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Cruella De Vil ist in Disneys Cruella nicht das Monster, für das wir sie halten

Foto: bereitgestellt von Disney+.
Achtung: Spoiler für Disneys Cruella direkt voraus!
Wie soll man ein Drehbuch wie Cruella schreiben? Diese Frage geht mir schon seit der Ankündigung durch den Kopf, Disney würde die Vergangenheit der Bösewichtin aus 101 Dalmatiner verfilmen und die Geschichte ihrer Anfänge als Modedesignerin im London der 1970er erzählen. Oder anders formuliert: Wie kreiert man familienfreundliche Unterhaltung, deren Protagonistin scheinbar keine Probleme damit hat, Welpen zu kidnappen, ermorden und häuten? Die einfache Antwort: Man versucht’s gar nicht erst. Die Macher:innen hinter Disneys Cruella sahen das aber scheinbar ein bisschen anders.
Cruella spielt zwar mit unserer schlechten Meinung zu Cruella De Vil – und das zeigt vor allem die Szene nach dem Abspann –, aber gleichzeitig drückt sich der Film davor, ihre bösen Handlungen in 101 Dalmatiner zu erklären. Stattdessen lässt er es so aussehen, als hätten wir die Frau immer völlig falsch verstanden. Kurz gesagt: Wenn du die Hoffnung hattest, die dämonische Cruella aus dem Zeichentrick-Film sowie ihre Glenn-Close-Version in der 1996er-Verfilmung nach diesem Prequel besser verstehen zu können, wirst du höchstwahrscheinlich enttäuscht. Warum? Lass es mich erklären. 
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In Cruella heißt die gute (oder eben schlechte) Frau in Wahrheit Estella (gespielt von Tipper Seifert-Cleveland als Kind und Emma Stone als Erwachsene). Wegen ihrer rebellischen Art bekommt sie von ihrer Mutter den Spitznamen Cruella (vom englischen „cruel“, also „grausam“). Als sie schließlich von der Schule fliegt, zieht Estella mit ihrer Mutter nach London, um dort ein neues Leben anzufangen. Auf dem Weg dorthin legen sie allerdings einen Zwischenstop in Hellman Hall ein – dem Zuhause der berüchtigten Baronin von Hellman (Emma Thompson), Modedesignerin und absolut furchtbarer Mensch –, um sie um Geld zu bitten. Die Verbindung zwischen den beiden Familien ist zu dem Punkt noch total unklar (und ergibt sich auch erst durch einen späteren Plottwist). Wichtig ist an der Szene aber Folgendes: Während sich ihre Mutter mit der Baronin trifft, schleicht sich Estella in die Villa und erlebt dort ihre erste Fashion-Show. Das ist Liebe auf den ersten Blick – bis ein Trio grimmiger Dalmatiner sie aus dem Gebäude verjagt. Estella versteckt sich vor ihnen und entkommt. Doch die Hunde suchen sich schnell ein neues Opfer: Estellas Mutter. In Bedrängnis stürzt sie von einer Klippe in den Tod. 
An diesem Punkt im Film geht dir vermutlich dasselbe wie mir durch den Kopf: Ohhh, okayyy, also will sich Cruella in 101 Dalmatiner an den Tieren für den Tod ihrer Mutter rächen? Eine ziemlich simple Motivation – aber bekannt aus so gut wie jedem Marvel-Film: Ein ausgestoßenes Kind verliert seine Eltern in einer brutalen Tragödie, für die es sich selbst die Schuld gibt und wodurch es sein ganzes Leben der Rache widmet.
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Foto: Clive Coote/Walt Disney/Kobal/Shutterstock.
Und tatsächlich schlägt Cruella daraufhin auch erstmal diesen vertrauen Weg ein. Estella reist nach London, trifft dort Jasper (gespielt von Ziggy Gardner, dann Joel Fry) und Horace (Joseph MacDonald, dann Paul Walther-Hauser), schließt sich ihrer Diebesbande an und träumt insgeheim davon, eines Tages ihr eigenes Modelabel zu gründen. Bei einem schlechtbezahlten Job in einem Kaufhaus wird sie schließlich von der Baronin entdeckt. Kurzzeitig scheint es für sie bergauf zu gehen, bis Estella plötzlich einen Geistesblitz hat: Sie ist gar nicht schuld am Tod ihrer Mutter. Die wahre Schuldige ist die Baronin, deren Pfeife die Hunde rief. Und zack – Cruella ist geboren, die versucht, mit ihrem eigenen Mode-Imperium das Lebenswerk der Baronin zu zerstören.
Erster Punkt der Tagesordnung: Horace und Jasper damit auftragen, die drei geliebten Dalmatiner der Baronin zu kidnappen – ein Plan, der definitiv an 101 Dalmatiner erinnert. Genau hier wird der Film hundetechnisch aber etwas verwirrend; erstens etabliert Cruella recht schnell, dass Estella die Dalmatiner zwar für den Tod ihrer Mutter verantwortlich macht, Hunde aber in Wahrheit liebt. Ihr bester Freund ist sogar ein süßer Streuner namens Buddy, und auch Horaces Chihuahua Tink ist fester Bestandteil der Diebes-Gang. Dann aber kommt der Höhepunkt des Films: Cruella veranstaltet eine Guerilla-Modenschau, musikalisch untermalt von Iggy and the Stooges’ „I Want To Be Your Dog“ (in einem Disney-Film… Punk ist wohl wirklich tot), und tritt selbst in einem Mantel auf, der scheinbar aus Dalmatiner-Fell besteht. Wir als Zuschauer:innen sollen, wie auch die Baronin, scheinbar glauben, Cruella habe die drei Hunde dafür getötet – furchtbar, aber on brand. Und ich muss sagen, dass ich in dieser Szene den Mut der Drehbuchautor:innen bewunderte: eine Disney-Protagonistin, die nicht nur Hunde tötet, sondern sie danach auch noch extravagant am eigenen Körper trägt? Wow, mutig. 
