Es ist ein Phänomen, das in der Flüchtlingshilfe immer wieder vorkommt: Die Instanz des Helfenden und einer der Schützlinge kommen sich näher als geplant, beginnen eine Beziehung. Maren Aline Merken hat mit zwei Frauen gesprochen, die in ihrer Position einen oder mehrere Schritte zu weit gegangen sind. Und fragt sich: Darf man das?
„Was sollen wir denn tun? Wir wären keine Menschen, würden wir ihnen nicht die Hand reichen“, sagt Isabelle* ein bisschen verzweifelt. Ihre Freizeit ist ausgefüllt von ihrer Ehrenamtstätigkeit. Sie begleitet geflüchtete Menschen auf Ämter, hilft ihnen Übergangslösungen zu finden für die Zeit nach den Camps, besichtigt Wohnungen, erklärt das deutsche System und die Bürokratie. Sie erklärt, streichelt über Rücken, trocknet Tränen, beruhigt erhitzte Gemüter, die frustriert, verängstigt, erschöpft sind. Zum Glück gibt es viele Helfer wie Isabelle, die in großen Städten, kleinen Gemeinden oder in Institutionen, Einrichtungen und Organisationen helfen, Menschen die vor Krieg, Gefahr und Armut geflohen sind zu versorgen. Die dafür sorgen, dass sie die Unterstützung bekommen, die sie benötigen. Drei Viertel der Ehrenamtlichen sind weiblich, bei den Helferinnen unter 50 Jahren sind es sogar stolze 80 Prozent. Das hat unter anderem eine Studie** des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität hervorgebracht. Gründe dafür gibt es mindestens genauso viele wie dafür, dass es eher Männer sind die zurzeit gehäuft der Alternative für Deutschland Zulauf beschaffen.
Für Isabelle war klar, dass sie hilft, als die Problematik größer wurde in Deutschland. „Problematik würde ich es dennoch nicht nennen. Wir bekommen das ja hin“, sagt sie selbstbewusst. Über eine Sache spricht sie jedoch nicht so selbstbewusst. Es gibt da einen ihrer Schützlinge, den hatte sie oft trösten müssen. Oft besänftigen, ihm oft über den Rücken streicheln und gut zureden müssen. Vielleicht ein wenig zu oft. „Abdal* ist ein toller Mensch. Sensibel, offen, wissensbegierig“, erzählt die 33-jährige. „Diese Sensibilität hat ihn vielleicht so anfällig gemacht; er hat viel gelitten. Leidet vermutlich auch jetzt noch viel.“ Irgendwann war es mehr als das Verhältnis Schützling und Helferin. Irgendwann war da ein Kuss. Ein scheuer, erst befremdlich dann irgendwie schön. „Ich hab in dem Moment gar nicht gedacht. Und es einfach geschehen lassen. Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, standen uns so nah. In erster Instanz war diese Konsequenz irgendwie logisch“, sagt Isabelle leise. Man merkt, dass sie sich schämt. Sechs Monate lief ihre Affäre. Beziehung. Ein zwischenmenschliches Konstrukt; so zerbrechlich und anders, dass es Isabelle viel Kraft gekostet hat. „Beziehung kann man es nicht nennen, denn da fehlen ganz elementare Punkte zu. Niemand wusste davon“, da ist die junge Frau realistisch. „Das Ganze hat sich nur in meinen vier Wänden abgespielt. Wir konnten aus vielen Gründen nichts teilen: Er hatte ja wenig. Keine Wohnung, kein Geld, keinen normalen Tagesablauf. Aber dafür viele Probleme, Ängste, Albträume. Trotzdem hat es sich gut angefühlt – irgendwie.“ Im Unterbewusstsein aber auch nicht richtig. Irgendwann hat es sich dann nur noch falsch angefühlt. Der junge Syrer baute fest auf Isabelle, sah in ihr seine Zukunft, seinen Halt, sein Zuhause. Aber auch Isabelle hat ein eigenes Leben, eins in welches er als Schützling gepasst hat, nicht aber als Partner auf Augenhöhe. Und wie viel Augenhöhe kann eine Person, die traumatisiert ist, so viel Verlust erlebt hat und mit Nichts in ein ihr fremdes Land kommt, haben? Wie viel Normalität kann sie geben und vertragen und wie sehr kann eine helfende Hand zum Partner werden? Kann sie das überhaupt?
