Bis vor Kurzem hatte ich nicht ein einziges der Harry Potter Bücher gelesen. Ich hatte nicht einmal einen Trailer zu einem der Filme gesehen. Wenn man bedenkt, dass ich seit über zehn Jahren in der Unterhaltungs- und Medienindustrie tätig bin, ist das ziemlich ungewöhnlich. Es ist nicht so als würde ich seit 19 Jahren schreiend davon rennen, wenn J. K. Rowling etwas Neues herausbringt. Es interessiert mich nur einfach nicht. Warum sollte ich mir ein Kinderbuch zulegen, geschweige denn eine Leidenschaft dafür entwickeln?
In Wahrheit sieht es so aus: Bei der Potter-Manie nicht mitzumachen, hat mir viel Zeit für andere Dinge gelassen – Dinge, wie die High School und das College. Als ich ein Alter erreichte, in dem ich keine Bücher mehr zu Unterrichtszwecken wälzen musste, konnte ich mich endlich wieder anderer Literatur widmen: zynischen New York-Romanen, zum Beispiel, oder alten Klassikern, von denen ich bereits jahrelang vorgab, sie gelesen zu haben. Die Entscheidung, mich nicht der siebenteiligen Buchserie über Zaubererkinder zu widmen, eine Subspezies, für die ich nicht das geringste Interesse hegte, war quasi ein Selbstläufer. Das ist sie immer noch.
Als Harry Potter und der Stein der Weisen erschien, war ich 15. Eine Freundin von mir begann, die Bücher mit ihrem kleinen Bruder zu lesen, der damals neun Jahre alt war. Mein Bruder war dagegen älter als ich und war großer Fan der Herr der Ringe-Trilogie. In der siebten Klasse fand ich Der Hobbit ziemlich cool, aber auch dafür fühlte ich mich in der Highschool schon zu alt. Die Kinder von Hogwarts hatte ich somit nicht einmal auf meinem Radar.
Als ich ins College kam, bemerkte ich, dass der Hype sehr viel weiter reichte, als ich vermutet hatte. Eine Gruppe meiner Kommilitonen, allesamt studierten sie Englische Literatur im Hauptfach, hatte das Zauberfieber gepackt. Zusätzlich zu den tausenden Seiten von Uni-Literatur, die wir lesen sollten, schafften sie sich auch noch Zeit, um Harry Potter zu lesen.
„Ernsthaft, die sind auch für Erwachsene geeignet!“, sagte mir ein Freund immer wieder. „Es gibt auch Windeln für Erwachsene“, erwiderte ich dann.
All diese Leute in meinem Umkreis sind intelligente Menschen und ich verurteilte sie nie dafür, dass sie bei jeder Neuerscheinung schnellstmögliche Vorbestellungen aufgaben und Nächte durchmachten, um ein Buch in einem Zug durchzukriegen. Ich habe nur einfach nie einen Zugang zu den Büchern gefunden. Das kann ja gar nicht so gut sein, dachte ich mir. Durchzumachen, um das Teil fertigzulesen, anstatt eine Deadline abzuhaken? Das erschien mir undenkbar. Wir waren wohl einfach verschieden, ich musste das akzeptieren.
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Falls sich jemand fragt, ob ich A. keine Seele oder B. keine Fantasie habe, oder C. meine Unterhaltung trocken und spröde bevorzuge, dem kann ich nur sagen: Ich liebe Game of Thrones und war besessen von True Blood. Aber das Fantasy-Level, das ich mag, ist irgendwie… nun ja, erwachsener? Die sechste Staffel von GoT hat beispielsweise komplexe Allegorien zur heutigen Wahlpolitik hergestellt. True Blood ist Alan Balls fleischgewordener Kreuzzug für mehr Toleranz auf allen Ebenen. Das sind Abstraktionen mit wichtigem Bezug zu der Welt, in der wir leben.
