Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es unter anderem um sexuelle Gewalt.
Mit Anfang 20 entdeckte ich die Rolle der „anderen Frau“ für mich. Obwohl ich nie explizit auf der Suche nach vergebenen Männern war, ließ ich sie doch nie abblitzen, sobald ich von ihrem Beziehungsstatus erfuhr. Sie schienen mich einfach irgendwie zu finden – und ich muss gestehen, dass mich das „Verbotene“ in der Liebe schon immer besonders gereizt hat.
Nachdem es ein paar Mal passiert war – zuerst mit einem Koch bei meinem Job in einer Cocktailbar, und dann mit einem Typen, der aus New York zu Besuch war –, stand meine Meinung dazu fest: Ich hatte nicht das Gefühl, für die Beziehung anderer verantwortlich zu sein und sie beschützen oder berücksichtigen zu müssen. Wie sich die Leute außerhalb ihrer Beziehung verhielten, war ihr Ding.
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Es fühlte sich gut an, jemandem eine solche „Flucht“ zu bieten. Es faszinierte mich, wie Leute funktionieren – insbesondere in Sachen Liebe. Damals hinterfragte ich außerdem meine Ansichten zu Monogamie und Sexualität. Generell war mein ganzes Leben ein großes Fragezeichen.
„Es gibt nicht die eine Erklärung dafür, warum sich jemand an der Untreue einer anderen Person beteiligt“, meint die Psychotherapeutin Amber Rules. „Vielleicht hattest du das Gefühl, eine solche ‚Beziehung‘ könnte dir etwas geben – womöglich ein Machtgefühl, das dir in anderen Lebensbereichen fehlte. Vielleicht reizte dich daran auch am meisten der Nervenkitzel, erwischt werden zu können oder eben einfach etwas zu tun, was du nicht tun solltest. Gleichzeitig ist es auch ziemlich normal, gegen Vorstellungen und Überzeugungen unserer Gesellschaft zu rebellieren, um unseren Platz in dieser Kultur zu verstehen.“
Ambers Worte trafen bei mir einen Nerv. Mit Anfang 20 hatte ich das Gefühl, mit meinem Verhalten nicht nur gegen das zu rebellieren, was mir die Gesellschaft eingeredet hatte, sondern auch gegen all das, was ich bis dahin selbst erlebt hatte – als Frau, und in der Liebe.
Meine Vorstellungen rund um Liebe, Sex und Romantik wurden schon sehr früh zerstört. Mein erstes Liebesgeständnis bekam ich via MSN, und obwohl das zwar nicht sonderlich romantisch war, störte mich das nicht. Was mich aber sehr wohl störte, war, dass der Typ auch einem Mädchen von einer anderen Schule seine Liebe gestand – am Tag nach seinem Chat mit mir. Als wir uns zum ersten Mal küssten, boxte er mir danach in die Brüste, weil er sagte, sie sähen aus wie „Boxsäcke“, und es gefiele ihm.
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Ich weiß noch, dass ich danach nach Hause rannte und mich auf dem Boden meines Zimmers ausheulte, weil meine Brüste so wehtaten und ich ihm geglaubt hatte, als er mir seine Liebe gestanden hatte. Ich kam mir vor wie eine Idiotin und hatte das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Gleichzeitig wusste ich, dass mein Wunsch nach Liebe so stark war, dass ich mich trotz allem nochmal mit ihm treffen würde, falls er mir schrieb – denn was, wenn er der einzige Junge war, der mich je lieben würde?
Als junge Frauen wird uns beigebracht, dass unser Wert davon bestimmt wird, von einem Mann geliebt und als schön erachtet zu werden. Alle coolen Mädchen in der Schule wurden von irgendwelchen Jungs geliebt, und ich wollte auch dazugehören.
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Dass die Männer mit jemand anderem zusammen waren, nahm mir viel Druck.
