Achtung: Spoiler zum Netflix-Film The School for Good and Evil direkt voraus!
Nach außen hin wirkt Netflix’ The School for Good and Evil wie ein weiteres Girlboss-Update eines klassischen Märchens. Und in gewisser Hinsicht mag das auch stimmen. In der unter der Regie von Paul Feig entstandenen Realverfilmung von Soman Chainanis Roman geht es nicht nur um eine, sondern gleich um zwei starke, junge Frauen, die in einer Märchenwelt überleben müssen – im Gegensatz zu anderen Neuzugängen dieses Genres gibt sich der Film aber nicht damit zufrieden, den Protagonistinnen bloß ein feministisches Umstyling zu verpassen und das Ganze als „Neuerfindung“ des Märchens anzupreisen. Stattdessen geht The School of Good and Evil einen Schritt weiter: Der Film passt die Originalstory nicht bloß einem modernen Publikum an, sondern kritisiert gleich alle unserer heißgeliebten Märchen als schädlich und reduzierend.
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Dabei beginnt The School of Good and Evil eigentlich ziemlich klassisch, nämlich so wie viele andere moderne Märchen-Neuauflagen: Die beiden Protagonistinnen hängen in Rollen fest, die eigentlich nicht zu ihnen passen. Die besten Freundinnen Sophie (Sophia Anne Caruso) und Agatha (Sofia Wylie) sind Außenseiterinnen. Die blonde Sophie leidet unter ihrer bösen Stiefmutter und träumt davon, ihrem banalen Leben zu entkommen und ein weltveränderndes Schicksal zu entdecken. Wenn das hier eine Disney-Version eines Märchens wäre, würde Sophie am Ende des Films sicher über ein magisches Königreich regieren und wäre bis ans Ende ihrer Tage garantiert glücklich mit einem Prinzen verheiratet. Sie kann wie Schneewittchen mit Waldtieren kommunizieren, liebt Mode und Design wie Aschenputtel, haut ignoranten Dorfbewohner:innen wie Rapunzel mit einer Pfanne eins drüber und ist wie Belle Stammkundin im örtlichen Buchladen. Ihre ersten Worte im Film sind: „Kann mich nicht jemand retten?“
Agatha hingegen, mit ihren ungekämmten, dunklen Haaren, locker sitzenden Klamotten (sie trägt natürlich Hosen) und ihrer „Alles scheißegal“-Einstellung, passt eher ins klassische Bösewicht-Schema – nur ohne den Groll und den Sadismus. Sie ist überhaupt nicht gemein, hat aber eine Katze namens Schlitzer und lebt mit ihrer Mutter, die Liebestränke verkauft, auf einem Friedhof. Wenn Sophie also die Prinzessin ist, muss Agatha wohl die Hexe sein.
Den ersten Verstoß gegen das klassische, zu erwartende Märchen-Narrativ erleben wir, als Sophie und Agatha erfahren, dass Märchen real sind und die Charaktere dieser Geschichten allesamt die „School for Good and Evil“ (SGE) besucht haben. Nach einer unerwarteten Reihe an Ereignissen landen die beiden dann schließlich selbst an dieser Schuhe – nur wird die blonde Sophie auf die böse, Agatha hingegen auf die gute Schullaufbahn geschickt.
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Die Schule selbst entspricht weitestgehend den Klischees, die wir von modernen Märchen erwarten: Äußerlichkeiten gehen über Inhalt, und die Schüler:innen sollen optisch der Rolle entsprechen, die ihnen zugeteilt wurde. Die Schülerinnen der guten Hälfte sind demnach makellos gestylt und tragen pastellfarbene Kleider; die bösen hingegen sind allesamt dunkelhaarig und tragen Schwarz. Sophie verweist sogar auf ihre blonden Haare als Beweis dafür, dass sie der falschen Schule zugeordnet wurde. Sie lernt im Unterricht, hässlich zu sein – denn Bösewicht:innen ist das Aussehen ja egal! –, während Agatha lernt, besonders hübsch zu lächeln – schließlich sollen alle Prinzessinnen das Herz eines Prinzen erobern. Das ist quasi „Disney für Anfänger:innen“: Die Bösen sind stereotypisch hässlich und mies gelaunt, während Prinzessinnen gefälligst wunderschön zu sein haben (siehe: Dornröschen, Rapunzel und Aladdin).
Die Schüler:innen der SGE müssen lernen, ihre Rollen perfekt zu spielen, um eines Tages ihre eigenen Geschichten zu bekommen – in Märchen, die der Welt nicht nur den Unterschied zwischen Gut und Böse beibringen sollen, sondern auch das Gleichgewicht zwischen beiden Seiten erhalten. Dennoch wird schnell klar, dass diese Schule eine finstere Schattenseite hat: Agatha erfährt, dass man ihr nur durch den Tod entkommen kann – und nicht mal der ist eine garantierte Fluchtmöglichkeit. Schüler:innen, die drei Seminare nicht bestehen, werden gegen ihren Willen in magische Kreaturen verwandelt und müssen der Schule daraufhin dienen. Und was noch schlimmer ist: Selbst die Guten und die Lehrer:innen hinterfragen nichts von alldem.
