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Die Widersspruchlösung für Organspenden ist schon lange überfällig

In meinem Leben habe ich sicherlich an die zehn Organspendeausweise besessen. Ich komme aus einer Ärztefamilie, weshalb ich mit morgendlichen Gesprächen über Pest und Cholera aufgewachsen bin und viel Zeit in Krankenhäusern und der Praxis meines Vaters verbracht habe. Meine Erziehung hat mir auf diese Weise einerseits die Berührungsängste mit so unbequemen Themen wie Krankheit und Tod genommen und mich andererseits zur Hypochonderin gemacht. Organspende? In meinen Augen schon immer keine Frage, sondern eine klare Pflicht.
Just in diesem Augenblick jedoch befindet sich in meinem Portemonnaie: nichts. Meine Misere ist die vieler Deutschen: Ich bin absolut für das Spenden von Organen, doch es ist nirgends dokumentiert. Der Pappwedel, der sich Organspendeausweis schimpft, hat sich nämlich regelmäßig in seine Einzelteile zerlegt, wenn ich ihn nicht schon vorher verloren habe. Daher habe ich irgendwann schlicht aufgehört nachzulegen.
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Ich bin in bester Gesellschaft. Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 2016 stehen über 80 Prozent der Deutschen einer Organspende positiv gegenüber. Wie kann es dann sein, dass die Zahl der Organspenden Jahr um Jahr eine Talfahrt hinlegt, die 2017 einen erneuten Tiefpunkt von 797 Spenden erreichte (siehe Jahresbericht 2017 der Deutschen Stiftung Organtransplantation)? Laut einem Artikel auf Zeit Online warten derzeit mehr als 10.000 Menschen in Deutschland auf ein Spenderorgan. Täglich sterben hierzulande im Schnitt drei Menschen, die auf der Warteliste der Stiftung Eurotransplant stehen. Die traurige, deutsche Statistik: Auf eine Million Einwohner kommen weniger als zehn Organspender*innen – und auch ich bin zurzeit keine.
Unser Bundesgesundheitsminister Jens Spahn möchte nun eine erneute Debatte über die Widerspruchslösung im Bundestag anstoßen – nach all dem Bullshit, den Spahn in der Vergangenheit verzapft hat, stelle ich natürlich die Motivation hinter seinem plötzlichen Aktionismus in Frage, freue mich aber über die Diskussion, die nun in der Gesellschaft angekurbelt wird. Denn die Frage muss lauten: Wie kann es sein, dass in einem so aufgeklärten und so reichen Land derart desaströse Verhältnisse herrschen, wenn es um Organtransplantationen geht?
Was genau ist eigentlich die Widerspruchslösung?
Bisher ist die Entnahme von Organen nach dem Hirntod nur dann möglich, wenn der*die Patient*in dem ausdrücklich zugestimmt hat – auch genannt: die Entscheidungslösung. Diese ist entweder durch das Tragen eines Organspendeausweises oder in einer Patientenverfügung dokumentiert, es ist natürlich auch beides möglich. Liegt eine eindeutige Zustimmung nicht vor, werden die nächsten Angehörigen um eine Entscheidung gebeten. Die Widerspruchslösung möchte diesen Ansatz nun umkehren. Sprich: Wir alle werden als Organspender*innen geboren. Willst du deine Organe nach deinem Tod nicht spenden, musst du zu Lebzeiten widersprechen. Ich erachte eine derartige Neuregelung nicht nur als absolut richtig, sondern auch als lange überfällig.
