Meine Eltern sind schon geschieden, solange ich denken kann. Ihre Ehe ging in die Brüche, als ich noch ein Baby war. Als Kind wurde ich deswegen am Wochenende zwischen ihren Häusern hin- und herkutschiert und lebte quasi dauernd aus einem Rucksack. Bei Theateraufführungen in der Schule schaute ich nervös durch den Vorhang ins Publikum, um zu sehen, ob sie zusammen saßen. Manchmal taten sie’s, und das ließ mein Herz aufgeregt klopfen. Aber oft saßen sie eben auch getrennt.
Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, fand ich den alten Ehering meiner Mutter in einer Innentasche ihres Kulturbeutels. Ich hatte ihn vorher noch nie gesehen, wusste aber anhand der Gravur sofort, dass es der Ehering war. Mein Vater hatte ihr darin „all seine Liebe“ versprochen und das Datum ihrer Hochzeit eingravieren lassen. Ohne diesen Ring hätte ich heute keine Ahnung, wann – in welchem Jahr – sie überhaupt geheiratet hatten.
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An diesem Tag hatte ich das Gefühl, einen seltenen Edelstein entdeckt zu haben. Ich sagte meiner Mutter nichts davon und schaute ihn mir immer wieder heimlich an, wenn sie gerade beschäftigt war. Das war mein kleines Geheimnis, eine Möglichkeit, meiner Realität zu entkommen, wenn mir gerade danach war. Meines Wissens nach war dieser Ring das letzte Überbleibsel der Ehe meiner Eltern, der einzige handfeste Beweis dafür, dass sie überhaupt je verheiratet gewesen waren. Mir bedeutete dieser Ring die Welt.
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Dieser Ring war der Beweis dafür, dass sie sich zumindest irgendwann mal geliebt hatten. Und ich war aus dieser Liebe entstanden.
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Doch dann verschwand der Ring eines Tages aus der Kulturtasche meiner Mutter. Ich war insgeheim am Boden zerstört, konnte ihr meine Gefühle aber nicht mitteilen, weil sie ja nicht wusste, dass ich den Ring überhaupt entdeckt hatte. Ich ging davon aus, dass sie ihn weggeworfen haben musste; sie waren zu dem Zeitpunkt bereits seit über zehn Jahren geschieden. Warum hätte sie den Ring also behalten sollen? Ich hatte daraufhin einen ganz neuen Verlust zu betrauern. Für mich war der Ring viel mehr als nur ein Stück Metall – sondern eine Art Rettungsring. Ich empfand ihn als mein Eigentum, als einziges Kind dieser Ehe.
Für den Großteil meiner Kindheit waren wir drei voneinander getrennte Einheiten. Ich stand beiden meiner Eltern unheimlich nah – schon immer –, war aber die einzige Verbindung zwischen ihnen. Ich teile so viele glückliche, liebevolle Erinnerungen mit ihnen, aber in keiner davon sind wir eine Familie. Dieser Ring war das Einzige, das uns in irgendeiner Art miteinander verband. Er war der Beweis dafür, dass sie sich zumindest irgendwann mal geliebt hatten. Und ich war aus dieser Liebe entstanden.
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Dann, über zehn Jahre später, passierte das Unerwartete. Vor ein paar Jahren brachte meine Mutter mich und den Ring wieder zusammen. „Ich habe immer noch den Ehering, den mir dein Vater gegeben hat“, erzählte sie mir eines Abends, als ich sie besuchte. „Kann ich den haben?“, fragte ich mutig und rechnete halb damit, sie würde Nein sagen. Der Ring fühlte sich einfach zu wertvoll an. „Ja, natürlich. Ich suche ihn für dich raus“, antwortete sie aber. Sie schien glücklich darüber zu sein, dass ich sie darum gebeten hatte.
Er war die ganze Zeit in ihrer Schmuckkiste gewesen. Als ich ihn mir über den Zeigefinger schob, war ich überrascht, wie klein er doch war. „Ich hatte früher klitzekleine Finger“, erklärte meine Mutter. „Er würde mir heute nicht mehr passen – aber ich würde ihn ja ohnehin nicht mehr tragen wollen.“ Er sitzt viel besser an meinem kleinen Finger, wo ich ihn heute an der linken Hand trage. Damit ist er direkt neben dem Ringfinger, für den er ursprünglich gedacht war.
Ich versuche schon seit vielen Jahren, die Scheidung meiner Eltern zu verarbeiten. Ich habe zwar nie eine andere Realität gekannt, aber in gewisser Hinsicht macht mich das sehr traurig. Ich bin dankbar dafür, die Scheidung an sich nicht wirklich mitbekommen zu haben; ich musste mich nie für ein Elternteil „entscheiden“ oder die Bruchstücke des Familienlebens, wie es vor der Scheidung ausgesehen hatte, zusammenkleben. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, zu einer Familieneinheit aus zwei Eltern zu gehören. Lange beneidete ich meine Schulfreund:innen dafür, die genau das hatten – ohne damals zu verstehen, dass nicht alle Ehen glücklich sind, selbst wenn sie genau genommen noch „intakt“ sind. Alles, was mir von der Beziehung meiner Eltern bleibt, sind ein paar Fotos und einige Erzählungen.
