Nina und Alicia* waren acht Jahre lang beste Freundinnen. Sie hatten einen Großteil ihrer Teenager-Jahre zusammen verbracht und gemeinsam alles Mögliche durchgemacht – von Familiendramen bis hin zu Trennung –, und betrachteten sich irgendwann als Schwestern. Vor ein paar Jahren änderte sich das allerdings, als die heute 28-jährige Nina nach Treffen mit Alicia immer ein unwohles Gefühl hatte. „Jedes Mal, wenn wir uns trafen, dachte ich mir danach: Das war jetzt gar nicht so schön“, erinnert sich Nina. „Ich fühlte mich dabei nicht wie ich selbst, und ich fühlte mich auch nicht von ihr verstanden. Es war einfach alles irgendwie krampfig.“
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Nina kam zu dem Schluss, dass sich ihre Leben wohl in verschiedene Richtungen entwickelt hatten. Alicia verbrachte viel Zeit in Clubs und auf Dates. Nina hingegen war (und ist) in einer Langzeitbeziehung und konzentrierte sich mit Mitte 20 auf ihren Job und ihre Familienplanung. „Es war mir einfach nicht mehr so wichtig, oft feiern zu gehen und denselben Lifestyle zu führen wie in meinen späten 10ern und frühen 20ern“, erzählt Nina. „Ich hatte eine ganz neue Lebensphase angefangen, und ich glaube, dass viele Leute in meinem Leben – wie Alicia – aber noch in meiner vorherigen Phase waren.“
Für Nina und Alicia wurde es daraufhin immer schwieriger, Gemeinsamkeiten zu finden. Das erschwerte auch die Suche nach guten Gesprächsthemen. „Es ist ein komisches Gefühl, wenn du glaubst, einer Freundschaft entwachsen zu sein“, sagt Nina. „Wir haben nicht mehr dieselbe Bindung wie früher, weil sie entweder etwas durchmacht, das ich nicht nachvollziehen kann, oder andersrum.“ Irgendwann sprach Nina Alicia darauf auch an und erzählte ihr von ihrem Eindruck, sie würden sich in ganz anderen Lebensabschnitten befinden. Daraufhin ging die Freundschaft, die schon seit etwa einem Jahr immer schwächer geworden war, in die Brüche.
Ninas Erfahrung damit, eine Freundschaft irgendwie „abzuhängen“, ist tatsächlich etwas ganz Normales. Laut einer Studie von 2015 ist unser Freundeskreis mit etwa 25 Jahren so groß wie nie; je mehr Verantwortungen wir dann aber übernehmen müssen, desto schneller schrumpft er wieder zusammen. Frauen verlieren zu dieser Zeit tendenziell mehr Freundschaften als Männer. Die Wissenschaft erklärt sich das damit, dass sich Frauen in diesem Alter eher als Männer auf ihre romantischen Beziehungen und die Partner:innensuche konzentrieren.
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Laut Anna Goldfarb, Autorin von Modern Friendship: How to Nurture Our Most Valued Connections, ist die Vorstellung, mit Ende 20 immer mehr Freundschaften zu verlieren, zwar vielleicht „angsteinflößend“, ergibt aber durchaus Sinn. „Wir leben in einer höchst veränderlichen Gesellschaft“, erklärt sie. „Wir ziehen häufiger um als früher, bleiben nicht mehr so lange im selben Job, haben ein größeres soziales Netzwerk, und es ist leichter, sich zwischen diesen Netzwerken zu bewegen.“ Die Konsequenz, meint Goldfarb: „Wir haben die unbegrenzte Freiheit, Menschen zu finden, die sich genau für das interessieren, was auch uns gerade interessiert. Das sorgt aber eben dafür, dass wir womöglich keine wirklich langlebigen Freundschaften knüpfen.“
Es ist außerdem wahrscheinlich, dass sich im Laufe unseres Lebens unsere Werte verändern oder verfestigen und nicht mehr denen unserer Freund:innen entsprechen. Für die 25-jährige Simi waren es die Black-Lives-Matter-Proteste von 2020, die sie erkennen ließen, dass sie sich in ihren Schulfreundschaften nicht mehr wohl fühlte. „Ich bin in einer vorrangig weißen Stadt aufgewachsen“, erzählt sie. „Ich war also nur eine von zwei oder drei schwarzen Schüler:innen an der ganzen Schule.“ Und obwohl Simi nach der Tötung von George Floyd online postete, wie sehr sie diese Nachricht schockiert hatte, meldete sich damals niemand aus ihrem Schulfreundeskreis bei ihr, um einfach mal zu fragen, wie es ihr ging.
„Mir wurde klar, dass wir die Welt mit ganz anderen Augen sehen“, sagt Simi. „Ich wünschte mir aber Freund:innen, die solche Ungerechtigkeiten genauso sehen wie ich. Das war mir allerdings vorher nie so wichtig gewesen, bis ich älter war.“ Letztlich führte es dazu, dass sie den Kontakt zu ihren Schulfreundschaften verlor.
