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Was du mich anstatt „Woher kommst du?“ wirklich fragen solltest

Mein ganzes Leben lang hat mich die Frage begleitet, woher ich denn nun komme. „Aus einem Dorf in der Nähe von Stuttgart“ hat für mein Gegenüber als Antwort selten ausgereicht. Meine Haare sind zu kraus, die Lippen zu dick, das Diastema zu breit. Es wird viel spekuliert: Ich sähe aus, als käme ich aus Südafrika oder Brasilien, oder New York, haben sie gesagt. Die Aufmerksamkeit war mir sicher, schon immer. Ob ich sie wollte? Noch nie.
Ich bin hier geboren und spreche folglich fließend deutsch. Wenn gefragt wird „Woher kommst du?“, ist eigentlich immer gemeint: „Woher kommen deine Eltern?“ Mein Vater ist Nigerianer. Er kam Ende der 1970er Jahre nach Deutschland, um Maschinenbau und Elektrotechnik zu studieren und von den – aus seiner Sicht – Besten zu lernen. Zu dieser Zeit sorgte der Ölboom in Nigeria für den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes. Für viele gab es also keinen Grund das Land zu verlassen. Ganz im Gegenteil: Es kamen rund eine Million Ghanaer nach Nigeria, um am Wachstum teilzuhaben. Auch für meinen Vater war klar, dass er nur für die Dauer des Studiums in Deutschland bleibt. Anfang der 80er Jahre, nach seinem Abschluss und kurz vor der Abreise, hat er in Süddeutschland an einem Programm teilgenommen, das ihn auf die künftige Tätigkeit im Herkunftsland vorbereiten sollte. Der Kurs fand in einem Hotel statt, in dem meine Mutter arbeitete. Sie und mein Vater haben sich dort mindestens neun Monate vor meiner Geburt kennen gelernt. Die beiden hatten eine Affäre und ich war das Ergebnis.
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Meine Mutter wollte das Kind behalten. Mein Vater wollte schnellstmöglich ohne Anhang zurück nach Lagos. Beide haben ihre Interessen erfolgreich durchgesetzt. Jahre später hat er meine Mutter mal gefragt, ob sie mit ihm nach Nigeria gekommen wäre. Sie meinte: auf keinen Fall. Er erwiderte, er wäre auf keinen Fall in Deutschland geblieben. Die Möglichkeit einer Ikea-Katalog-Familie wurde von beiden nicht in Betracht gezogen. Wenn spezifischere Fragen zu meinem Vater kamen, habe ich meist wahrheitsgetreu geantwortet: „Ich bin ohne meinen Vater aufgewachsen und habe ihn nie gesehen“.
Foto: Lisa Bizenberger/Anna Baur
Meist wird die mir im Laufe der Zeit sehr lästig gewordene Unterhaltung in etwa so fortgeführt:„Wie, du hast deinen Vater noch nie gesehen? Hast du nicht das Bedürfnis ihn kennenzulernen?“. Lange Zeit habe ich geantwortet, dass ich jemanden, den ich nicht kenne, nicht vermissen kann. Für mich gab es keinen Grund am Status quo etwas zu ändern. Meine Mutter hat mich mit Liebe überschüttet und an männlichen Bezugspersonen hat es mir auch nie gefehlt.
In den letzten Jahren bin ich in immer größere, multikulturellere Städte gezogen und gereist. Die Fragen wurden spezifischer: „Was magst du lieber Fufu oder Yam“? „Ist dein Vater Yoruba oder Igbo?“ Ich wusste es nicht. Wenn jemand die Igbo-oder-Yoruba-Frage einwerfen kann, weiß er oder sie meist auch, wie wichtig für die Nigerianer die Zugehörigkeit zu ihrer Ethnie ist. Igbos und Yorubas haben unterschiedliche Kulturen und Sprachen. Stell dir vor, du kannst nicht beantworten, ob dein Vater aus Deutschland oder den Niederlanden kommt. Was für ein Fauxpas – wie soll man sich dann nur in Sachen Fußball positionieren?
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Unabhängig davon ob mein Verhältnis zu männlichen Bezugspersonen gut war. Ob das Unbewusste, das uns laut Freud leitet, dazu geführt hat, dass meine wichtigsten Beziehungen Männer waren – und es bis heute zu einem großen Teil sind –, die früh Vater wurden. Unabhängig von den Gedanken darüber, ob die Abwesenheit meines Vaters nun Auswirkungen auf meine Psyche und damit auf mein Leben hatte, fühlte ich, dass die Antwort „Ich weiß nicht, ob mein Vater Igbo oder Yoruba ist“ für mich nicht mehr ausreichte. Ich fühlte mich ignorant, stumpf, desinteressiert – wie jemand, der alle Asiaten Chinesen nennt.
Die Abneigung gegen meine eigene Ignoranz war nicht der einzige Grund, warum ich mich entschieden habe Anfang letzten Jahres meinen Vater in Nigeria zu besuchen. Da reihten sich noch einige, stetig wiederkehrende Gedanken mit ein:
1) Ich war nie der größte Fan davon Einzelkind zu sein und wusste, dass mein Vater in Nigeria noch eine Familie gegründet hat.
2) Mein Vater ist mittlerweile um die 70 Jahre alt. Er wird nicht ewig leben. Ich habe mich gefragt, ob ich damit klar kommen würde, ihn nie kennen zu lernen – und habe das Gedankenspiel verneint.
3) Wie viel von der Persönlichkeit meines Vater hat sich auf mich übertragen? Die Reise sollte als soziologischer Versuch dienen, um herauszufinden, ob Sozialisation oder Genetik mehr Einfluss auf die Charaktereigenschaften hat.