Als mir meine Chefredakteurin riet, mich endlich etwas näher mit Harry Potter zu beschäftigen und von meiner Erfahrung zu berichten, zögerte ich natürlich. Ich war so weit gekommen, warum sollte ich jetzt nachgeben? Auf der anderen Seite handelte es sich um einen potentiellen Arbeitsauftrag, und dafür hätte ich doch sonst alles getan, oder? Während ich noch abwägte, ob ich meine literarischen Prinzipien für meine journalistischen Ambitionen über Bord werfen sollte, überzeugte mich eine Headline der Washington Post. Eine neue Studie der UPenn berichtet, dass devote Harry Potter-Leser, die sich eingängig mit den Themen der Bücher beschäftigen – „dem Wert von Toleranz und Respekt vor Andersartigkeit, dem Widerstand gegenüber Gewalt“ – seltener dazu neigen würden, für einen ganz bestimmten orange-farbenen Politbösewicht zu stimmen. Vielleicht ist an den Zauberromanen ja doch was dran! Und mit dem Hype, der nunmehr fast 20 Jahre anhält, war es möglicherweise wirklich an der Zeit, dem Ganzen eine Chance zu geben. Schrittweise, versteht sich, mal schauen, wie weit ich kommen würde.
Also las ich das erste Buch. An einem Wochenende. Und JA, OKAY… es war ein bisschen magisch. Mit der gebundenen Ausgabe unterm Arm verbrachte ich ein Wochenende bei meinen Eltern und verzog mich immer wieder in mein Zimmer, um in Ruhe abzutauchen. Während der Erzähler Harrys Lebensgeschichte en détail beschrieb, musste ich mich zwingen vom ständigen Gähnen nicht ins Schlafen zu verfallen. Zauberhafte Worte, von denen ich bereits gehört hatte, tauchten auf: Muggel, Hufflepuff, Dumbledore. Aber meine Augen fanden immer wieder einen Weg, sich von der Seite abzuwenden.
Doch dann! Dann kam Harry in Hogwarts an. Oder besser gesagt, im Zug nach Hogwarts – und ich war in Erinnerung sofort wieder im College, an meinem ersten Tag, mit verschwitzten Händen und rasendem Herzen, aufgeregt und neugierig ob der Abenteuer, der Freund- und Feindschaften, die mich dort erwarteten. Die beiden Häuser standen stellvertretend für Studentenwohnheime, der sprechende Hut war der Dekan. Und ja, auch als Erwachsener konnte ich die Situation nachvollziehen.
Auf dem kurzen Rückflug nach New York versuchte ich die ganze Zeit den Einband zu verdecken. Ich fühlte mich irgendwie infantil, merkte aber recht schnell, dass es keinen Sinn machte. Meine Augen leuchteten, als das Quidditch-Spiel begann, ich brauchte also gar nicht erst zu versuchen, irgendetwas zu verbergen. Und genau wie beim Verfolgen von Friday Night Lights, ohne die leiseste Ahnung von Football zu haben, war ich ähnlich gespannt bei Harry und seiner neu gefundenen Leidenschaft.
Bin ich jetzt dem Potter-Wahn verfallen? Nicht im geringsten. Aber ich kann mich auch nicht mehr zu den Abstinenzlern zählen. Es mag durchaus sein, dass mich schon bald eine Identitätskrise im Verbotenen Wald heimsucht. Ich bereue nicht, dass ich so lange nicht von der Partie war, ich weiß auch jetzt noch, dass ich nie den selben Enthusiasmus entgegenbringen werde, wie der damals neunjährige Bruder meiner Freundin oder meine Freunde, die dafür Vorlesungen sausen ließen.
Ich werde nicht vor Potter-Subreddits sitzen, mir die Kommentare und Beiträge durchlesen oder fiebernd auf Tickets für die kürzlich eröffnete Londoner Theatervorstellung von Harry Potter und das verwunschene Kind hoffen.
Erfundene Wörter und Zauberstäbe werden nie mein Ding sein. Aber ich muss zugeben: den Kurztrip nach Hogwarts habe ich genossen, und ich verstehe rückblickend, warum meine Freunde damals nächtelang wach geblieben sind. Denn was als nächstes passiert, weiß niemand. Und ich würde lügen, wenn ich sagte, ich wäre nicht neugierig.
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