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Chemnitz: Dear White People

Foto: GettyImages/ Sean Gallup/ Staff
Sie waren immer da, sie waren nie weg.
Vor der Masse haben sie sich gut versteckt, denn rechts zu sein, das war nicht anständig. Nicht nach '45 und nicht nach 1990. Aber nur weil etwas unanständig ist, verschwindet es nicht einfach so. Und so waren sie die ganze Zeit da, in der Schule, bei der Polizei, im Supermarkt, an der Uni, im Stadtrat, im Bundestag, am Kiosk, nebenan. Sie wurden ausgeklammert, weggeblendet, weil man Unanständiges nicht nur nicht tut, sondern am besten gar nicht erst darüber redet. Denn wenn man etwas nicht ausspricht, es totschweigt, dann ist es quasi nie da gewesen. So mächtig ist Sprache.
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Es ist Dienstagnacht, drei Uhr. Ich liege wach in meinem Bett, die Wut in meinem Bauch lässt mich nicht schlafen und jagt mir Tränen in die Augen. Die letzten Bilder, die ich mir vor dem ins Bett gehen angeschaut habe, waren Bilder von Nazis in Chemnitz. Was für ein Glück ich habe, in dieser dreckigen, unfreundlichen, links-liberalen Hochburg namens Berlin zu leben. Ich hole mein Handy, stecke mir die Kopfhörer ins Ohr und spiele meine eigene kleine Anti-Rassismus-Playlist durch: Ärzte, Samy, Torch, Afrob, Megaloh & Denyo, Kraftklub, Ton Steine Scherben. Plakativ, ja, aber man braucht mir in Momenten der Angst nicht mit Sachlichkeit zu kommen.

Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen /
Kommt zusammen, Leute. Lernt euch kennen /
Du bist nicht besser als der neben dir /
Niemand hat das Recht, Menschen zu regier'n

Ton Steine Scherben, "Keine Macht für Niemand"
Wer nach den Geschehnissen in Chemnitz am vergangenen Wochenende nicht den Drang verspürt etwas zu tun, zu sagen, etwas zu verändern, hat den Schuss nicht gehört. Das gilt vor allem für jene, die sich vor der um sich greifenden Gewalt von rechts gefeit sehen. Es ist mir unklar, wie sich jemand ob der Tatsache, dass vor ein paar Tagen Menschen gejagt wurden, überhaupt noch gefeit sehen kann. Wie jemand immer noch denken kann Wenn es hart auf hart kommt, bin ich dabei! Ich frage mich immer wieder: Wann ist „hart auf hart“, wenn nicht jetzt?
Ich muss das noch mal wiederholen: Menschen. Wurden. Gejagt. Dabei ist nicht mehr nur die Nationalität der Gejagten egal, sondern auch alles andere. Es ist völlig egal, ob sie Schwerverbrecher sind oder sich illegal in diesem Land aufhalten. Wir leben in einem Rechtsstaat, verdammt noch mal, die Menschenwürde ist unantastbar und jeder Mensch, JEDER EINZELNE MENSCH in diesem Land, hat nicht nur das Recht auf einen fairen Prozess, sondern vor allem darauf sein Leben ohne Angst vor einer Jagd leben zu können. Das kann eigentlich nicht zu viel verlangt sein.
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Nur: Das ist es scheinbar. Und so habe ich auch zwei Tage später noch einen Klos im Hals, der gekommen ist, um zu bleiben. So fühlt sich das gerade an. Ich laufe herum und scanne Gesichter und Blicke auf Hass, sichtbare Tattoos auf rechte Motive. Weine beim Umsteigen von der einen Bahn in die nächste, weil ich weiß, dass ich beim Rolltreppenfahren mein Gesicht verdecken kann. Weil eine Person, die weiß, wo sie herkommt, nicht weinen muss, nur weil irgendwelche Idioten ihr vermitteln wollen, sie gehöre hier nicht her.
Nachdem mir neulich ein junger Mann im T-Shirt mit dem Aufdruck „Freiwild – Ich scheiße auf Gutmenschen“ gegenüber saß, triggern mich Aufdrucke. Entdecke ich aus der Ferne ein „Ö“, schaue ich noch genauer hin: Böhse Onkelz? Ah, nein, nur Motörhead, beruhige ich mich selbst. Wenn ich andere People of Color sehe, vor allem in den Öffentlichen, suche ich sofort Blickkontakt, ich lächle ihnen zu, signalisiere, dass sie nicht alleine sind – aber eben auch, dass ich nicht alleine sein will.

Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe

Die Ärzte, "Schrei nach Liebe"
Währenddessen sind sich die radikalen Rechten, die am Wochenende in Chemnitz zusammenkamen und Menschen jagten, und die auch heute Abend und am kommenden Samstag wieder zusammenkommen, keinerlei Schuld bewusst. Nur leider hätte das auch wirklich niemand von ihnen erwartet. Von denen hingegen, die eigentlich meinen, es mittlerweile besser zu wissen als ihre Großeltern vor 75 Jahren, gerade von denen hätten ich und alle anderen Personen of Color in diesem Land erwartet, Stellung zu beziehen, Haltung zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. „Jetzt können wir endlich rausfinden, was wir anstelle unserer Großeltern getan hätten“, schreibt Twitter-User*in KleinesScheusal. Doch auch das scheint noch immer zu viel verlangt zu sein. Denn als ich am Dienstagmorgen eine E-Mail an sechs Freunde rausschicke, um sie aufzufordern mit mir zur Demo zu gehen, um gemeinsam ein Zeichen zu setzen, reagiert niemand. Als nächstes frage ich eine Freundin, die von sich behauptet, besonders gerne und häufig auf Demos zu gehen: „Ich bin seit einem Monat verabredet für morgen Abend, sonst immer gerne, sorry!“, lautet ihre Antwort.
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Ich bin Politikverdrossenheit gewohnt, aber irgendwie schmerzt es diesmal ganz besonders, dass so viele Menschen die Dringlichkeit der Situation nicht wahrnehmen. Schlimm genug, dass die Polizei scheinbar nicht dazu im Stande ist, ihren Job richtig zu tun, ob nun in Dresden oder in Chemnitz. Noch dazu die Politik, deren oberste Vertreterin, Bundeskanzlerin Merkel, immer wieder darauf pocht, dass Hetzjagden und rassistisches Handeln im Rechtsstaat keinen Platz hätten – wenn der Platz aber doch de facto da ist, weil zugelassen wird, dass es passiert. In den Medien wird wild getitelt. Wieder und wieder wird geschrieben, die Opfer der Jagd seien „Migranten“, pauschal und vereinfacht, und das, wo der Umgang mit Sprache und die differenzierte Vermittlung von Information doch der Job ebendieser Presse ist.
Wer sich selbst zu der Gruppe zählt, die, „wenn es hart auf hart kommt“, zur Zielscheibe des rechten Mobs wird, ist dieser Tage leicht reizbar. Im Freundeskreis, im Büro, in den Medien, von der Politik wird einem gesagt, man solle nicht überreagieren, Ruhe bewahren. Es wird eine Sache gesagt und das Gegenteil getan: Die Jagd auf Menschen sei nicht vereinbar mit unserem Rechtsstaat, wird versichert, aber wenn Menschen in Deutschland gejagt werden und nichts dagegen unternommen wird, dann sind die beiden Dinge ganz offensichtlich doch miteinander vereinbar. Der Verfassungsschutz soll, Überraschung, die Verfassung schützen, also dafür sorgen, dass alles dem Grundgesetz entsprechend abläuft – der NSU-Prozess hat gezeigt, er tut das nicht. Im Geschichtsunterricht lernt man, dass sich die 1930er niemals mehr wiederholen dürfen, dass wir aus den Fehlern unserer Großeltern gelernt hätten – werden wir jedoch mit einer Situation konfrontiert, die genau dieses Andershandeln einfordert, handeln plötzlich erstaunlich wenige überhaupt noch. Es wird eine Sache gesagt und das Gegenteil getan, als würde man Betroffene solange für dumm verkaufen wollen, bis sie irgendwann selbst glauben, dass es ihre eigene Wahrnehmung ist, die zurechtgerückt gehört. Man nennt diese Strategie auch politisches Gaslighting.
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Die Folgen von falschem, weil ignorantem oder fremdbeschreibendem, und pauschalisierendem Sprachgebrauch sind verheerend, weil sich Sprachmuster in den Köpfen der Menschen manifestieren, aber nicht unmittelbar sichtbar werden. Wird von vermeintlichen Migranten gesprochen, so wird sich auf vermeintlich nicht-deutsch Aussehende bezogen. Als vermeintlich nicht-deutsch Aussehende gelten noch immer Menschen mit braunem Haar, braunen Augen, brauner Haut in allen Nuancen. Menschen wie ich. Menschen wie mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, mein zwei Jahre alter Neffe. Dabei sind diese Menschen so häufig schon längst deutsch. Sie sind hier geboren, hier aufgewachsen, vielleicht sind sie aber auch erst mit 16 oder mit 44 hierher gekommen, das ist eigentlich ganz egal. Fakt ist: Man kann anhand des Aussehens nicht entscheiden, wer deutsch ist und wer nicht. Ich erwarte von Rechten und Nazis, dass sie mein Dasein in diesem Land und das aller anderen Menschen, die nicht blond und blauäugig sind, als eine nicht zu verhandelnde Tatsache annehmen. Aber wie soll ich das von ihnen erwarten, wenn selbst die Polizei es nicht tut? Wenn etablierte Medien wie die Süddeutsche Zeitung noch den Begriff „Migranten“ in ihrer Berichterstattung nutzen?

