Um das gleich vorweg zu nehmen: Ich war diese Woche noch nicht in der Kirche. Ich gehe nie in die Kirche. Ich bin nicht in der Kirche. Ich bin noch nicht einmal getauft. Diese Information scheint ja für politische Auseinandersetzungen sehr wichtig zu sein. Aber: Ich mag Politik. Immer noch. Ich bin schon als Kind gerne mit zum Wählen gegangen. Ich war Wahlhelferin, ich hatte Leistungskurs Politik und habe als Linguistin meine Magisterarbeit über politische Talkshows geschrieben. Ich finde demokratische Prozesse so richtig fancy. Es ist also Sonntagabend. Chips, Limo und Schokolade stehen bereit. Ich inszeniere das TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz wie ein Fußball-WM-Finale. Nur ein bisschen dazu twittern, mich ein bisschen lustig machen. Und dann bin ich nach zehn Minuten auf Hundertachtzig. Immerhin: Das hat fast noch kein Tatort vorher geschafft.
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Die beiden liefern sich eine armselige Choreografie aus Arroganz, Unsicherheit und Konsens. Zu großen Teilen dafür verantwortlich: die Moderation. Mehr Moderatoren als Protagonisten – das ist ein Setting, das von vornherein keine richtig guten Erfolgsaussichten hat. Wenn einer dieser Moderatoren dann noch unfassbar „flapsig“ (Strunz eigenen Worte) diverse Positionen von rechts vertritt und in seiner Wortwahl jedem AfD-Kandidaten Konkurrenz machen kann, dann wünscht man sich plötzlich Stefan Raab zurück.
Es ist ja nicht so, als hätte ich etwas anderes erwartet, aber fast die Hälfte der Zeit bei einem Duell zwischen zwei Menschen, die die nächsten vier Jahre quasi Klassensprecher von Deutschland werden wollen, mit nur einem Thema zu füllen, finde ich schon ziemlich bitter. Mit einem Thema, das von allen Seiten so gerne mit Polemik und Populismus behandelt wird und bei dem sie auch hier – obwohl sie fast 45 Minuten Zeit dafür haben – nur an der Oberfläche kratzen. Ein Fragenkatalog, bei dem sich die Wahlkämpfer der AfD die Hände gerieben haben dürften. Antworten, die zeigen, wer mit diesem Duell hinter den Bildschirmen erreicht werden soll.
Nach einer Stunde weiß ich, dass alle Beteiligten in die Kirche gehen, Trump nicht mögen, Geflüchtete irgendwie da sind und die Türkei schwierig ist. Aha.
Und was fehlt dann noch in einem Duell, in dem es um die Zukunft von 82 Millionen Menschen gehen soll? Genau. Diesel und Maut. Das Auto, des Deutschen liebstes Spielzeug. Das ist wichtig, da muss man drüber sprechen. Weil, die Angela hat ja gesagt, mit ihr nicht und jetzt doch und da kann man mal sehen.
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Wir brauchen gar keine Studien zur Politikverdrossenheit. Es reichen diese 90 Minuten Fernsehgeschichte.
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Die Rente wird kurz angerissen. „Einstiegsalter“ scheint das große Zauberwort in dieser Diskussion zu sein. Wovon ich nach dieser Grenze aber leben soll, das beantwortet keiner von beiden. Dann kommen kurz Kinder ins Spiel und alle wissen, die sind wirklich wichtig, die Kinder, so wichtig. Und deshalb rechnen Schulz und Merkel fröhlich vor, was sie bezahlen wollen, wenn jemand Kinder bekommt. Zweimal zwei macht sechs, widdewiddewitt und drei macht einhundertfünfzig oder so. Und ich frage mich: Wenn die so wichtig sind, diese Kinder – warum sorgt dann niemand für vernünftige Arbeitsbedingungen für Hebammen, rundum sichere Geburts- und genügend Betreuungsmöglichkeiten, mit denen Kinder, Eltern und Erzieher sich wohlfühlen?
In der Ja-oder-Nein-Runde wird dann noch einmal deutlich, dass Spitzenpolitiker es mit Ein-Wort-Antworten nicht so haben. Merkel rudert bei der Frage, wie sie zur Ehe für Alle steht, herum. Ich freue mich fast, dass sie endlich mal ins Schlingern gerät, will aber gleichzeitig in den Fernseher schreien: „JA ODER NEIN!“ An Schulz Aussagen kann ich mich nicht so gut erinnern, weil ich in den Kunstpausen immer direkt einschlafe. Sein Abschlussstatement hat er schon nach zehn Minuten gehalten und vielleicht wäre das einfach ein würdiges Ende für diese Sendung gewesen. Dann hätte er am Ende nicht dieses Abbild eines Schuljungen spielen müssen, der für die rettende Vier auf dem Zeugnis noch ein Gedicht aufsagen muss.