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„Wir als Helfer haben eine Verantwortung. Eine, die wir nicht missbrauchen dürfen.“
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Isabelle ist sich heute sicher: „Das war und ist nicht richtig. Niemand, der das erlebt hat, was jemand wie Abdal erlebt hat, kann sofort danach eine gesunde Beziehung eingehen. Nicht mit jemandem, der eigentlich dazu da ist, zu helfen.“ Sie sei immer der Anker gewesen, hätte viel auffangen müssen. In Streits konnte sie nie konsequent bleiben, weil sie sich nicht sicher war, ob da nun der Mensch Abdal spricht oder das, was ihn beeinflusst und geformt hat. „Wir als Helfer haben eine Verantwortung. Eine, die wir nicht missbrauchen dürfen. Diese Menschen brauchen unsere Hilfe und die dürfen wir nicht mit partnerschaftlicher Liebe verwechseln. Das ist unprofessionell, verantwortungslos und falsch – auch wenn solche Dinge menschlich sind.“ Isabelle hat das Konstrukt mit Abdal beendet. Am Anfang war er wütend, verletzt, hat noch mehr gelitten. Auch das hat der jungen Frau gezeigt, dass ihre Entscheidung richtig und das Handeln vorher falsch war. „Er hat so viel verloren: Seine Heimat, geliebte Menschen, ein Stück seiner Identität. Ich habe ihm so einen weiteren Verlust beschert“, sagt sie mit gesenktem Blick. Sie schluckt ein paar Tränen runter und schaut mich verlegen an. „Ich vermisse ihn. So wie man jemandem vermisst mit dem man im letzten Jahr viel Zeit verbracht hat. Aber es ist besser so und ich bin hier die starke Instanz.“ Die Rolle, die sie immerzu übernommen hat und übernehmen musste. Eine Rolle, die jede Beziehung braucht, aber eine, mit der sich beide Partner idealerweise abwechseln sollten.
Isabelle wollte ihre Verantwortung nicht missbrauchen. Das Wort Missbrauch bekommt einen anderen, noch faderen Beigeschmack, wenn man zum Thema Schutzbefohlene kommt. Chakib* ist 18 Jahre alt. Gerade geworden. Er ist gemeinsam mit seinem besten Freund aus Afghanistan geflohen, beide als unbegleitete Minderjährige. In Deutschland angekommen kam er schnell in ein Heim für Fälle wie ihn, mit anderen Teenagern und Betreuern, die Aufgaben der fehlenden Eltern übernehmen. Heute kann er dort nicht mehr wohnen, mit dem 18. Geburtstag erlischt diese Möglichkeit. In seiner Freizeit ist Chakib gern in ein kleines Café gegangen, welches ein Sprachtandem für Geflüchtete anbietet. Dort hat er Caro* kennengelernt. „Sie war sehr nett und hat mir viel geholfen mit meinem Deutsch“, lacht er. „Wir haben viel gelernt.“ Irgendwann fand Chakib Caro nicht nur nett sondern auch sehr schön. Gesagt hat er das nicht, aber irgendwann hat er nach dem Tandemcafé ihre Hand genommen – sie hat sie weggezogen. Da war Chakib 17. Caro blickt mich scheinbar selbstbewusst an. Ich habe aber die beiden verschämten Blicke auf den Boden gesehen, als Chakib davon erzählt. „Er war minderjährig. Ich habe ihm geholfen. Ich wollte das einfach nicht, was hätten meine Eltern gesagt?“, sagt die heute 24-jährige. Berührt hat er sie dennoch irgendwie. „Nach dieser Berührung habe ich ihn das erste Mal richtig angesehen. Als Mensch, als Mann, nicht als Geflüchteten. Klar habe ich da gemerkt, dass ich ihn gut finde. Er ist ein attraktiver Mann. Nett, lustig, ambitioniert.“ Es scheint mir paradox den schlaksigen Jungen vor mir Mann zu nennen. Er ist groß, seine Gesichtszüge älter als 18 Jahre. Aber in seinen Bewegungen, in Gestik, Mimik und in vielem was er sagt, ist er ein halbes Kind. Eins, das viel mitgemacht hat. Daran sicher gewachsen ist, aber eben auch viele Narben davon getragen hat – körperlich und seelisch.