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Die Therapeutin und Autorin Suzanne Degges-White erklärt, dass es schwer sein kann, eine Freundschaft aufrechtzuerhalten, wenn sich unsere Überzeugungen und Identitäten dauernd verändern. „Wir sind keine statischen Wesen“, sagt sie. „Die Person, die ich heute bin, hat zwar noch dieselben Grundbedürfnisse wie vor fünf Jahren. Damals hatte ich aber vielleicht andere Interessen, oder habe meine Freund:innen und deren Verhaltensweisen anders toleriert. Wenn meine Freundschaft zu jemandem also nicht dynamisch ist und mir keinen Freiraum zum Wachstum lässt, ist diese Beziehung womöglich zu zerbrechlich, um wirklich zu halten – und zerbricht dann irgendwann daran.“
Auch die 25-jährige Angeli Ragasa bemerkte mit der Zeit, dass ihre Kindheitsfreund:innen nicht mehr ihre Werte teilten. So richtig klar wurde ihr die Distanz zwischen ihnen, als eine Freundin ihre erste ernste Beziehung begann. „Ihr Freund brachte nicht die beste Seite in ihr zum Vorschein. Ich hatte das Gefühl, dass sie mit ihm einfach nicht sie selbst war“, erzählt sie. Noch dazu schien Angelis Freundin ihren neuen Partner über alles andere zu stellen – inklusive ihrer Freundschaften. Das störte Angeli. Sie hatte nicht mehr den Eindruck, sich auf ihre Freundin verlassen zu können, weil diese so tief in ihrer Beziehung abgetaucht war.
Obwohl Angelis Freundin inzwischen nicht mehr mit ihrem damaligen Partner zusammen ist, zeigte Angeli diese Beziehung doch, dass sie und ihre Freundin sehr verschiedene Menschen waren, und in sehr verschiedenen Lebensphasen steckten. „Nach dem Schulabschluss hast du ein stärkeres Gefühl dafür, wer du bist“, meint sie. „Ich glaube, das ist ein Grund dafür, wieso du einer Freundschaft entwächst. Dir wird einfach klar: Hey, du bist nicht mehr derselbe Mensch wie damals.“
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Laut Goldfarb sollten wir es aber nicht zwangsläufig als etwas Negatives betrachten, im Laufe unseres Lebens auch mal Freundschaften zu verlieren. „Studien haben belegt, dass Frauen für ihre maximale Lebenszufriedenheit nur drei bis fünf Freundschaften brauchen“, sagt sie. „Wenn du dich also an all deinen lockereren, älteren Verbindungen festklammerst, obwohl dich diese Leute heute gar nicht mehr wirklich kennen oder dein Leben und deine Herausforderungen verstehen, werden dir diese Freundschaften nicht mehr so viel geben wie früher.“
Auch Nina betrachtet es inzwischen als etwas Positives, Freundschaften hinter sich zu lassen. „Es ist ein sehr befreiendes Gefühl, mein eigenes, wahres Ich entdeckt zu haben und mich den Menschen zu öffnen, mit denen ich mich wirklich gut fühle“, sagt sie. Das machte die Entscheidung, sich von ihrer ehemals besten Freundin zu lösen, aber kein bisschen leichter. „Es fühlt sich wirklich an wie eine schlimme Trennung“, meint Nina. Auch Simi vergleicht das Ganze mit der Trennung von einem Partner bzw. einer Partnerin. „Jedes Freundschaftsende war schmerzhaft“, sagt sie. „Ich habe mit diesen Menschen viele Erinnerungen verbunden. Diese Erinnerungen sind dann negativ behaftet – genau wie mit einem oder einer Ex. Du musst dich also echt darum bemühen, dir diese Erinnerungen zu bewahren und positiv darauf zurückzuschauen. Das fiel mir sehr schwer.“
Weil neuere Studien belegt haben, dass die Gen Z Freundschaften mehr Wert beimisst als romantischen Beziehungen, ist es kaum überraschend, dass das Ende einer Freundschaft genauso – wenn nicht sogar mehr – wehtun kann wie eine zerbrochene Beziehung. Was das Ganze noch schwieriger macht, ist, dass wir nicht immer wissen, wie wir das Thema der wachsenden Distanz gegenüber unseren Freund:innen ansprechen sollen. „Vielleicht führst du sehr tiefe Gespräche mit deinen Freund:innen – aber vermutlich eher weniger darüber, dass du die Freundschaft hinterfragst“, sagt Nina. „Mit einem Partner bzw. einer Partnerin würdest du vermutlich eher über solche Probleme innerhalb eurer Beziehung sprechen, weil das jemand ist, mit dem oder der du den Rest deines Lebens verbringen willst.“
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Goldfarb sieht das ähnlich: „Wir sind nicht darauf sozialisiert, solche Gespräche mit Freund:innen zu führen und um unsere Freundschaften zu kämpfen“, sagt sie. „Wir haben dazu nicht die richtige Sprache.“ Das ist allerdings wenig verwunderlich – immerhin leben wir in einer Gesellschaft, in der romantischen Beziehungen traditionell mehr Wert beigemessen wird als platonischen.
Wie Goldfarb betont, ist es wichtig, es nicht als Versagen zu betrachten, wenn du einer Freundschaft entwachsen bist. Anstatt dich dafür zu schämen, dass ihr es einfach nicht hinbekommen habt, solltest du das Ganze als Teil des Lebens betrachten. „Es ist menschlich, unseren Liebsten nur ein bestimmtes Maß an Energie und Aufmerksamkeit widmen zu können“, sagt sie und ergänzt: „Du kannst ja immer noch Zuneigung für eine Langzeitfreundschaft empfinden. Trotzdem solltest du realistisch darauf blicken, wie eure Freundschaft heute aussieht.“
Angeli musste nach dem Ende ihrer Freundschaft erstmal eine Art „Herzschmerz“ überwinden. Sie sagt aber auch, dass sie gestärkt daraus hervorgegangen ist. „Ich bin heute so viel glücklicher“, erzählt sie. „Ich habe damit Frieden geschlossen und wünsche den Leuten, mit denen ich heute nicht mehr befreundet bin, wirklich nur das Beste. Ich werde immer Liebe und Zuneigung für sie empfunden – aber eben aus der Ferne.“
*Namen wurden von der Redaktion geändert.
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