Wie jeden Januar setzte sich Devin Daly-Huerta Anfang des Jahres hin, um an seinem Vision-Board für das neue Jahr zu arbeiten. Draußen wütete die Pandemie zwar immer noch, aber Meldungen in Bezug auf Impfstoffe stimmten ihn hoffnungsvoll und zuversichtlich, was eine Rückkehr zur Normalität im Frühling anging. Seine Traumcollage bestand aus der üblichen Mischung aus Karrierezielen, Orten, die er gerne bereisen würde, und Wellness-Ritualen, die er im kommenden Jahr in seine Routine einbauen wollte. Zum ersten Mal entschied er sich jedoch, auch „Stil“ als Ziel hinzuzufügen.
„Für mich ging es darum, etwas Abstand zu gewinnen und mich zu fragen: ‚Was ist mir jetzt wichtig?‘“, sagt er. Die Antwort: seine Identität nach der Pandemie durch Kleidung neu zu erfinden.
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Der New Yorker hat sich sein Vision Board zu Herzen genommen. Er war frisch geimpft, als er seinen Kleiderschrank ausräumte. Er beschloss, alles zu spenden, das er nicht mehr brauchte – wie das Mexiko-Trikot, das er während der Fußball-WM 2018 gekauft hatte, und Jacken, in denen er sich nicht mehr wohlfühlte. „Sie fühlten sich wie eine Beziehung an, die mir nicht mehr diente“, sagt er.
Der 35-Jährige ist nur eine Person von vielen, die sich der Mode bedienen, um die Auswirkungen der letzten beispiellosen Monate zu verarbeiten. Die Pandemie hat das Leben, die Arbeitssituation und die Beziehungen unzähliger Menschen erschüttert. Keine Therapie in der Welt könnte uns in die Lage versetzen, all die Verluste und das Leid, das wir erlitten haben, perfekt aufzuarbeiten. In der Zwischenzeit können wir aber Gebrauch von unserer Kleidung machen, um uns und den enormen Veränderungen, die wir alle durchlebt haben und immer noch durchleben, Ausdruck zu verleihen.
„Durch Mode können wir unsere Identität veranschaulichen. Sie ermöglicht es uns, zu entscheiden, wie wir uns der Welt zeigen wollen“, sagt Dr. Carolyn Mair, Verhaltenspsychologin und Autorin von The Psychology of Fashion. „Sobald alles wieder seinen normalen Lauf nimmt, werden wir uns wieder so richtig in Schale schmeißen!“
Mair sagt, dass die Modetrends und das Verbraucherverhalten die psychologischen Auswirkungen der Pandemie seit ihrem Ausbruch belegt haben. Zunächst waren alle, die von zu Hause aus arbeiten konnten, davon begeistert, dass sie keine offizielle Kleidung mehr zu tragen brauchten und den ganzen Tag im Pyjama verbringen konnten. „Aber so wie die Mode sind auch Einstellungen zyklisch“, sagt Mair. Nach einer Weile hatten wir alle genug davon, uns ungeschminkt in Loungewear, die sich ideal fürs Herumlümmeln eignet, zu sehen. Irgendwann sehnten wir uns dann doch wieder nach unserem Leben vor Corona.
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Da wir einen Großteil des Jahres in Isolation verbrachten, haben viele von uns das Gefühl vermisst, einen Look, der keine neue Maske war, vor Fremden stolz vorzuzeigen. „Wir mögen die Kommentare, die wir bekommen. Uns gefällt das Gefühl, dass wir [durch Kleidung] einen Eindruck auf andere Menschen machen“, sagt Mair. „Das ist so tief in uns verankert.“ Die Psychologin argumentiert, dass selbst Menschen, die denken, dass sie sich nicht für Mode interessieren, ihrer Macht unterliegen, unsere Stimmung zu verbessern und uns ein Gefühl von Selbstvertrauen zu vermitteln.
Seit Januar ist die Nachfrage nach glitzernden BHs, Perlen- und Feder-Stirnbändern und Metallic-Teilen laut der Shopping-Plattform Lyst zufolge stark angestiegen. Auf dem Laufsteg sind die Absätze höher geworden und haben uns zusammen mit größeren Ärmeln, mit Federn geschmückten Zierstreifen und kristallbesetzten Stücken den Atem geraubt. In unseren Wohnzimmern haben sich Trends breitgemacht, die sich Athleisure widersetzen – wie zum Beispiel #FormalFridays. „Wir haben den Glamour, die sexuelle Attraktivität und den Spaß an der Mode vermisst“, fügt Mair hinzu.
Katrina Turchin freut sich auf die Rückkehr zum Glam. Letzten Monat kaufte sie das Shirt, das sie im August zu ihrem 22. Geburtstag tragen will, wenn die Corona-Beschränkungen dort, wo sie lebt, aufgehoben werden. Das Teil – ein schwarzes Fransen-Crop-Top von Aritzia – war nicht leicht zu ergattern. „Nachdem alle meine Freund:innen sagten, ich solle es nicht kaufen, wartete ich. Am Ende war es ausverkauft“, sagt sie. „Schließlich musste ich es jemandem auf Facebook Marketplace abkaufen. Immerhin wollte ich für meinen Geburtstag besonders gut aussehen.“
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Turchins Wunsch, verlorene Zeit aufzuholen, entspricht genau dem, was Expert:innen als „Rachemode“ bezeichnen. Dieser Begriff beschreibt unser Verlangen, das modisch wettzumachen, was uns in den letzten Monaten entgangen ist – und uns auf diese Weise quasi zu rächen. Monatelang das Gleiche in der gleichen Umgebung zu tragen, hat also eindeutig nicht dazu geführt, dass uns neue Fashion-Trends egal geworden sind: Sowohl Luxus- als auch Fast-Fashion-Einzelhändler:innen haben einen Anstieg der Verkäufe online und in echt vorausgesagt. Gleichzeitig bieten Secondhand- und Resale-Märkte – wie Facebook Marketplace und Vinted – Käufer:innen die Möglichkeit, Mode nach der Pandemie auf ethischere Weise zu erwerben.
So haben wir auch das Gefühl, nicht bloß stillzusitzen, sondern uns vorwärts zu bewegen. Vor der Pandemie war Turchins Look glamourös. Sie trug hohe Absätze und Röcke. Jetzt beginnt sie von vorne. Wie Daly-Huerta hat auch Turchin ihren Kleiderschrank entrümpelt. „Ich bin jetzt mehr daran interessiert, klassische Stücke zu tragen, als bloß Trends zu folgen. Ich möchte Teile haben, die ich lange tragen kann und die mir Freude bereiten“, sagt sie.
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