Achtung: Dieser Artikel enthält Spoiler zum Netflix-Film Pieces of a Woman.
Es dauert nur ein paar Szenen, bis in Pieces of a Woman alles eskaliert. Dabei sind die ersten Szenen davor so schön: Das junge Paar Martha (Vanessa Kirby aus The Crown) und Sean (Shia LaBeouf, der ursprünglich für seine Darstellung hier von Netflix für diverse Filmpreise aufgestellt, wegen Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs aber vom Streaming-Anbieter fallen gelassen wurde) erwarten ihr erstes gemeinsames Kind. Wir sehen Martha bei der Arbeit, wo sie sich von glückwünschenden Kolleg:innen in die Elternzeit verabschiedet. Wir hören, wie Sean seinen Kumpels von seinen tollen Zukunftsplänen erzählt. Währenddessen hat ihnen Marthas Mutter Elizabeth (Ellyn Burstyn) einen Minivan gekauft, in den auch ein Babysitz passt. Und als sie da so in ihrem neuen Auto sitzen, zeigt Sean Martha das eingerahmte Ultraschallbild, das er im Kinderzimmer aufhängen will. Ein Puzzleteil eines wunderschönen, brandneuen Lebens folgt dem nächsten – aber die Zukunft sieht bei Weitem nicht so rosig aus, wie uns der Film anfangs weismachen will.
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Sieben Minuten nach Filmbeginn setzen bei Martha die Wehen ein. Sie hat sich für eine Hausgeburt entschieden, doch ist ihre Hebamme durch eine andere Geburt leider verhindert. Also muss eine neue Hebamme her, und nachdem sie (Molly Parker) endlich ankommt, zeigt uns der Film 23 Minuten lang in Echtzeit, wie Martha ihr Kind zur Welt bringt. Es ist eine der brutal realistischsten Filmdarstellungen einer echten Geburt (und das sage selbst ich als Riesenfan von Call The Midwife!). Kirby würgt und rülpst, als ihr immer wieder schlecht wird, und schreit vor Schmerzen, als sie von den überwältigenden Wehen dazu gezwungen wird, die Geburt in die hoffentlich alles erleichternde Badewanne zu verlegen. In einer hektischen und gleichzeitig schier endlos langen Szene verfolgt die Kamera Martha, Sean und die Hebamme, während sie von Raum zu Raum eilen und eine Geburtsposition nach der anderen ausprobieren. Als Martha sich endlich aufs Bett legt, um zum letzten Mal kräftig zu pressen, kommt es plötzlich zu Komplikationen. Der Herzschlag des Babys ist unregelmäßig und zu schwach; die Hebamme tut alles, um das Kind schnell zur Welt zu bringen. Und dann ist es auf einmal da, das Mädchen, und das Publikum – sowohl vor als auch hinter der Kamera – atmet erleichtert auf. Doch die Erleichterung hält nicht lange an: Obwohl die Hebamme den Notruf alarmiert hat, kommt die Rettung zu spät. Das Baby stirbt noch in Marthas Armen, nur wenige Minuten nach der Geburt.
Pure Fiktion ist diese Szene dabei leider nicht, sondern eine (dramatisierte) Version der persönlichen Erfahrung des Paares hinter dem Film: Auch der Regisseur Kornél Mundruczó und die Drehbuchautorin Kata Weber verloren ihr gemeinsames Kind. „Ich wollte umsetzen, was ich selbst bei der Geburt fühlte“, erzählt Mundruczó Refinery29 via Zoom. „Als Vater bist du einem Regisseur dabei nicht ganz unähnlich: Du bist der Beobachter, bist aber gleichzeitig emotional voll involviert und kannst die Situation überhaupt nicht beeinflussen.“
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Vor allem die Hausgeburtsszene stellte Mundruczó dabei vor eine nie dagewesene filmische Herausforderung: Wie sollte er eine 30-seitige Geburtsszene so umsetzen, dass das Ergebnis auf dem Bildschirm immer noch dynamisch und realistisch rüberkam?
