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Der unnötige Gürtel der 2000er ist zurück & das hat psychologische Gründe

Als Carrie Bradshaw (Sarah Jessica Parker) in Sex and the City (Staffel 4, Folge 15) einen limettengrünen Gürtel, eng um ihren oberen Bauch geschnürt, mit einem low-waisted Tropenprint-Rock, einem pinken Bauchfrei-Hemd und einem an Unkraut erinnernden Haaraccessoire kombinierte, sorgte das im Publikum für Stirnrunzeln. Selbst für Carrie – zu deren bekanntesten Outfits schließlich ein Kermit-grüner Minirock mit einem Cul de Paris (sprich: Wattehintern) und die Kombi aus Bandeau-BH und Cowboy-Hut zählen – ist es bestenfalls fragwürdig, ein zweckmäßiges Accessoire wie einen Gürtel so zu tragen, dass es absolut keinen Zweck mehr erfüllt.
Das sieht übrigens sogar die SATC-Kostümdesignerin Patricia Field so – und sie hat den Look immerhin entworfen. „Die Serie lief über sechs Jahre hinweg, und pro Staffel gab es rund 24 Episoden. Das sind also viele Outfits. Trotzdem habe ich nur dieses eine, das ich mir heute ansehe und mir denke: ‚Äh‘“, erzählte sie 2018 gegenüber Repeller. „Sie trug einen Rock und ein Crop Top, und ich warf ihr einen Gürtel um… die Taille.“
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Was den Look,  aber umso verwirrender macht, ist die Tatsache, dass 20 Jahre später scheinbar viele Leute auf den Geschmack gekommen sind, mit ihren Gürteln nicht die Hosen hochzuhalten, sondern ihre Outfits damit zu verschönern – oder zumindest zum Eyecatcher zu machen. Aus irgendeinem Grund sind unnötige Gürtel im Jahr 2021 im Trend.
Beweisstück A: Olivia Rodrigo. Die wollte im Juli bei einem Besuch im Weißen Haus den Rest der Gen Z davon überzeugen, der Corona-Impfstoff sei good 4 U. Zu dem Anlass trug sie einen pinken, karierten Rock aus Chanels Frühjahrskollektion ’95, kombiniert mit weißen Giuseppe-Zanotti-Plateauschuhen und einem silbernen Chanel-Kettengürtel, der nirgendwo befestigt war. In den darauffolgenden Tagen stellte die globale Fashion-Shopping-Plattform Lyst einen wöchentlichen Zuwachs von 121 Prozent in den Suchanfragen nach ähnlichen Taillenaccessoires fest. 
Und Olivia Rodrigo war nicht die einzige Trendsetterin. Ganz ähnlich sah es bei Hailey Bieber, Bella Hadid und Lady Gaga aus, die funktionslose Bauchketten und -gürtel zum Bikini trugen, während Beyoncé, Kim Kardashian und wieder Bella Hadid das Accessoire mit Prêt-à-Porter-Looks kombinierte. Auf dem Catwalk tauchten die Taillenkettchen unter anderem bei Blumarine, Jacquemus, Chanel und Dior auf – und obwohl sie das Accessoire alle unterschiedlich stylten, hat es doch überall etwas gemeinsam: Der Gürtel diente wie bei Carrie nicht dazu, irgendwas hochzuhalten. Tatsächlich hatte er gar keine Funktion.
Und da stellen wir uns die Frage: Was sagt es über unsere Welt aus, dass etwas Nützliches wie ein Gürtel heute quasi als Garnierung getragen wird? Und wie hängt das aktuelle Fashion-Interesse an dem Trend mit Carries 2001er-Look und ähnlichen Outfits von Christina Milian, Beyoncé und anderen zusammen?
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Laut der Kognitionspsychologin Dr. Carolyn Mair, die sich auf Mode spezialisiert hat, durchleben wir gerade einen ähnlichen Zeitgeist wie in den frühen Nullerjahren – geprägt von der Angst vor technologischen Fortschritten, globalen ökonomischen und politischen Problemen und Terrorismus. Diese Ängste sind noch heute präsent und werden zusätzlich durch den Stressfaktor einer Pandemie befeuert. „Zur Angst gehört Aufregung – Angst wühlt auf“, erklärt Mair Refinery29. Sie sagt, dass es in solchen Situationen zu drei möglichen Reaktionen kommt: Entweder bleibt man und kämpft, man flieht, oder man macht gar nichts und ignoriert die Realität vor den eigenen Augen. „Mode bleibt nie gleich, und Fashion-Anhänger:innen haben beschlossen zu kämpfen: Sie wollen gesehen werden und nutzen dazu jede sich bietende Chance.“ Die Konsequenz: Modebegeisterte Menschen wenden sich in dieser aufwühlenden Zeit an dramatische, überzogene Fashion – zu der auch auffällige Gürtel gehören –, selbst wenn der einzige Zweck der einzelnen Pieces eben Style ist.
