Ende 2020 gab das Model Halima Aden, das eine gänzlich neue Entwicklung in der Mode-Branche eingeleitet hatte, bekannt, dass sie sie mit dem Model aufhören will. In einer Reihe von Instagram-Beiträgen schrieb die 23-Jährige darüber, dass sie sich durch ihren Job von ihrer Identität und Religion losgelöst fühlte. „Mit meiner Entscheidung, meine Modelkarriere zu beenden, setze ich ein Zeichen für mich selbst, aber auch für all jene Menschen, die ihre Seele an die Fashion-Welt verloren haben.“ Aufgrund ihres Hijabs fühlte sie sich von der Branche nicht respektiert, und ihre Erfolgsgeschichte – und ihr endgültiger Rücktritt – spiegelt die komplexe Rolle wider, die Anständigkeit in der Mode im Allgemeinen spielt.
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Bescheidene, schlichte oder bedeckende Mode, auch als „Modest Fashion“ (MF) bekannt, kann auf viele verschiedene Arten interpretiert werden. Wer sich umschaut, wird nämlich merken, dass es verschiedene Vorstellungen und Formen dieser Modeform gibt. Einfach ausgedrückt handelt es sich dabei um Kleidung, die den Körper eher verdeckt als betont. Außerdem geht es dabei auch um Stoffe, die nicht zu durchscheinend sein sollen. Zu Modest Fashion gehören Hijabs und Burkas, aber auch locker sitzende, hochgeschlossene Oberteile oder Jacken und Kleider und knöchelhohe Säume. Während Bescheidenheit in der Mode als eine ästhetische Entscheidung angesehen werden kann, ist das Tragen eines Hijabs eine religiöse oder kulturelle Entscheidung. Zu lange galten Mode und Glaube als unvereinbar; jetzt nutzt eine neue Generation die sozialen Medien, um ihren Glauben zu vertreten und kreative Wege zu finden, ihn in ihren persönlichen Stil einzubinden.
@salma.sah which ones your favorite??? #hijabi ♬ original sound - Fran Vasilić
Salma Djlal (@salma.sah), deren Videos über Modest Fashion und Islam auf TikTok bereits über zwei Millionen Mal aufgerufen wurden, erklärt, dass ihr Glaube und ihr persönlicher Stil schon immer miteinander verbunden waren. „Als ich aufwuchs, sah ich in Zeitschriften Kleider, die ich gerne tragen wollte, die aber nicht mit meinen Überzeugungen vereinbar waren. Als ich damit anfing, Streetwear zu tragen, konnte ich anständig gekleidet bleiben – was meine oberste Priorität war und immer noch ist. In der letzten Zeit erfreut sich bescheidene, schlichte oder bedeckende Mode immer größerer Beliebtheit und Frauen, die Hijabs tragen, haben einen großen Teil dazu beigetragen, den Weg dafür zu ebnen“, sagt sie.
Auch die Instagrammerin Nashita Sultan (@nashitasultanana), die einen Hijab trägt, erklärt gegenüber Refinery29 Folgendes: „Mein Modestil und meine Inspiration basieren ausschließlich auf den Regeln meiner Religion, die mit der Art und Weise, wie ich mich kleide, übereinstimmen, ohne dass ich dabei meine modische Identität aufgeben muss.“ Lange Zeit taten sich Frauen mit Kopftuch, die sich für Mode interessieren, schwer damit, ihren Glauben mit ihrem Wunsch danach, sich durch Fashion auszudrücken, in Einklang zu bringen. Die Gen Z beweist nicht nur, dass das eine, das andere nicht ausschließen muss, sondern dass sich beides sogar sehr gut unter einen Hut bringen lässt.