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Mein erstes Mal Sex hatte mit Liebe allerdings nichts zu tun. Der Freund meiner Freundin hatte mir bei einer Party irgendwas in den Drink geschüttet, mich dann in ein Schlafzimmer geführt und die Tür hinter uns geschlossen. Niemand glaubte mir, als ich danach davon erzählte, und meine Freundin sprach eine ganze Weile lang kein Wort mehr mit mir. Die beiden blieben weiter zusammen, und ich wollte jahrelang von niemandem berührt werden, ohne zu verstehen, wieso. Ich konnte nicht fassen, dass mir jemand einfach sowas hatte antun können, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, und dass er sein Leben danach einfach wie gehabt weiterführen konnte. Das machte mich unterbewusst zur Zynikerin und sorgte dafür, dass ich verinnerlichte: Männer haben die Kontrolle, und Frauen müssen das Beste aus dem machen, was sie bekommen.
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Selbst als ich mich dann zum ersten Mal wirklich verliebte und mit meinem ersten Freund einvernehmlichen Sex hatte, stellte sich danach heraus, dass er gleichzeitig noch in eine andere verliebt war, für die er mich schließlich verließ.
Als ich dann ein paar Jahre später umzog und immer mal wieder was mit vergebenen Männern anfing, hatte meine „Rebellion“ demnach gute Gründe. Ich hatte es satt, auf eine respektvolle Lovestory zu warten. Ich hatte es satt, so verwirrt zu sein. Ich hatte es satt, mich von den Einschränkungen der Liebe, Romantik, Monogamie und der Suche nach „dem Richtigen“ zurückhalten zu lassen, denn all das schien für mich nicht zu funktionieren. Ich wollte mich stark fühlen – in einer Welt, die kein Problem damit zu haben schien, mir immer wieder mein weiches, hoffnungsvolles Herz zu brechen.
„Im Zusammenhang mit traditionellen Beziehungen und unseren heteronormativen Erwartungen gibt es so vieles, was wir erstmal verstehen müssen“, erklärt Amber. „Vor allem als junge Erwachsene lernen insbesondere durch eigene Erfahrungen dazu.“
Es gab mir ein Gefühl von Macht, mit vergebenen Männern zu schlafen. Ich ließ mich aber nie darauf ein, wenn ich etwas für sie empfand, und wusste auch, dass ich in diesen Situationen eigentlich nur die Kontrolle über mich selbst hatte. Ich wollte nie wieder Gefühle für jemanden entwickeln, der es nicht ernst mit mir meinte. Ich wollte mich nicht um eine Beziehung bemühen und mich verletzlich machen, nur um dann ausgenutzt zu werden.
Rückblickend denke ich, dass mich diese „Beziehungen“ genau deswegen so reizten. Dass die Männer mit jemand anderem zusammen waren, nahm mir viel Druck. Ich konnte rumexperimentieren, beim Sex ganz offen sein, sehr ehrliche Gespräche führen und die Männer ein bisschen besser verstehen.
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Was ich daraus lernte, war unheimlich wertvoll.
Im Laufe dieser Beziehungen wurde mir klar, dass die meisten Männer mit niemandem über ihre Gefühle sprechen – außer mit ihren romantischen oder sexuellen Partner:innen. Im Gegensatz zu uns Frauen, die oft intimere Freundschaften und engere Beziehungen zu ihren weiblichen Verwandten führen und generell lernen, über komplexe Emotionen zu sprechen, haben Männer dazu nur selten die Gelegenheit. Den meisten wurde nie beigebracht, darüber zu sprechen, was sie empfinden – weder mit anderen Männern noch sonst jemandem. Außer eben mit ihren romantischen Partnerinnen.
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Ich verbrachte tatsächlich viel mehr Zeit damit, mit den Männern auf der Couch zu liegen, mir ihre Sorgen anzuhören, ihre Tränen wegzuwischen und ihnen Ratschläge zu geben, als mit aufregendem Sex.
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„Frauen haben häufig engere Freundschaften und emotionalere Bindungen als Männer. Männer erlauben sich so etwas seltener“, meint Amber. „Deswegen ist es kein Wunder, dass Männer innerhalb von Intimität und Sex nach emotionalem Support suchen. Das ist der einzige Raum, der sie dazu zwingt, sich auch mal zu öffnen. Bei meiner Arbeit ist mir aufgefallen, dass Frauen oft daran interessiert sind, sich selbst besser zu verstehen und zu besseren Menschen zu werden. Bei Männern beobachte ich das seltener. Sie haben mehr Angst davor, sich selbst kennenzulernen.“
2021 untersuchte Dr. Alicia Walker von der Missouri State University zusammen mit Ashley Madison, einem Dating-Portal für außereheliche Beziehungen, das Seitensprungverhalten von Männern und Frauen. Die Untersuchung ergab, dass sich Männer von ihrer Untreue vor allem emotionale Bestätigung erhoffen, während es Frauen eher um sexuelle Befriedigung geht.