Dabei hat sich im vergangenen Jahr allein viel verändert. Heute „kämpfen“ wir für etwas anderes als noch im März 2020; damals griffen wir zu Klamotten, in denen wir uns sicher fühlten. Dazu zählten natürlich Masken, aber auch Schulterpolster und riesige Boots, die so aussahen, als könnten sie auch eine Apokalypse aushalten. Unsere Handtaschen waren größer denn je, und unsere Kleidung hatte plötzlich tiefere Taschen, damit wir alles Nötige mit uns rumschleppen konnten. Heute sind wir aber weniger auf Sicherheit als auf Freiheit aus, nachdem der Lockdown gelockert wurde und immer mehr Leute geimpft sind. Und zu dieser Freiheit gehört eben auch die Möglichkeit, das zu tragen, worauf wir gerade Lust haben, ohne beim Anziehen immer an unsere Sicherheit denken zu müssen.
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Manche Menschen ziehen sich jetzt lockerer und verspielter an, um ihre Freiheit und Freude darüber auszudrücken, jetzt endlich wieder unter Leute zu kommen.

Dr. Carolyn Mair, kognitive psychologin
Die Modepsychologin Dr. Dawnn Karen, Autorin von Dress Your Best Life: How to Use Fashion Psychology to Take Your Look — and Your Life — to the Next Level, ist davon überzeugt, dass die unnötigen Gürtel direkt damit zusammenhängen. Sie meint, dass die nur-dekorativen Gürtel die Freiheit symbolisieren, heute Kleidung zu tragen, die wir vor rund einem Jahr noch nicht tragen konnten – oder für die wir damals zumindest keinen Anlass hatten. Dr. Mair sieht das ähnlich: „Manche Menschen ziehen sich jetzt lockerer und verspielter an, um ihre Freiheit und Freude darüber auszudrücken, jetzt endlich wieder unter Leute zu kommen.“
Dr. Karen macht für den Zuwachs an ausschließlich dekorativen Trends auch das Déjà-vu-Gefühl verantwortlich, das gerade viele von uns erleben: Wegen der Delta-Variante und der erneut steigenden Coronazahlen stehen wir wieder vor einer ungewissen Zukunft. Es könnte quasi jeden Moment heißen, wir sollen uns alle wieder in unseren vier Wänden verkriechen – warum sollten wir uns also nicht genau so wild und extravagant anziehen, wie wir gerade Lust haben, solange wir noch können?
Foto: Jeffrey Mayer/WireImage.
Christina Milian trägt einen „Christina“-Gürtel über ihrer Jeans, 2003.
„Über ein Jahr lang haben wir kaum Komplimente für unsere Outfits bekommen“, erwähnt Dr. Karen. „Niemand hat uns gesagt: ‚Oh, ich liebe deine Bluse‘, oder: ‚Hübsches Kleid!‘“ Jetzt, wo wir diese äußerliche Bestätigung endlich wieder bekommen konnten, dürfte es schwierig sein, zur Einsamkeit zurückzukehren. Und genau deswegen, glaubt Dr. Karen, greifen wir jetzt zu jeder Menge Accessoires – ob die nun einen Zweck erfüllen oder nicht. Denn so gruselig, wie es vielleicht auch klingt: „Die Uhr tickt.“ 
Andere Gründe für das Wiederauferstehen des unnötigen Gürtels sind etwas weniger deprimierend. Wie es im Trend-Kreislauf nun mal so ist, kehren Styles meist rund alle 20 Jahre zurück; das aktuelle Y2K-Revival ist also nicht wirklich überraschend. Genau rechtzeitig zur 20-Jahre-Marke haben wir wieder Hüftjeans und sichtbare Tangas im Schrank zu liegen und die Skinny Jeans effektiv abgeschafft.
Obwohl wir diesen Trend-Zyklus also für die meisten momentanen Y2K-Trends verantwortlich machen können, ist es trotzdem irgendwie verwirrend, ein praktisches Piece wie einen Gürtel schlicht zur Dekoration getragen zu sehen. Andererseits sollten wir in Anbetracht der aktuellen Lage vielleicht ein bisschen weniger Zeit damit verschwenden, uns über belanglose Dinge wie einen ästhetisch beglückenden Gürtel den Kopf zu zerbrechen – und stattdessen beim Griff in den Kleiderschrank vielleicht öfter einfach nur Spaß haben.
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