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Die Journalistin und Autorin Hafsa Lodi bezeichnet diese neue Welle in ihrem Buch Modesty: A Fashion Paradox als „Zustrom der ‚Generation M‘“. Sie schreibt: „In den letzten zehn Jahren sind Modest-Fashion-Bloggerinnen in den sozialen Medien aus dem Boden geschossen und mehr und mehr glaubensgestützte Modemarken entstanden. Außerdem hat ein Modell mit Kopftuch Mainstream-Laufstege unsicher gemacht und uns in Erstaunen versetzt. All diese Faktoren haben Modest Mode in die Mainstream-Modewelt katapultiert.“ Wir erleben eine neue Welle dieser bescheidenen, schlichten oder bedeckenden Fashion, die zum Teil durch die sozialen Medien an Bekanntheit gewinnt, und solange ihr Einfluss wächst, wird die Mode-Branche nach weiteren Wegen suchen, um Inklusion sicherzustellen.
Seit den Anfängen von Blogging, vor Laufsteg-Gigs und Titelseiten von Zeitschriften, als Frauen mit Hijab einfach nur versuchten, sich einen Platz in der Modewelt zu sichern, hat sich viel verändert. Lodi zufolge ist ein Teil dieses Fortschritts auf Kommerzialisierung zurückzuführen. „Es gibt eine starke Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass Modest Fashion nicht mehr als solche gekennzeichnet und stattdessen nahtlos in die Mainstream-Kollektionen unterschiedlicher Marken integriert wird. Ich persönlich glaube aber, dass es noch mindestens ein paar Jahre dauern wird, bis es so weit sein wird“, schreibt sie in ihrem Buch. Bevor wir mit der Beseitigung von Labels zum Kategorisieren beginnen können, muss sich die Branche damit anfreunden, bescheidene, schlichte oder bedeckende Mode so zu zeigen, wie sie tatsächlich ist.
Mode war schon immer ein hilfreicher Indikator für unsere kulturellen Werte. Was wir auf den Seiten der Zeitschriften und auf den Laufstegen der Welt sehen, zeigt uns, was die Gesellschaft für akzeptabel hält. Wenn sich die Branche also in Richtung Inklusion bewegt, ist das ein Schritt in die richtige Richtung – wenn auch nur langsam. Diese neue Generation junger, modebegeisterter Frauen mit Hijab hat den langen Weg, den ihre Gemeinschaft hinter sich hat, aus erster Hand miterlebt. Eine Nachfrage war immer schon da, denn Verbraucherausgaben muslimischer Personen für Bekleidung überstiegen 2015 243 Milliarden Dollar (etwas 214 Milliarden Euro) in 2015 und steigen weiterhin an. Erst seit Kurzem sind Marken aber dazu bereit, dieses Potenzial zu erschließen.
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2015 stellte H&M sein erstes Hijab tragendes Model, Mariah Idrissi, in einer Kampagne vor. Drei Jahre später, im Jahr 2018, erschien das somalisch-amerikanische Model Halima Aden als erste Frau mit Kopftuch auf dem Cover der britischen Vogue. Net-A-Porter hat seit 2015 eine Auswahl an Modest Fashion zusammengestellt, die als „Ramadan edit“ bekannt ist, und Marken wie Dolce & Gabbana und Marks & Spencer bieten nun spezielle MF-Kollektionen an. Frauen mit Hijab, die sich zu lange unsichtbar gefühlt haben, sehen sich endlich auf neue und spannende Weise repräsentiert. „Lange Zeit war nur eine Art von Mode oder eine Art von Model zu sehen“, sagt Salma. „Wenn Frauen mit Kopftuch Mode nutzen, um sich auf kreative Weise auszudrücken, ohne sich in das zu fügen, was in der Modeindustrie normalisiert ist, ist das inspirierend.“
Repräsentation hat aber leider oft auch ihre Tücken. Die Aufnahme von Kopftüchern in die Schulbekleidungslinie von Marks and Spencer wurde heftig kritisiert und dieses Kleidungsstück als „eine Form von Unterdrückung“ bezeichnet. Nike sah sich mit ähnlichen Reaktionen konfrontiert, als es seine „Pro Hijab“-Sportbekleidung lancierte, zeigte aber auch in darauffolgenden Kampagnen, dass die Firma Diversität großschreibt. Obwohl einige Kund:innen damit drohten, Marken zu boykottieren, falls sich diese weiterhin für mehr Inklusion starkmachen, überwiegen die finanziellen Vorteile, die eine Erschließung des wachsenden muslimischen Marktes bedeutet, gegenüber solch negativen Reaktionen. Doch auch wenn wir sehen, dass immer mehr Marken mehr Vielfalt zeigen, ist nicht jedes Fashion-Unternehmen dazu bereit, den Schritt zu echter Inklusion zu wagen. Diversität ist nämlich ohne Frage ein gutes Geschäftsmodell, und der Hijab das neueste Requisit, das zur Repräsentation eingesetzt wird.