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Warum? Die derzeitige Krise ist eine Mischung aus Bequemlichkeit gepaart mit einer Prise „Betrifft mich noch nicht“. Die kleinen orange-blauen Pappfüddel liegen meinem Empfinden nach immer weniger aus und mein Alltag zerreibt jeden aufkeimenden Gedanken, in dem es darum geht, sich mal wieder um einen Organspendeausweis zu bemühen. Hinzu kommt eine nicht vorhandene Dringlichkeit. Ich bin jung, ich bin gesund, ich habe nicht vor demnächst den Löffel abzugeben – wenn ich jetzt gerade keinen Ausweis besitze, macht es doch auch keinen großen Unterschied, oder? Solche Gedankengänge sind natürlich Blödsinn. Niemand, der*die auf ein Spenderorgan wartet, hat diese Situation in seinem Kalender stehen gehabt.
Krankheit und Unfälle geschehen aus heiterem Himmel und das Schicksal hat in dieser Beziehung auch keine Präferenzen, was seine Opfer angeht. Sprich: Es kann jede*n erwischen, und zwar jederzeit. Hinzu kommt die in Deutschland tief verankerte Abneigung und Angst, über den Tod zu sprechen und nachzudenken, auch zu sehen am ewig leidigen Thema der Sterbehilfe, unser religiöses Fundament sowie das ebenfalls typisch deutsche Misstrauen (über die Hälfte der Teilnehmer der Umfrage der BZgA wünscht sich umfangreiche Informationen hierzu).
Ein Mensch kann nach seinem Tod bis zu sieben Menschenleben retten
Mit der Spende der eigenen Organe nach dem Ableben kann ein Mensch bis zu sieben anderen Menschen das Leben retten. Am häufigsten werden in Deutschland Nieren transplantiert. Gefolgt von Leber, Lunge, Herz, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm. Sogar die Hornhaut der Augen kann gespendet werden. Alle Organspenden werden in einem der 50 Transplantationszentren in Deutschland entnommen und über die Stiftung Eurotransplant vergeben. Die Kriterien der Warteliste für Organe sind ganz pragmatisch geregelt: Wer benötigt das Organ am dringendsten und bei wem sind die Aussichten auf eine erfolgreiche Behandlung am größten? Herkunft, Alter, Reichtum oder Prominenz tun hier nichts zur Sache.
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In jedem von uns schlummert also ein*e echter Superheld*in, der*die echte Leben retten kann! Wenn ich mal hirntot in einem Krankenhausbett vor mich hin vegetiere, möchte ich unbedingt, dass so viele meiner Organe wie nur möglich noch ordentlich Halligalli machen können. Was soll ich mit meiner Leber anfangen, wenn ich sechs Meter unter der Erde liege? Und vielleicht kann man sogar mit meiner kleinen Raucherlunge noch was anfangen.
Die Widerspruchslösung wird übrigens schon lange und sehr erfolgreich in 18 europäischen Ländern angewandt, darunter Bulgarien, Frankreich, Irland, Italien, Polen und Portugal. Absoluter (und weltweiter) Musterschüler in Sachen Organspende ist übrigens Spanien – hier liegt die Quote bei rund 40 Prozent.
Ja, die eigenen Organe zu spenden ist ein äußerst unbequemer Gedanke. Aber nur wenn wir uns mit der Realität des Lebens auseinandersetzen, können wir diese auch mitgestalten. Und solange die Widerspruchsregelung noch Zukunftsmusik ist, heißt es: Eigeninitiative ergreifen! Auf der Seite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kannst du den Organspendeausweis unentgeltlich und als Plastikkarte bestellen. Ergreife die Initiative, motiviere deinen Freundeskreis und verteile die Karten an alle deine Bekannten. Und wenn wir schon dabei sind: Registriert euch in der Deutschen Knochenmarkspenderkartei (DKMS) und unterstützt den Kampf gegen Blutkrebs.
Die eigenen Organe und Knochenmark zu spenden ist etwas sehr Persönliches und niemand kann hierzu gezwungen werden. Aber wenn es stimmt, dass 80 Prozent der Einwohner*innen Deutschlands diesem Thema aufgeschlossen gegenüber stehen, gilt es 65.600.000 Organspendeausweise in Umlauf zu bringen. Let's do this!

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