Das passt zu meiner eigenen Erfahrung. Ich fühlte mich zu vergebenen Männern sexuell hingezogen und stellte fest, dass sie oft leidenschaftliche Liebhaber waren – aber ihnen schien es dabei eher um die Gefühle zu gehen. Ja, sie wollten zwar auch Neues mit mir ausprobieren, sexuelle Fantasien ausleben und gesellschaftliche Grenzen austesten, aber auch komplexe Gefühle mit mir besprechen. Sie wollten gehört und verstanden werden.
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„Wir sollten niemals unterschätzen, wie mächtig es ist, Aufmerksamkeit zu bekommen und wirklich gehört zu werden“, meint Amber.
Oft weinten die Männer sogar. Sie erzählten mir ganz ehrlich Dinge, die sie anderen verheimlichten. Ich verbrachte tatsächlich viel mehr Zeit damit, mit den Männern auf der Couch zu liegen, mir ihre Sorgen anzuhören, ihre Tränen wegzuwischen und ihnen Ratschläge zu geben, als mit aufregendem Sex.
Anfangs gefiel mir das sehr gut. Es überraschte mich, die Männer von dieser verletzlichen Seite zu sehen, weil sie mir vorher immer verborgen geblieben war. Sie wirkten sensibel und unsicher – und damit konnte ich mich gut identifizieren. Es war irgendwie erfrischend zu erkennen, dass sie letztlich auch nur Menschen waren. Gleichzeitig fand ich es aber auch ein bisschen traurig, dass sie sich nicht wohl damit fühlten, diese Seite von sich auch öffentlich zu zeigen.
Mit der Zeit störte mich diese Unehrlichkeit aber. Sie kam mir feige vor.
Ein Mann, mit dem ich ein paar Monate etwas hatte, war mit jemand anderem verlobt. Er sagte mir, er wolle sie verlassen und stattdessen mit mir zusammen sein; ich machte ihm daraufhin deutlich, er sollte vermutlich erstmal ein bisschen Zeit allein verbringen, um sich selbst besser kennenzulernen und sich darüber klar zu werden, was ihm wirklich wichtig war. Ich sagte ihm außerdem, ich würde mich nie auf eine Beziehung mit jemandem einlassen, der mir gegenüber nicht ehrlich sein konnte.
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Ich erkannte plötzlich, dass ich diesen Männern ermöglichte, sich davor zu drücken, sich innerhalb ihrer Beziehung mit ihren eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen.
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Daraufhin meinte er, es würde seine Verlobte verletzen, wenn er ehrlich zu ihr wäre, und das wollte er nicht. „Also bist du lieber unglücklich und sagst gar nichts?“, fragte ich ihn. „Ja“, antwortete er. „Es ist leichter so.“
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In diesem Moment wurde mir klar, wie wenig er sich selbst und seine Beziehung eigentlich respektierte. Das törnte mich sofort ab, und ich erkannte plötzlich, dass ich diesen Männern ermöglichte, sich davor zu drücken, sich innerhalb ihrer Beziehung mit ihren eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Dabei verdienten die Frauen ja eigentlich ehrliche Beziehungen – und die Männer verdienten es, ihre Emotionen innerhalb dieser Beziehungen auch kommunizieren zu können.
Es war nicht so, als ob ich die Männer für ihr Verhalten verurteilte. Ich konnte es ja verstehen; manchmal kann es durchaus helfen, die eigene Alltagsroutine und den engsten sozialen Kreis zu verlassen, um dir über etwas klarzuwerden, was dir in deinem Leben fehlt oder dich bedrückt. Dabei sollten wir aber ehrlich mit unserem Umfeld umgehen – sowohl uns selbst, als auch ihnen zuliebe.
Heute bin ich 27 Jahre alt und hatte neben meinen Seitensprungerfahrungen auch eine monogame Langzeitbeziehung, die leider in die Brüche ging. Aktuell date ich wieder, und mir fällt auf, dass sich in mir einiges verändert hat.