Das Ganze ist eine drastische, aber ehrliche Erinnerung an die düstere Realität klassischer Märchen, die für ihre Bösewicht:innen meist ziemlich brutal enden (weißt du noch, dass Malefiz in Dornröschen am Ende ins Herz gestochen wird und daraufhin eine Klippe hinabstürzt?). Die gewalttätigen Aspekte dieser Geschichten werden in typischen Prinzessinnenfilmen meist ganz gut kaschiert, wohingegen The School for Good and Evil sie durch eine Reihe tragischer Ungerechtigkeiten (RIP, Gregor (Ally Cubb)) sogar ins Rampenlicht rückt. Das führt schließlich sogar zum großen Plottwist des Films, in dem wir erfahren, dass der böse Zauberer Rafal (Kit Young) schon von Anfang an im Hintergrund die Fäden gezogen hat, indem er Geschichten schreibt, die die Protagonist:innen langsam in Bösewicht:innen verwandeln. So macht er Hänsel und Gretel beispielsweise zu Mörder:innen, indem er sie die Hexe verbrennen und die beiden entkommen lässt; im Original-Schneewittchen sorgt er für den Tod der bösen Königin, indem er ihr glühend heiße Schuhe verpasst und sie sich zu Tode tanzen lässt. Die Märchen, die uns als Geschichten des Triumphes von Gut über Böse verkauft wurden, stellen sich dadurch als tödliche Storys über Korruption und fehlendes Mitgefühl heraus.
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Dieser Twist gelingt Rafal nur, indem er dafür sorgt, dass sich die gute Seite aufs Oberflächliche konzentriert. Wie auch Professor Anemone (Michelle Yeoh) kritisiert, wird die Schule mit der Zeit „unerträglich oberflächlich“ – ein nicht ganz so subtiler Diss an animierte Disney-Filme, die einer ganzen Generation ihrer Zuschauer:innen vermittelt haben, wahre Liebe sei abhängig von Schönheit (siehe: Arielle, Schneewittchen, Aschenputtel). Rafals Märchen haben auch bewirkt, dass sich die gute Seite stolz einredet, sie könnten ja nur Gutes tun, weil ihnen immer vermittelt wurde, sie seien eben gut.
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Diejenigen von uns, die als Kinder Dutzende Disney-Videokassetten im Schrank zu stehen hatten, sind heute alt genug, um zu wissen: Die Welt ist in Wahrheit nicht schwarz und weiß.
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Eine Welt, in der jeder Person, jedem Charakter, eine ganz bestimmte Rolle zugeteilt wird, ist ein gefährlicher Ort. Gut, böse, Hexe, Prinzessin, Stiefmutter, Prinz – diese Archetypen sehen wir in beinahe jedem Märchen. Trotz all dessen, was uns diese Geschichten vermitteln wollen, sind die Menschen dahinter aber nicht von Grund auf gut oder böse. Die Hexe ist nicht nur dazu da, einen vergifteten Apfel zu verschenken; der Prinz ist nicht immer der Retter in der Not, die Jungfrau nicht immer in Nöten. Und in The School for Good and Evil gibt es nichts Gefährlicheres, als die vorgeschriebene Rolle zu spielen.
Letztlich appelliert The School for Good and Evil an unser modernes Bedürfnis nach komplexen Geschichten – selbst in unseren geliebten Märchen. Das zeigt sich in der wachsenden Beliebtheit der Entstehungsgeschichten großer Bösewicht:innen (denk bloß an Disneys Live-Action-Filme Maleficent oder Cruella, oder sogar Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht). Diejenigen von uns, die als Kinder Dutzende Disney-Videokassetten im Schrank zu stehen hatten, sind heute alt genug, um zu wissen: Die Welt ist in Wahrheit nicht schwarz und weiß. Niemand ist völlig gut oder völlig böse. Und man sollte niemanden aufgrund oberflächlicher Vorurteile abstempeln, die uns von beliebten Märchen vermittelt wurden. Das heißt natürlich nicht, dass alle Märchen schlecht sind – aber sehr wohl, dass wir sie häufiger hinterfragen sollten. Denn wie auch das Ende des Films verspricht, sind die Geschichten und Charaktere in diesen Märchen viel interessanter und vielseitiger, wenn wir auch mal hinter die Fassade blicken.
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The School for Good and Evil ist zum Streamen auf Netflix verfügbar.
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