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Zum Glück für die Hunde – aber leider weniger für die Handlung – enthüllt Cruella daraufhin, dass der Mantel aus Kunstfell besteht. Dieser Plottwist macht sie zwar zu einer Filmfigur, der wir eher die Daumen drücken als einer Hundemörderin; gleichzeitig versaut Cruella hiermit aber den Kern von 101 Dalmatiner. Diese Frau heißt sogar wortwörtlich „die Grausame“ – und hat in 101 Dalmatiner ein einziges Ziel: Sie will einen Mantel aus dem von ihr geliebten schwarzweiß gepunkteten Dalmatinerfell tragen. Cruella ist und bleibt aber eben ein Disney-Film, und in einem solchen muss das Publikum den:die Protagonist:in unterstützen wollen. Und genau das wirft eine entscheidende Frage auf: Kann ein:e Bösewicht:in wirklich jemals die Hauptrolle spielen, ohne dabei genau das einzubüßen, was ihn:sie überhaupt so böse machte?
Womit wir bei der Schwäche jeder Entstehungsgeschichte angelangt wären. Oft ist es nämlich genau das Mysterium rund um den Hintergrund einer Figur, was sie so interessant macht. Ein Beispiel, an das ich dabei oft denke, ist Obi-Wan Kenobis Erwähnung der „Klonkriege“ in Star Wars: Episode IV – Eine neue Hoffnung. Das klingt mystisch, wie ein Aspekt einer sagenumwobenen Vergangenheit, von der wir nichts wissen. Diese Art von Anspielung auf große Ereignisse ist ein wichtiger Bestandteil des Weltenbaus solcher Geschichten: Durch solche Kommentare bekommt das Publikum den Eindruck, sich hier in einem Universum mit einer ganz eigenen Vergangenheit zu befinden. Als dieses Ereignis dann aber in Episode II – Angriff der Klonkrieger wirklich dargestellt wird, ist das irgendwie enttäuschend. Das sollen die grandiosen Klonkriege sein? Ähnlich ist es mit DCs Joker, dessen Schwäche darin lag, einem Charakter ein Motiv zu verleihen, dessen einzige Motivation in vorherigen Filmen einfach nur das Bedürfnis nach totalem Chaos gewesen war. Manches muss einfach nicht erklärt werden.
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Wie Disney aber durch den 2014er-Film Maleficent herausfand, sind Bösewicht:innen-Storys durchaus lukrativ. Die Angelina-Jolie-Verfilmung rund um die böse Hexe aus Dornröschen brachte dem Studio weltweit sage und schreibe 758 Millionen Dollar ein – ordentlich Profit, verglichen mit dem 200-Millionen-Dollar-Budget. 
Wenn es also unbedingt eine Entstehungsgeschichte der Widersacher:innen aus diversen Disney-Franchises sein muss, dann sollte die doch zumindest bisher unbekannte Seiten des jeweiligen Charakters beleuchten, oder nicht? Genau hier enttäuscht Cruella allerdings. Am Ende des Films haben wir zwar alle zu erwartenden Punkte abgehakt – die Story hinter Cruellas markanter Schwarzweiß-Frisur und ihrem Auto, sowie auch kurze Auftritte von Roger (Kayvan Novack) und Anita Darling (Kirby Howell-Baptiste) –, doch fehlt der entscheidende Aspekt, der diesem Film seine Daseinsberechtigung geben würde: eine Erklärung dafür, warum Cruella De Vil in Cruella überhaupt so eine große Rolle spielt. In 101 Dalmatiner war sie die Böse. Hier… plötzlich nicht mehr? Oder doch? Da ist sich scheinbar niemand so sicher.
Das Ganze wird umso verwirrender durch die Szene, die nach dem Abspann des Films läuft. Darin sitzt Roger – ehemals der Anwalt der Baronin – an seinem Klavier und singt die ersten Zeilen von Cruellas Erkennungsmelodie („Cruella De Vil, Cruella De Vil. Durchbohrt dich ihr Blick, dann wirst du ganz still“), als es an der Tür klingelt und plötzlich eine Kiste mit einem Dalmatiner-Welpen namens Pongo davor steht. Gleichzeitig bekommt Anita, die in diesem Film eine Tratsch-Journalistin und Cruellas Kindheitsfreundin ist, einen Welpen namens Perdita zugestellt. Da Cruella die Hunde der Baronin behalten hat, ist meine einzige Schlussfolgerung hier: Pongo und Perdita sind deren Nachkommen. Und obwohl diese kleine Szene demnach nett zu 101 Dalmatiner überleitet, erklärt sie überhaupt nicht, wieso Cruella später versucht, die Welpen der Hunde umzubringen, die sie soeben ihren Freund:innen geschenkt hat!
Erklärt Cruella wirklich, wie die brilliante, böse und dezent irre Frau entstand, die wir aus den Kinderfilmen der 90er kennen? Nicht wirklich. Wenn du aber Lust auf knapp über zwei modische Stunden à la Der Teufel trägt Prada  hast, schalt ruhig ein. 
Disneys Cruella ist auf Disney+ mit VIP-Zugang zu sehen.
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