Auf Dating-Situationen, die mich sonst gereizt hätten – wie Affären mit Männern, die bereits vergeben oder emotional total distanziert sind –, stehe ich jetzt einfach nicht mehr. Mit Anfang 20 hätte ich mich sofort auf den Typen eingelassen, der zwar nicht auf meine Nachrichten antwortet, mir aber bei jeder Begegnung vielsagende Blicke zuwirft. Heute habe ich aber keine Lust mehr auf Männer, die sich keine Mühe geben.
„Wir sind erst mit rund 26 Jahren vollentwickelt“, erklärt Amber. „Bis dahin ist es normal, solche ‚Komplikationen‘ zu romantisieren. Das jugendliche Gehirn – das wir effektiv haben, bis wir 26 sind – will vorrangig lernen und Aufregendes erleben. Wir lernen anhand unserer Erfahrungen dazu. Diese Veränderung dahingehend, was du attraktiv findest, zeugt von deinem persönlichen Wachstum. Es weist darauf hin, dass du deinen Selbstwert heute eher von dir selbst als von anderen abhängig machst.“
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Beziehst du dein Selbstwertgefühl von außen, verlässt du dich dazu auf die Wertschätzung von anderen und triffst deine Entscheidungen aufgrund dessen, was andere von dir halten. Diese Form von Selbstwert kann sich sehr gut anfühlen, hat aber nur eine kurze Haltbarkeit. Sie wird nämlich schnell langweilig und muss andauernd „aufgefüllt“ werden.
„Ich schätze, dass du mit zunehmendem Alter besser darin geworden bist, dich selbst schätzen zu lernen. Eine komplizierte Affäre reizt dich nicht mehr so wie früher, weil du ihre Nuancen heute besser verstehst. Das heißt, dass du aus dieser Erfahrung nicht mehr viel lernen kannst – und sie dir somit nichts mehr bringt.“
Amber zufolge neigen wir dazu, Rollen abzulehnen, die wir vorher schon mal eingenommen haben und uns nicht gefielen. Wenn du zum Beispiel jemandem in der Vergangenheit mit Mitgefühl, Geduld und Neugier durch eine schwierige Beziehungssituation geholfen hast, vermeidest du diese Rolle womöglich in der Zukunft, wenn du dich darin nicht ganz wohl fühltest. „Du weißt, was dich in dieser Rolle erwartet. Vielleicht beschließt du daher, dir nicht mehr die Probleme von anderen aufzuhalsen und ihnen dabei zu helfen“, meint Amber.
Und sie hat Recht: Ich will nicht mehr jemandes „Krücke“ sein. Das finde ich weder sexy noch schmeichelhaft, sondern sogar eher abtörnend.
Mir war nie klarer als jetzt, was ich mir von einer Beziehung erhoffe. Ich wünsche mir ein Teammitglied, jemanden, der mich unterstützt und mir hilft, meine Träume in die Realität umzusetzen – und dem ich wiederum ebenso helfen kann. Ich will mit niemandem konkurrieren, sondern mit meinem Partner zusammenarbeiten. Ich möchte mich geliebt fühlen. Ich will unabhängig von meinem Partner, aber doch mit ihm zusammen wachsen. Ich will, dass sich jemand um mich bemüht. Ich will jemandes erste Wahl sein.
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Gleichzeitig finde ich es auch total okay, allein zu sein, bis ich diesen Menschen treffe. Ich glaube, zum allerersten Mal komme ich absolut damit klar, komplett Single zu sein. Meine Vorstellung von Erfolg und Selbstwert hat für mich nichts mehr damit zu tun, von jemandem geliebt zu werden.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Punkt auch erreicht hätte, wenn ich nicht mit vergebenen Männern zusammen gewesen wäre. Sie haben mich wertvolle Lektionen darin gelehrt, inwiefern sich Männer und Frauen in Beziehungen, im Leben und in Gefühlen unterscheiden. Und sie haben mich viel über mich selbst und meine Werte erkennen lassen.
Ich will damit nicht sagen, dass Untreue für uns alle eine wertvolle Erfahrung sein könnte. Mir ist klar, dass das Thema immer noch unheimlich kontrovers ist – zurecht, geht es dabei doch schließlich um Unehrlichkeit. Trotzdem finde ich es eben auch sehr wichtig, darüber zu sprechen.
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