des Kampfes um Gleichbehandlung wird überwiegend denjenigen überlassen, die durch dieses System bereits entrechtet sind.

Es war fast schon so wie bei Männern, die wegen Sexismus kritisiert werden – sie haben immer ähnliche Sprüche auf Lager, um ihre Unschuld in diesem systematischen Problem darzustellen. Und so war es mit den Feministinnen. Und sie alle dachten, sie würden etwas Neues sagen.

Mikki Kendall
Zwar engagieren sich mehr Menschen und bilden sich über rassistische Dynamiken weiter, doch nur wenige stellen die verinnerlichten Ideen und Strukturen, richtig in Frage, sagt Saad. Die Dominanz der Weißen ist etwas, von dem wir alle ein Teil sind – sie ist nicht auf Rechtsradikale und Neonazis beschränkt. Autorinnen und Denkerinnen wie Saad und Mikki Kendall, Autorin des neu veröffentlichten Buches Hood Feminism: Notes From The Women That A Movement Forgot, sagen spätestens jetzt: Das muss sich ganz klar ändern. Es ist an der Zeit für uns weiße Frauen aktiv zu werden!
„Ich hatte schon vor dem Schreiben meines Buches Gespräche auf Twitter und bei feministischen Veranstaltungen geführt“, erzählt Kendall, „und ich wünschte, ich könnte jetzt zurückgehen, diese aufzeichnen und dann vorspielen, wie sehr einige dieser Frauen versucht haben, mir zu erklären, dass sie keine Schuld tragen würden. Sie könnten auf keinen Fall Teil des Problems sein, denn sie sind ja Feministinnen.“
„Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte ich eine Sammlung über diese sich wiederholenden Sprüche angelegt“, fügt sie hinzu. „Es war fast schon so wie bei Männern, die wegen Sexismus kritisiert werden – sie haben immer ähnliche Sprüche auf Lager, um ihre Unschuld in diesem systematischen Problem darzustellen. Und so war es mit den Feministinnen. Und sie alle dachten, sie würden etwas Neues sagen.“
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2015 veröffentlichte Alli Kirkham einen Comic mit dem Titel How White Feminism™ Can Look Just Like Sexism (Wie weißer Feminismus schnell Sexismus gleichen kann), der dieses Phänomen perfekt artikuliert: Trotz all ihrer Proteste, dass Männer sich hinter die feministische Bewegung stellen müssen, dass wir unsere eigenen Geschichten so erzählen sollten, wie wir es für richtig halten, dass Männer sich ausnahmsweise einmal unwohl fühlen sollten, reagieren weiße Feministinnen oft auf genau die gleiche Weise auf Diskussionen über Rassismus.
Es ist unangenehm, zuzugeben, dass jemand vor etwas sicher ist, während jemand anderes es eben nicht sein kann. Genauso unangenehm ist es, zuzugeben, dass wir (ich) von struktureller Unterdrückung auf sehr reale Weise profitieren. Wie Saad sagt, ist die Arbeit gegen Rassismus unbequem, aber dieses Unbehagen ist unbedeutend im Vergleich zu dem Schaden, der entsteht, wenn man nichts tut. Diese Gespräche zwischen weißen Frauen, weißen Feministinnen – ich, vielleicht auch du – sind längst überfällig, und sie waren noch nie so dringlich wie jetzt.
„Es gibt ein paar alltägliche Dinge, die Weiße tun, die wie normale Verhaltensweisen aussehen, aber eigentlich aus dem Privileg des Weißseins und einer gesellschaftlichen Bevorzugung der weißen Hautfarbe, aka White-Centring, herrühren“, erklärt Saad.
„White-Centring bedeutet, weiße Menschen glauben, sie seien im Zentrum aller Geschehnisse. Ich werde so oft zu dieser Arbeit interviewt, und eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird, lautet: Wie können sich Weiße darüber klar werden, wie unbequem diese Arbeit ist?“, erklärt sie weiter. „Und ich antworte: ,Ja, die Arbeit ist unangenehm. Aber Tatsache ist, Weiße konzentrieren sich bei solchen gesellschaftlichen Problemen so sehr auf ihre Rolle und merken dadurch nicht einmal, wie unangenehm es für BPoC ist, von Rassismus betroffen zu sein und darunter leiden zu müssen. Und diese beiden Gefühle sind nicht gleichwertig‘.“
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Während unseres Gesprächs – selbst beim Schreiben dieses Artikels – ist mir schmerzlich bewusst, dass ich dasselbe tue. Ich kann das Ausmaß der Arbeit erkennen, die ich zu leisten habe. Jeder Mensch, der diese Fragen stellt, mag glauben, dass er oder sie es mit den besten Absichten tut, aber genau das ist der Punkt. Wenn du nur an dich selbst denkst, dann verschleierst du den wahren Grund, warum du diesen Kampf für Gleichberechtigung auf dich nimmst – nämlich um das Leben derer zu verbessern, die von den Systemen benachteiligt werden, von denen du profitierst.