Merkel schmallippig, Schulz unsicher und ich schnaufend. Das ist also das Ende von diesem Duell, bei dem sich noch nicht einmal jemand geprügelt hat. Wir brauchen gar keine Studien zur Politikverdrossenheit. Es reichen diese 90 Minuten Fernsehgeschichte.
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„Was hast du denn erwartet?“, fragen Menschen und genau das ist doch die Enttäuschung. Man erwartet von diesem Duell schon nicht mehr als Geplänkel, Gekrampfe und Gegrinse. Es lägen so viele Möglichkeiten darin. Einen kleinen Einblick bekommen die Zuschauer am nächsten Abend beim sogenannten Fünfkampf zwischen den Spitzenkandidaten der anderen großen Parteien (soweit man die CSU als groß bezeichnen darf). In einem Mehrparteiensystem verstehe ich sowieso nicht, wieso nicht einfach alle Beteiligten an einem Abend befragt werden. Weil die Kanzlerin das nicht mitgemacht hätte. Schön. Das wäre dann ja Zeichen genug gewesen. Beim Fünfkampf gibt es schon nach fünfzehn Minuten mehr Konfrontation und Inhalt als beim Duell der Kanzlerin und ihrem Herausforderer. Aber: Der Zeitdruck, den die Moderatoren haben, nervt. Und Alice Weidel auch.
Ansonsten sollte jemand Joachim Herrmann mal erzählen, dass es in der Bundespolitik nicht nur um Bayern geht.
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Ich bin Mitte dreißig, junge Mutter, selbstständig und digital. Und ich fühle mich von keinem der Kandidaten in irgendeiner Form angesprochen.
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Unabhängig vom Inhalt zeigt der Fünfkampf aber ein wesentlich höheres Rhetorikniveau und mehr Diversität im Inhalt als der Vorabend. Auch wenn ich mich frage, wer eigentlich diese „Halbnazis“ sind, die Sahra Wagenknecht erwähnt, und welchen ihrer Wohnsitze Alice Weidel meint, wenn sie von „zu uns kommen“ spricht.
Trotzdem: An beiden Abenden gibt es eine massive Konzentration auf Geflüchtete als „Problemthema“ anstatt mehr über Integration, Rettung von Menschenleben und Möglichkeiten des Zusammenlebens zu sprechen. Wie können wir die Menschen, die bei uns Schutz suchen, möglichst schnell wieder loswerden, fragen sich alle und Alice Weidel grinst dazu. In einem Land, in dem wesentlich mehr politisch motivierte Straftaten von Neonazis (keine halben) und anderen Rechten begangen werden und in dem seit vier Jahren der Prozess gegen den NSU läuft, wird Cem Özdemir von Herrmann gefragt, was er gegen die Rote Flora und die Hausbesetzerszene in Berlin tun möchte. An beiden Abenden sind Terror von rechts, rassistische Äußerungen und Rechtspopulismus in Deutschland kein Thema.
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Ich bin Mitte dreißig, junge Mutter, selbstständig und digital. Und ich fühle mich von keinem der Kandidaten in irgendeiner Form angesprochen. Ich lebe offensichtlich in einer völlig anderen Lebenswelt und Wahrnehmung als die Kandidaten. Aber ich möchte eines loswerden: Ich kann ziemlich gut moderieren. Besser als Strunz allemal. Und zur Not ziehe ich mir auch einen weißen Blazer an. Und dann will ich in vier Jahren dort stehen und all die wichtigen Fragen stellen – zu Bildung, Wirtschaft, Wohnraum, Gleichberechtigung und Lohngleichheit, Rechte für Alleinerziehende, LGBTI, Digitalisierung und Inklusion. Und zu all den anderen Themen, die so elegant unter den Tisch gefallen sind. Dann muss ich zumindest nicht mehr twittern, sondern kann den Kandidaten direkt ins Gesicht springen. Und wenn mir eines an diesem Abend so richtig egal sein wird, dann, ob irgendjemand vorher in der Kirche war.
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