„Ich war schockiert – nicht nur von der Länge der Szene [im Drehbuch], sondern auch von der emotionalen Vielfalt darin“, sagt er. „In dieser schwierigen Geburt stecken so viele Nuancen, so viele einzelne Kapitel. Die Frage, die ich mir stellte, war, wie ich das im Film glaubwürdig darstellen sollte.“ Um der Szene umso mehr Realismus einzuhauchen, entschied sich Mundruczó dazu, die ganze 23-minütige Szene in nur einem Take aufzunehmen. Anders gesagt: Pieces of a Woman zeigt uns die komplette Geburt, von Anfang bis Ende, und das fast völlig ohne Schnitte. In der Szene gibt es keine Zeitsprünge; dramatische Momente bekommen ebenso viel Zeit wie ruhige Minuten. Die Konsequenz ist, dass das Publikum des Films die Achterbahnfahrt dieser Geburt quasi hautnah mit dem gezeigten Pärchen miterlebt – und umso mehr vom tragischen Ende getroffen wird.
„Wäre das eine 14-stündige Geburt gewesen, hätten wir die Zeit komprimieren und den künstlerischen Weg gehen müssen – das bedeutet dann Jump Cuts zwischen einzelnen Szenen, die zeigen, dass dazwischen Zeit vergangen ist“, erklärt Mundruczó. „Oder besonders kreative Aufnahmen, zum Beispiel von draußen ins Haus blickend. Wenn du aber ganz nah dran sein und alles fühlen willst, hast du nicht so viele Optionen. Ich liebe es, dass uns der Film als Kunstform erlaubt, so eine Geburt darzustellen.“
Das war allerdings mit viel Planung verbunden. Mit einem sogenannten Gimbal – das eine von Hand gehaltene Kamera stabilisiert und normalerweise beim Dreh von Musikvideos zum Einsatz kommt – konnte Kameramann Benjamin Leob dabei auch ganz nah rangehen, ohne beim Dreh zu viel Platz und Präsenz im Raum einzunehmen. Noch dazu wurde die gesamte Szene vorher bis ins Detail choreographiert. Die Schauspieler:innen wussten in jeder Sekunde, wo und wie sie stehen, sitzen oder liegen mussten. Geübt wurde das Ganze aber nicht.
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„Wir einigten uns vorher auf das Was, das Wo und Wie, und besprachen alle Einzelheiten der Szene. Hier ging es um den Phantomschmerz, die grausame Ironie, diesen Moment, in dem du schlimme Neuigkeiten bekommst“, sagt Mundruczó. „Dabei haben wir die Szene aber nicht groß vorher geprobt. Wir fanden, durch die Probe würde uns etwas verloren gehen.“
Und auch die Darsteller:innen selbst bereiteten sich so gut wie möglich vor. Kirby, die für diese Szene allein schon (zurecht!) als Oscar-Anwärterin gilt, erzählte der Harper’s Bazaar, sie habe zwei Wochen als Beobachterin in einer Geburtsstation verbracht und dort auch eine Geburt miterlebt. Diese Erfahrungen waren noch ganz frisch, als sie ans Set kam, und die brutale, schmerzhafte Szene war die erste, die gedreht wurde.
„Ich war fest davon überzeugt, dass [Vanessa] diese Szene erleben musste, bevor wir den Rest des Films drehten“, betont Mundruczó. „Das war wie eine Actionszene: Es führt kein Weg um die Explosion herum. Nach dem vierten Durchlauf fing sie stark an zu weinen, und diesen Moment werde ich nie vergessen. [Ich sagte zu ihr:] Halt dich nicht zurück. Fühle die Szene, und gib ihr, was sie deiner Meinung nach braucht“, fährt er fort. „Was ich unglaublich finde, ist, dass sie selbst noch nie ein Kind zur Welt gebracht hat, und trotzdem entstand daraus diese Szene. Wenn das nicht ‚darstellende Kunst’ ist, weiß ich auch nicht.“ Und tatsächlich war es auch dieser vierte, tief emotionale Take, der letztlich im Film landete, obwohl das Team über zwei Tage hinweg sechs Takes drehte.
„Es ist nicht leicht, jemanden zu finden, der oder die dazu bereit ist, sich auf die Dunkelheit einzulassen, die diese Rolle verlangt – selbst wenn du dabei viel Liebe und Stärke in dir selbst entdeckst“, sagt Mundruczó. „Ich war Vanessa dafür sehr dankbar – sie ist absolut furchtlos!“
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