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Paare, die sich freundschaftlich trennen oder gemeinsame Kinder haben, sehen in diesem Ring vielleicht immer noch einen wichtigen oder glücklichen Teil ihrer Geschichte.
SIObhan Maher, gründerin von authology
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Die größte Frage, die mir auf der Zunge brannte, als mir meine Mutter ihren Ring schenkte, war die, wieso sie ihn so lange behalten hatte. Die Ehe war vor fast 25 Jahren zerbrochen, und in dieser Zeit bin ich vom Kind zur Erwachsenen geworden. Beide meiner Eltern haben mit der Ehe abgeschlossen und bereuen die Scheidung auch nicht. Trotzdem behielt ich die Frage für mich, warum sie den Ring behalten hat. Ich freue mich einfach darüber, dass sie es getan hat.
Aber warum behalten Leute wie meine Mutter ihren Ehering, nachdem die Ehe in die Brüche geht? Siobhan Maher ist die Gründerin von Authology, einer Marketingagentur für Schmuckmarken. Sie erklärt, dass der Ehering zwar traditionell ein Symbol der ewig währenden Liebe ist, nach dem Ende dieser Beziehung aber auch für ein neues Kapitel stehen kann. „Paare, die sich freundschaftlich trennen oder gemeinsame Kinder haben, sehen in diesem Ring vielleicht immer noch einen wichtigen oder glücklichen Teil ihrer Geschichte“, sagt sie. „Gleichzeitig kann jemand mit weniger fröhlichen Erinnerungen die Bedeutung des Rings für sich selbst neu deuten und ihn als Symbol des eigenen Wachstums oder der Freiheit interpretieren.“
Maher glaubt, wir seien heute immer stärker dazu imstande, unsere eigenen Werte und Absichten auf unseren Schmuck zu projizieren. „Der alte Symbolismus [der endlosen Liebe] ist weniger wichtig als die Bedeutung, die der oder die Träger:in dem Ring verleiht. Die Symbolik, die wir mit unseren Schmuckstücken verbinden, kann sich im Leben auch ganz natürlich verändern. Es ist demnach kein Wunder, dass manche Menschen diese Gegenstände behalten. Immerhin sind sie ein Teil ihrer Geschichte.“
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Die Beziehungsexpertin Pippa Murphy hingegen glaubt, dass manche Leute ihre Eheringe behalten, um damit die positiven Erinnerungen an die Ehe zu würdigen. „Ein Ehering ist mehr als bloß ein Symbol der Liebe. Er ist auch eine physische Erinnerung an die Versprechen, die du deinem Ehepartner oder deiner -partnerin gegeben hast. Manchmal fühlt es sich gut an, etwas Greifbares aus der Vergangenheit zu behalten – vor allem, wenn du viele Erinnerungen damit verbindest“, erklärt Murphy. Ihrer Meinung nach geht es beim Behalten des Eherings „nicht darum, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, sondern darum, die Erinnerungen im Gedächtnis zu bewahren, während das Leben weitergeht“.
Natürlich kann auch der sentimentale Wert eines solchen Schmuckstücks Menschen davon abhalten, sich nach einer Scheidung vom Ehering zu trennen. Manchen ist es zu viel, den Ring zu verkaufen oder zu verschenken – vor allem, wenn er teuer war. „Selbst wenn du emotional gar nicht daran hängst, möchtest du ein so wertvolles Schmuckstück vielleicht nicht weggeben“, spekuliert Murphy. „Das gilt vor allem, wenn dein:e Partner:in viel Zeit und Geld investiert hat, um genau den richtigen Ring für dich auszusuchen, oder wenn der Ring aus seltenen Materialien besteht.“
Als ich mir den Ehering meiner Mutter nach all den Jahren wieder an den Finger steckte, war ich ganz aufgeregt – wie ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat. Für mich war der Ring wie ein fehlendes Puzzlestück. Zwar nimmt er mir nicht den Schmerz, den die Scheidung meiner Eltern in mir ausgelöst hat, füllt aber doch eine Leere in mir, die ich 24 Jahre nicht genau in Worte fassen konnte.
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Seit anderthalb Jahren bin ich in Therapie und habe mich dort schon viel mit der Scheidung meiner Eltern auseinandergesetzt. Das hat mir enorm dabei geholfen, mehr Akzeptanz zu finden und alte Wunden verheilen zu lassen. Der Ring steht für mich symbolisch dafür, wie weit ich gekommen bin. Ihn zu tragen, erfüllt mich überraschenderweise mit Freude, nicht mit Bedauern darüber, was hätte sein können. Ihn zu bekommen, hat mich ein bisschen mehr Frieden mit der Scheidung meiner Eltern schließen lassen – und bringt mich der Heilung jeden Tag einen Schritt näher.
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