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Der Hijab hat eine große religiöse Bedeutung und eine bloße Nachahmung im Dienste eines neuen Trends kommt bei der muslimischen Bevölkerung wahrscheinlich nicht gut an – was Banana Republic jedoch nicht davon abhielt, Bilder von Models mit kurzen Ärmeln zu verwenden, um auf ihrer Website für ihre Hijabs zu werben. In den letzten Jahren waren Kopftücher auf zahlreichen Laufstegen zu sehen, unter anderem bei Gucci, Versace und Yeezy. Im September 2017 trug jedes Model auf dem Laufsteg bei einer Modeschau von Marc Jacobs ein seidenes Kopftuch. Trotz all dieser Beispiele von „Inklusion“ hat kein:e einzige:r Designer:in eine muslimische Frau für den Laufsteg-Gig engagiert, das Kleidungsstück als „Hijab“ bezeichnet oder überhaupt auf Muslima verwiesen. Stattdessen benutzten sie umschreibende Begriffe wie „skulpturhaftes oder kapuzenartiges Kopfteil“, womit sie dem Kleidungsstück jegliche islamische Herkunft absprachen und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Implikationen, die damit zusammenhängen, zeigten. Wenn das die Beseitigung von Labels zum Kategorisieren ist, von der Lodi spricht, wie können Marken dann muslimische Verbraucher:innen wirklich repräsentieren und gleichzeitig ein breiteres Publikum ansprechen, das sich für Anständigkeit in der Mode interessiert?
Angesichts dessen, wie komplex die Mode-Branche ist, ist es verständlich, dass Aden sich vom Laufsteg zurückgezogen hat. „Muslima wissen, wie schwer es ist, einfach nur zu existieren, geschweige denn, hart für ihre Träume zu arbeiten und sich dabei selbst treu zu bleiben“, sagt Nashita. „Dass Halima es wirklich ‚geschafft‘ hat, war ein Gewinn für alle muslimische Personen, und als sie sich entschloss, mit dem Modeln aufzuhören, erfüllt es die muslimische Welt mit Stolz, dass sie der Fashion-Branche im Alleingang die Stirn bot.“
Die Zukunft von Modest Fashion bleibt ungewiss, aber hoffnungsvoll. Es gab einige bedeutsame Meilensteine, wie die erste MF-Week in London im Jahr 2017. „Bescheidene, schlichte oder bedeckende Mode wird immer zugänglicher werden“, sagt Nashita, da Social-Media-Plattformen wie Instagram und TikTok es auch Menschen außerhalb der Branche ermöglichen, die Richtung, die sie sich wünschen, mitzubestimmen, und sich selbst zu repräsentieren. „Modest Fashion erlebt endlich ihren Moment im Rampenlicht“, sagt Lodi. „Historisch unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen werden jetzt berücksichtigt, und diese Stimmen verdienen es, gehört und gefeiert zu werden.“ Seit Jahren fordern junge Frauen, die mit Stolz ihr Kopftuch tragen und sich bescheiden kleiden, ihren rechtmäßigen Platz in der Modewelt ein – ob die Branche mitzieht und sie anerkennt, steht auf einem anderen Blatt.