Ich war total aufgeregt, als das Paket endlich kam. Ein paar Tage zuvor hatte ich mir einen rosafarbenen, schulterfreien Pulli bestellt, der genauso aussah wie einer, den ich als Kind geliebt hatte. Im Online-Shop wurde der Pulli als „Vintage“ und „Cottagecore“ bezeichnet – aber alles, was ich sah, war ein Stück meiner Vergangenheit, die ich so sehr vermisste.
In dem Moment, als ich den flauschigen Stoff aus seiner Verpackung zog, hatte ich das Gefühl, in der Zeit zurück zu reisen: Ich war nicht mehr die 28-Jährige in ihrer Londoner Wohnung, sondern wieder 11 Jahre alt und lebte in einer kanadischen Vorstadt, und schlüpfte für den Fototermin in der Schule in meinen Lieblingspulli. Als ich ihn mir jetzt anzog und in den Spiegel schaute, bildete ich mir ein, meine nach Kokosnuss duftenden, damals noch langen Haare quasi riechen zu können. Ich erinnerte mich an meinen kleinen Oberlippenbart, meine großen, neugierigen Augen, und den Radiowecker, der im Hintergrund Musik spielte, während ich mich anzog. Damals gab es noch keine Handy-Benachrichtigungen oder erwachsene Verpflichtungen, die mich hätten ablenken können.
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Genau so sollte sich Nostalgie anfühlen. Das bekommt kein TikTok-Vintage-Trend hin – dieses Gefühl, das ich noch nie bei einem Kleidungsstück erlebt hatte. Als ich mir diese Kopie meines Kindheitspullis über den Kopf zog, brachte mich das dem kleinen Mädchen von damals plötzlich ganz nah, und mir wurde klar, dass sie auch heute noch hier ist. Zum allerersten Mal in meinem Leben ließ ich mir von meinen Klamotten sagen, wer ich bin – anstatt die Kleidung auszuwählen, von der ich glaubte, sie sei „ich“.
Ich fing vor ungefähr einem Jahr damit an, mir immer mehr Outfits zusammenzustellen, die mich an meine Kindheit erinnern. Mein Bruder war gerade gestorben und ich befand mich an einem echten Tiefpunkt in meinem Leben. Während ich mich so durch die Online-Shops scrollte, um irgendwas zu fühlen, kaufte ich mir ein kurzes, lilafarbenes Tanktop mit Schmetterlingsprint, das mir ansonsten eigentlichzu „girly“ oder kitschig gewesen wäre. Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass mich diese Art von Top (ein Kindheitsklassiker der frühen 2000er) stark an viele der Oberteile erinnerte, die ich als Kind so geliebt hatte – und das erfüllte mich mit einem vertrauten Gefühl der Wärme.
Mode war immer schon zyklisch. Jeder Trend kommt irgendwann wieder, und Nostalgie ist somit ein fester Bestandteil unserer Outfits. Throwback-Looks wie die zahlreichen 2000er-Trends, die aktuell überall sind, sind quasi eine Hommage an die „gute alte Zeit“ – selbst dann, wenn wir zu der besagten Zeit selbst noch gar nicht auf der Welt waren. Laut der Modepsychologin Shakaila Forbes-Bell (die der Meinung ist, dass unsere Kleidung stark mitbestimmt, wer wir sind) kann die nostalgische Kleiderwahl nicht nur zum Nachdenken anregen, sondern auch heilend auf uns wirken.