Wenn die Leute das Wort 'Privileg' hören, fühlen sie sich sofort angegriffen, weil sie in vielerlei Hinsicht kein priviligiertes Leben führen.

Layla Saad
„Ich glaube, es gibt auch ein kleines Missverständnis darüber, was White Privilege eigentlich ist. Denn wenn die Leute das Wort 'Privileg' hören, fühlen sie sich sofort angegriffen, weil sie in vielerlei Hinsicht kein privilegiertes Leben führen. Vielleicht gehören sie zur LGBTQ+-Community, sind in sozial schwächeren Gegenden aufgewachsen oder sind Frauen“, meint Saad.
„Und diese Identitäten kommen mit ihren eigenen Unterdrückungs- und Marginalisierungserfahrungen. Aber im Gegensatz zur schwarzen Bevölkerung folgten ihre Hürden im Leben nicht durch ihre Hautfarbe.“
Die Gedanken, die wir versuchen müssen zu ändern, sind tief in unser Leben integriert. Wir müssen daran arbeiten, uns weiterzubilden. Wir müssen lernen, wo wir wirklich unser Geld ausgeben sollten. Und wie wir die Politiker*innen effizient zur Rechenschaft ziehen können. Weiße Frauen müssen nicht nur das System abschaffen, sondern auch die Ideen, die wir infolgedessen unser Leben lang akzeptiert haben. 
„Es ist keine Aktion, es ist keine Checkliste, es sind keine Dinge, die man tut, um der Welt zu beweisen, dass man ein guter Mensch ist oder dass man kein*e Rassist*in ist“, sagt Saad mit Nachdruck. „Es ist eine Lebensweise, eine Art, über sich selbst als Teil dieser Welt nachzudenken. Weiße müssen sich jeden Tag aufs Neue für Mitmenschen einsetzen, denn dieses Engagement ist kein Projekt, das man nebenher macht.“
„Und ich möchte wirklich, dass die Menschen verstehen, es geht hier nicht um eine einmalige Sache, sondern um lebenslange Sache. White Supremacy ist ein System, und es wirkt sich dauerhaft auf BPoC aus. Sie wird also nicht dadurch abgebaut oder überwunden, indem man sie als eine einmalige Sache oder eine einfache Reihe von Handlungen bezeichnet, die man tut, sondern indem man sich selbst jeden Tag in der Praxis des Antirassismus übt.“
Es ist leicht, die Nachrichten zu verfolgen und entsetzt über Misshandlungen, Gewalt und weitreichende, tödliche Ungleichheiten in der Welt zu sein. Es ist aber wesentlich schwieriger, zuzugeben, dass wir mitschuldig sind. Aber eines ist klar: Jetzt ist die Zeit dafür gekommen, ehrlich zu uns selbst zu sein.
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