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„Ich liebe ihn. Er ist ein wunderbarer Mann. Und er gibt mir viel.“
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Irgendwann hat die Studentin sich nicht mehr gewehrt gegen die Annäherungsversuche des Persers. Chakib kommt aus dem Iran, lebte jedoch seit seiner Kindheit in Afghanistan und ist von dort aus geflohen. Das könnte ihm nun zum Verhängnis werden, denn Afghanistan gilt als sicheres Herkunftsland. „Viele Bomben“, sagt er. „Ich habe immer viel Angst und hier in Deutschland ist es sehr schön. Auch mit meiner Caro.“ Der 18-jährige ist verliebt, das merkt man sofort. Vielleicht ist es das erste Mal, vielleicht ist es die erste große Liebe – jedenfalls strahlt er über das ganze Gesicht. Er blickt seine Freundin voller Zärtlichkeit an, so wie man angesehen werden will, wenn man jemanden mehr als einfach nur mag. Caro mag ihn, auch das meine ich wahrzunehmen. Aber sie weiß auch um das Bild, welches sie nach außen abgeben. „Ich habe mich lange dagegen gesträubt. Habe mir gesagt, ich wollte ihm helfen, nicht seine Freundin werden“, erzählt sie. Aber irgendwann hat das nicht mehr geklappt. Ich will wissen, wie sie das Thema generell sieht; gibt es eine Augenhöhe zwischen ihr, der 24-jährigen Studentin der Philologie, und ihm, dem 18-jährigen Geflüchteten, der gerade Deutsch lernt und der irgendwann gern etwas mit Autos machen würde? Und wie viel Verantwortung hat und übernimmt sie. „Ich liebe ihn“, sagt sie. „Er ist ein wunderbarer Mann. Und er gibt mir viel.“ Das ist mir zu vage. Er war 17 sage ich. Auch vor dem Gesetz noch minderjährig. Und er wollte ihre Hilfe, nicht ihre Liebe. „Vielleicht brauchte er beides und ich auch“, entgegnet Caro trotzig. Sie ist zierlich, sieht jünger aus, ihre blonden Haare berühren gerade so ihre Schultern. Sie greift eine Strähne und dreht sie zwischen den Fingern. Ich sehe, dass sie abwägt was sie sagt. „Das Alter hat mir zu schaffen gemacht, aber das hätte es mir bei jedem Mann. Dass er geflüchtet ist, ist mir egal. Ich mache keinen Unterschied zwischen Menschen nur aufgrund ihrer Herkunft und Geschichte.“ Für mich klingt das ein wenig wie auswendig gelernt. Auch ich differenziere und bewerte Menschen nicht aufgrund ihrer Herkunft. Aber ausblenden, was hinter einem Menschen liegt, einem der die Grausamkeiten des Kriegs und des Heimatsverlust noch durch die Augen eines Kindes gesehen hat, kann man meiner Ansicht nach nicht. Ob sie etwas an ihm stört, frage ich sie. „Wenig“, antwortet sie. „Manchmal trinkt er zu viel, aber er ist auch erst 18, da probiert man sich aus.“ Chakib schüttelt den Kopf. „Das mache ich manchmal, um die Bilder zu vergessen. Sie sind in meinem Kopf und wenn ich allein bin und Caro nicht bei mir, muss ich mich betäuben.