Ich kann nichts dafür, doch die meisten begreifen nicht /
Dass es nicht meine Schuld ist, wenn mein Leben scheiße ist /
Sondern eigentlich das System, Politik und Hartz-IV /
Egal woran es liegt, es liegt nicht an mir

Kraftklub, "Karl-Marx-Stadt"
Sprache ist mächtig, das werde ich weder der SZ-Chefredaktion noch Julian Reichelt erzählen müssen. Aber ich kann an dieser Stelle ein paar Tipps für den alltäglichen Sprachgebrauch weitergeben an vermeintlich deutsch Aussehende, die sich jetzt fragen, was sie tun sollen:
1.
Frage eine Peron, die vermeintlich nicht deutsch aussieht, nicht nach ihrer Herkunft, bevor ihr nicht über eure Hobbys, Lieblingsfilme, -musik, -serien, Familien und Traumreiseziele gesprochen habt. Warum? Weil die Frage das Anderssein deines Gegenübers bestätigt. Mit der Frage gehörst du nicht automatisch zu den Nazis in Chemnitz. Aber du bestätigst, dass dein Gegenüber nicht zur deutschen Norm gehört. Du bestätigst, dass diesem Menschen immer wieder die Chance genommen wird, als Deutsche*r wahrgenommen zu werden. Du akzeptierst mit deiner Frage, dass Menschen mit diesem Aussehen immer wieder auffallen und als angreifbar gesehen werden, auch wenn du sie selbst nicht angreifst. Du legitimierst damit, dass Medien in ihrer Berichterstattung immer wieder „Migrant*in“ sagen dürfen und die in Chemnitz Gejagten durch diese Fremdbeschreibung als Andere, als Nicht-Deutsche akzeptiert werden. Denn wären Deutsche, sprich: Weiße gejagt worden, wäre das Gefühl der Betroffenheit in der breiten Bevölkerung gleich ein ganz anderes.
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2.
Sprich einer Person of Color ihre Erfahrungen nicht ab, wenn sie sich dir anvertraut, und relativiere sie nicht. So wie du deiner besten Freundin oder deinem besten Freund glaubst, wenn er oder sie dir von einer Situation erzählt, in der ihm*ihr Unrecht getan wurde, so glaube auch der Person of Color, die dir von Alltagsrassismus, traumatischen Erfahrungen in der Kindheit oder Racial Profiling erzählt. Widerstehe dem Impuls, das eine Mal, als dein Koffer am Flughafen auf Drogen untersucht oder du zur Zollkontrolle gebeten wurdest, mit dem anhaltenden Gefühl von Andersartigkeit gleichzustellen.
3.
Suche dir gezielt Kontakte zu Personen, die anders aussehen oder eine andere Realität leben als du und sprich mit ihnen, um deinen Horizont zu erweitern. Es mag sein, dass dir die Möglichkeit nicht unmittelbar gegeben ist, weil sich in deinem Umfeld keine sonderlich große Vielfalt wiederfindet. Aber es gibt Social Media. Folge Personen, die anders sind als du, mit denen du aber womöglich eine Leidenschaft teilst, schreibe ihnen, lerne sie kennen. Baue Freundschaften und fange Gespräche mit ihnen an, höre ihnen zu. Du wirst merken, dass sich dein Bild verändert, wenn du einen persönlichen Bezug zu Menschen hast, die tagtäglich von Diskriminierung betroffen sind.
Hört sich nach viel Arbeit an? Ist es auch. Aber diese Arbeit tun Personen of Color in Deutschland jeden Tag, und zwar ein Leben lang. Es ist Zeit, dass du ihnen etwas Arbeit abnimmst, dass du den Anspruch an dich selbst stellst, ein besseres, friedlicheres, sicheres Miteinander zu schaffen. Wenn große Organe wie Politik und Medien versagen, dann liegt es an Menschen wie dir, die ihr Herz am rechten Fleck meinen, etwas gegen den Rassismus zu tun, der gerade an der Tür klopft. Denn auch wenn du nie einem Nazi begegnet bist: Sie waren immer da und sie waren nie weg.

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