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„In der Modepsychologie gibt es ein Konzept namens ‚wardrobe ethnography‘. Es beschreibt deine Garderobe als Spiegel all deiner Entscheidungen, die du bis zu diesem Zeitpunkt in deinem Leben getroffen hast“, erklärt Forbes-Bell. „Diese Entscheidungen sagen etwas darüber aus, wer du zu einem bestimmten Zeitpunkt warst – wovon du beeinflusst wurdest, was du in dir selbst gesehen hast, welchen Lifestyle du damals geführt hast. Ich glaube, es kann sehr befreiend sein, Kleider zu tragen, die dich an deine Kindheit erinnern.“
Unabhängig davon, wie deine Kindheit tatsächlich aussah, können uns die Gedanken an unsere damalige Kleidung – vermutlich inklusive verspielter Muster, heller Farben und generell ziemlich unseriös – an die Bestandteile unserer Jugend erinnern, an die wir uns gern erinnern wollen. Meine Kindheit war alles andere als perfekt. Trotzdem erinnert mich der Cardigan, der einem ähnelt, den ich zu meinem fünften Geburtstag anhatte, daran, dass ich die ganz besondere Freiheit des Kindseins auch wiedererlangen kann, die die meisten von uns mit der Zeit verlieren.
Genau darauf setzt auch die beliebte Therapietechnik der „Arbeit mit dem inneren Kind“, mit deren Hilfe wir uns mit schwierigen Erfahrungen aus unserer Jugend (von komplexen Traumata bis hin zu gemeinen Worten) auseinandersetzen können, um hoffentlich damit abzuschließen. Während ich nach dem Tod meines Bruders also selbst in einer schwierigen, traurigen Lebensphase steckte, half es mir, Kleidung aus meiner Kindheit zu tragen. Sie erlaubte es mir, mich an einen Ort und in eine Zeit zu flüchten, die sich viel sicherer anfühlten als meine Realität. Das soll nicht heißen, dass du vergangene Traumata heilen kannst, indem du dich einfach wieder kleidest wie ein Kind; es kann aber eine hilfreiche Ergänzung zu einer Traumatherapie sein.
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Eine meiner liebsten Filmszenen aus meiner Kindheit stammt aus 30 über Nacht, in der sich Jenna (Jennifer Garner) für ihre erste Partynacht als 30-Jährige fertig macht. Zu Whitney Houstons I Wanna Dance With Somebody fährt Jenna mit großen, kindlichen Augen mit den Händen über die Garderobe ihrer Träume.
Anstatt sich wie die „reife Erwachsene“ anzuziehen, die sie jetzt ist, entscheidet sich Jenna für ihr buntestes Kleid, extravaganten Schmuck und farbenfrohe Haarspangen, und verlässt ihr Haus dann mit schwingenden Armen und breitem Grinsen im Gesicht. Und genau so fühlt es sich auch für mich an, die Verspieltheit meines kindlichen Styles wieder aufleben zu lassen. Als ich mir vor Kurzem einen Secondhand-Cardigan mit einem Kragen aus Fellimitat kaufte – in Erinnerung an die auffälligen Kragen, die ich als Kind liebte –, fühlte ich mich dabei, als hätte ich in meinem persönlichen Style das nächste Level erreicht. Ich kombinierte den Cardigan mit einem transparenten Top, einem schwarzen Minirock und einer Strumpfhose und ging damit mit Freund:innen essen. Im Kopf gab ich der jüngeren Version von mir selbst, der immer gesagt worden war, sie müsse irgendwann erwachsen werden, dabei einen High Five.
Forbes-Bell zufolge können unsere Klamotten unheimlich viel über uns aussagen, und es ist nie zu spät, um uns mal zu überlegen, was wir mit ihnen eigentlich ausdrücken. „Es ist nicht bloß eine rudimentäre Handlung, dich jeden Tag anzuziehen. Es ist eine Entscheidung – und jede Entscheidung hat eine Reaktion“, sagt Forbes-Bell. „Die Sprache der Kleidung zu verstehen und zu wissen, was sie bedeuten und wie du dich darin fühlst, kann dir die Macht geben, mit deinen Klamotten auch die richtige Message zu übermitteln, die dir wirklich entspricht.“
Ich persönlich möchte der Welt mit meinen Outfits sagen, dass ich keine Angst davor habe, ihr mein wahres Ich zu präsentieren – inklusive aller Facetten. Und ob ich nun einen maßgeschneiderten Anzug trage, in dem ich mich stark und selbstbewusst fühle, oder einen pinken Pulli, den mein 11-jähriges Ich für mich ausgesucht hat: Ich weiß dabei auf jeden Fall, dass ich es für mich trage.