Neulich, nach einem der ersten Festivals des Sommers, auf dem es non-stop geregnet und ich meine Gummistiefel vergessen hatte, waren meine Chucks mal wieder Gesprächsthema Nummer eins. Warum ich denn immer nur dieses eine Paar Scheißtreter anhaben würde, fragte mich eine Bekannte, während sie mir einen leicht vorwurfsvollen Blick entgegenwarf. Die wären ja nun wirklich nichts bei diesem Wetter. Und überhaupt solle ich mir doch überlegen, ob die nicht langsam eher auf den Müll gehören. Zugegeben, ich hatte in diesem Moment klatschnasse Füße und wenn ich so an mir herunter sah, konnte von einem funktionstüchtigen Schuhwerk wirklich nicht mehr die Rede sein. Vorne bohrte sich mein großer Zeh durch den Stoff, die Originalfarbe war ohnehin schon lange nicht mehr von dem Matsch, der mich umgab, zu unterschieden und die Sohle, die hatte sich sukzessive seit Monaten vom Rest des Schuhs abgelöst. Vielleicht hatte sie recht und dieses Paar Schuhe hatte ausgedient. Ich stimmte meiner Bekannten nickend zu und vereinbarte stillschweigend mit ihr, dass ich sie zuhause dann direkt entsorgen würde.
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Ich tat es natürlich nicht. So wie ich meine Chucks nie wegschmeißen kann, wenn die Zeit gekommen ist. Irgendetwas in mir blockiert dann nämlich, so wie dann, wenn ich prokrastiniere und mich lieber vor wichtigen To-Dos drücke, Dinge tage-, wochen- oder monatelang vor mir herschiebe. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr kam mir dieser Gedanke komisch vor. Denn eigentlich prokrastiniere ich nur dann, wenn mich etwas nervt oder extrem stresst. Offensichtlich aber auch dann, wenn ich mich nicht trennen kann oder Dinge sehr lieb gewonnen habe. So wie meine zerschlissenen Chucks, die bald entsorgt und durch ein anderes Paar ersetzt werden sollen.
Vor derselben Entscheidung stand ich übrigens schon öfter in meinem Leben. Mit 15 kaufte ich mir die ersten, heute bin ich über 30. Ich weiß es nicht genau, aber fünf oder sechs Mal befand ich mich mit Sicherheit schon in demselben Dilemma. Und es fiel mir jedes verdammte Mal unglaublich schwer, meine Chucks endgültig auszusortieren und wegzuschmeißen. Wenn ich nur daran denke, wie häufig sie dann doch wieder ins Schuhregal zurückgewandert sind – egal, wie kaputt und hässlich sie aussahen. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht. Meine Mutter ist schier an mir verzweifelt. Dabei erklärte ich ihr immer wieder aus tiefster Überzeugung, dass ich meinem Lieblingsschuh jeden Makel verzeihen würde. Er begleitet mich immerhin Tag für Tag, trägt mich durchs Leben. Da ist es meiner Ansicht nach auch mehr als legitim, dass man ihm so manche Strapazen ansehen darf. Er gehört eben zu mir – in guten wie in schlechten Zeiten.
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Der Chuck Taylor, mein unangefochtenes Lieblingsmodell, ist mittlerweile über 100 stattliche Jahre alt. 1917 kam der amerikanische Kultschuh auf den Markt und hat seitdem einige Dekaden, Moden und Subkulturen überlebt. In den 1940er Jahren wurde er an den sportlichen Füßen der Basketballspieler gesichtet, in den 50ern dann trug ein gewisser James Dean die Treter und noch einmal zehn Jahre später war er beliebtes Fußkleid der Hippies. Ja, der Chuck Taylor hat schon einiges mitgemacht und wurde in verschiedenen Kontexten immer wieder neu interpretiert und konnotiert. Kurt Cobain machte ihn zum Markenzeichen der Alternativen, zu einem links codierten Symbol der Grunge-Bewegung, die sich unter keinen Umständen in irgendeine Schublade drücken lassen wollte. Heute ist der Sneaker salonfähig geworden, erlebte eine Renaissance nach der anderen, geht genauso gut zum Anzug wie in der Front Row oder zum Business-Meeting. Man trägt ihn mehr wie ein Accessoire, nicht mehr aber aus irgendeiner, womöglich politisch motivierten, Einstellung heraus.
Mir war das schon immer alles irgendwie egal. Soll doch bitteschön jeder tragen, was er will. Kein Schuh gehört irgendeiner Subkultur allein – zumindest nicht auf Dauer. Für mich war der Chuck einfach immer da, die beste und naheliegendste Lösung eben. In dieser Hinsicht bin ich wahrscheinlich ein recht pragmatischer Typ. Ich kann meinen Sneaker immer und zu jedem Anlass tragen, denn kein Schuh der Welt lässt sich so einfach und unkompliziert zu fast jedem Outfit kombinieren. Zudem ist er unvergleichlich bequem, mehr Tragekomfort geht für mich einfach nicht. Und ja, ich mag es auch ein bisschen, dass er verhältnismäßig schnell abnutzt (bei korrekter Nutzung ist der ideale Zustand etwa nach einem Jahr erreicht), denn der Used-Look ist es, der diesen Schuh erst zu dem macht, was er ist – eine Ikone.
Seit nunmehr 15 Jahren komme ich nun also nicht umher mir immer wieder das gleiche Paar Sneaker zu kaufen. Immer wieder das gleiche Modell, den Klassiker Chuck Taylor in der Farbe Beige. Ich muss mir wohl oder übel eingestehen, dass ich von diesen Scheißtretern, wie meine Bekannte sie ja nannte, nicht loskomme. Jedes Mal dauert es Wochen oder Monate, bis ich mich endlich von ihnen trennen kann. Im Prinzip ist das mit meinen Chucks wie mit einer Liebesbeziehung. Ich hänge an den Dingern wie an einem Partner, an den gemeinsamen Erinnerungen und allem, was wir zusammen durchgemacht haben. Zumindest eine Zeit lang gehören sie zu mir und meinem Leben dazu, so wie ein Partner es auch tut. Und nur weil sie ausgelatscht sind oder hässlich werden, werfe ich sie nicht gleich weg.
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