4) Der Vater-Tochter Film-Dialog zwischen Nicole Kidman und James Caan in Dogville. Die Passage über Arroganz? Mindblowing! Vielleicht hat mein Vater ähnlich interessante Kenntnisse in peto?
5) Das Wetter ist in Abuja – in dieser Stadt wohnt mein Vater mittlerweile – im Januar sehr viel besser als in Berlin.
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6) Meine generelle Abenteuerlust.
Foto: Anna Baur
Nach stundenlangem Warten in der nigerianischen Botschaft, einem 100 Euro leichteren Portemonnaie aufgrund der Visa-Kosten, einem achtstündigem Flug und darauf folgendem Gepäckverlust, war es soweit. Ich traf zum ersten Mal auf meine nigerianische Familie. Auf dem Kieselweg eines Parkplatzes am Rande des Flughafens von Abuja kam mein Vater mir entgegen. Ruhig, gelassen, mit strahlendem Gesicht. Feierlich gekleidet in edlem Kaftan und mit rotem Hut, der, wie er mir kurzer Zeit später stolz erzählte, bei den Igbo-Männern für Tradition und Autorität steht. (Aufmerksamen Leser*innen wird an dieser Stelle nicht entgangen sein, dass diese Information die Antwort auf die Yoruba-Igbo-Frage beinhaltet). Wir umarmten uns herzlich. Niemand hat geweint, geschrien oder ist zusammengebrochen. Kai Pflaume wäre enttäuscht gewesen. Meine 19-jährige Schwester Cynthia hat das im Vorfeld mit Pathos aufgeladene Szenario auf den Punkt gebracht: „Zum Glück bist du lustig, sonst hätte es echt peinlich werden können.“
In den nächsten Tagen fiel mir auf, dass in Abuja nicht nur meine Familie mit Diastemas beglückt wurde. Der Flughafenmitarbeiter an der Gepäckausgabe hatte eins. Die Frau an der Rezeption hatte eins. Alle drei Frauen auf dem Rücksitz beim Car-Sharing hatten eins. Der Popcornverkäufer im Kino hatte eins. Mein Diastema, das jeder deutsche Zahnarzt als sofort zu berichtigenden Störfaktor angesehen hatte, ist in Nigeria die Norm. Kein Schönheitsfehler, sondern ein Schönheitsideal, vererbt von meinem Vater. Und das ist nicht das einzige Merkmal, das uns verbindet. Ich konnte mithören, wie die Zwillingsschwester meines Vaters ihm lachend entgegen ruft, wie offensichtlich es wäre, dass ich seine Tochter sei. Mich irritierte die biologische Ähnlichkeit zu meinem Vater einerseits und die tiefgreifenden Unterschiede in unseren Gesprächen über Religion, Flüchtlingspolitik und Homosexualität andererseits. Ich saß wieder zwischen zwei Stühlen. Dieses Mal trennten mich die kulturellen Unterschiede davon, mich auf den Igbo-Stuhl zu setzen.
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Foto: Anna Baur
Ich bin nach Abuja geflogen, um meinen Vater und meine Geschwister kennenzulernen. Wir sahen uns sehr viel ähnlicher als meine deutsche Familie und ich. Mein Vater hat mir erzählt, dass in seiner Tradition die nationale Identität des Kindes von der Nationalität des Vaters abhänge, daher wäre ich eindeutig Nigerianerin. Ganz so einfach ist es für mich nicht. Kulturell scheinen Welten zwischen mir und meiner nigerianischen Familie zu liegen. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. In einer deutschen Familie. Der Familie meiner Mutter. Dennoch habe ich andere Haare. Ein anderes Gesicht. Einen anderen Po. Ich kann mich äußerlich nicht mit meinen deutschen Verwandten identifizieren. Aber ich wurde deutsch sozialisiert. Woher komme ich nun? Ich fühle mich weder deutsch noch nigerianisch. Ich kann sagen, dass meine Mutter aus Deutschland kommt und mein Vater ein stolzer Igbo-Mann ist. Aber was sagt das über mich aus?
Die Schriftstellerin Taiye Selasi sieht den Ursprung dieser Verwirrung in der Frage „Wo kommst du her?“ In ihrem TED Talk „Don't ask where I'm from, ask where I'm a local“ (2014), stellt sie zur Diskussion, ob die Frage umgewandelt werden soll:
What if we asked, instead of "Where are you from?" – "Where are you a local?" This would tell us so much more about who and how similar we are. Tell me you're from France, and I see what, a set of clichés? Adichie's Dangerous Single Story: the myth of the nation of France? Tell me you're a local of Fez and Paris, better yet, Goutte d'Or, and I see a set of experiences. Our experience is where we're from.
Foto: Lisa Bizenberger/Anna Baur
Ich kann ihre Argumentation sehr gut nach vollziehen und auch meine Antwort auf die Frage, woher ich komme, wird immer sein: „Aus einem Dorf in der Nähe von Stuttgart“. Wenn die Frage im Ausland gestellt wird, könnte die Antwort auch „Berlin“ lauten, da das die Stadt ist, in der ich momentan wohne. Ich möchte und muss nicht innerhalb eines Smalltalks meine Familiengeschichte und meine Identitätsfragen auf den Tisch legen. Wäre gut, wenn sich die Bilder in den Köpfen der Allgemeinheit langsam erweitern. Nicht alle Deutschen sehen aus wie einem Leni-Riefenstahl-Film entsprungen. Woher meine Eltern kommen, wo ich jetzt bin und wohin ich möchte, können wir dann gerne bei einem dritten oder vierten Treffen besprechen.

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