“ Ich stocke. Genau das sind die Probleme, die ich sehe. Vor mir sitzt ein sympathisch wirkender 18-jähriger, aber keiner der gelöst abends feiern geht und mal ein Bier zu viel trinkt. Einer mit wachem Blick, der rastlos durch den Raum streift; der alles aufsaugt wie ein Schwamm und dessen Augen viel gesehen haben, vielleicht zu viel für seine 18 Jahre. Was Caros Eltern über die Sache denken, weiß sie mittlerweile. Ihre Mutter war erst entsetzt, dann besorgt. Nicht um Caro, sondern um Chakib. „Sie sagt ich könne nicht einschätzen, was das alles für ihn bedeutet. Und im Umkehrschluss auch nicht, was zum Beispiel eine Trennung für ihn bedeuten würde“, sagt Caro und schiebt ein wenig trotzig die Unterlippe vor. „Aber wir trennen uns ja nicht“, sagt Chakib und grinst. Ich sorge mich. Genau wie Caros Mutter. Ich hab Isabelles Worte im Ohr, die weiß, dass sie jemandem noch einen zusätzlichen Verlust beschert hat, der zu viel verloren hat und denke an ihre Schuldgefühle.
Ich erinnere mich an eine meiner vergangenen Beziehungen mit einem Mann, der psychisch sehr krank war. Geliebt habe ich ihn, aber irgendwann konnte ich die Bürde nicht mehr tragen, die dritte Instanz unsere Beziehung – seine Erkrankung – nicht mehr dulden, akzeptieren, damit leben. Ich weiß wie schwer es ist mit jemandem zusammenzuleben, der viele teils schwerwiegende Probleme hat. Chakib scheint ebenfalls Probleme zu haben und sucht nach einem Anker. Zu all diesen Dingen kommen bei den beiden jungen Männern Umstände, die für uns kaum zu begreifen sind. Verlust, Schmerz, Ängste – Gefühle, die jeder kennt, aber deren Ausmaß so groß sein muss, dass man sie nicht nachempfinden kann als Außenstehender. Zusätzlich ein ständiger Druck, vielleicht doch zurück zu müssen, keine Sicherheit zu haben, immer im Schwebestatus, immer am Rand der Gesellschaft zu stehen. Ich zweifle daran, dass eine Beziehung auf Augenhöhe möglich ist. Nicht so sehr wegen der Flucht der beiden Männer. Sondern wegen dem Umstand, dass es die helfende Instanz ist, die zur Partnerin wird. Der Blick nach oben, zu der Person, die eine Hand reicht, ist quasi vorbestimmt. Zurück bleiben nach solch einem zwischenmenschlichen Konstrukt vor allem verletzte Gefühle, Frustration, Verlust – im schlechtesten Fall ein erneut traumatisierter Mensch, der zuvor schon zu viele Verletzungen erfahren hat. Schmerz auf beiden Seiten, wie man an Isabelle sehen kann. Und das Wissen, eigentlich ist das Ganze nicht richtig. „Im Prinzip ist es das Missbrauchen seiner Machtposition, als Helfender wird man immer Entscheider bleiben, für die andere Instanz bleibt nur Hoffen, Bangen und Festhalten“, sagt Isabelle. „Wer so viel verloren hat, wie Menschen wie Abdal, der hält sich an jedem noch so kleinen Strohhalm fest.“ Caro und Chakib halten beide fest. Für beide hoffe ich, der Strohhalm hält.
* Die Namen wurden auf Wunsch der Beteiligten geändert.
** Hier die vollständige Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität