Die Storyline klingt wie aus einem K-Drama: Eine Tochter verliert den Kontakt zu ihrem Vater. Ein paar Jahre ziehen ins Land, während der sie nicht miteinander sprechen. Dann hört sie über ein paar Ecken, dass er im Krankenhaus liegt – und telefoniert jedes Krankenhaus in der Stadt ab, bis sie ihn ausfindig macht.
Nur ist das hier kein koreanisches Drama, sondern meine eigene Geschichte.
Als mein Vater unsere Familie zurückließ, dachte (und hoffte) ich immer, wir würden eines Tages wieder zueinanderfinden. Klar, unser letztes Gespräch war ein Streit gewesen, der schließlich sogar handgreiflich ausgeartet war; jede Form von Beziehung schien danach unvorstellbar. Trotzdem konnte ich mich nie so ganz von der Fantasie verabschieden, es würde doch irgendwann in einer nicht näher definierten Zukunft zu einer Versöhnung kommen.
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Trotzdem verstrichen viele Jahre, bis die Möglichkeit dann doch zum Greifen nah schien. Die Beerdigung meiner Tante stand an, und meine Gedanken drehten sich panisch im Kreis, während ich mir jedes denkbare Szenario auszumalen versuchte.
Und dann… tauchte er einfach nicht zur Beerdigung auf. Typisch, dachte ich. Er ist bestimmt betrunken oder hat Besseres zu tun, als seiner toten Schwägerin die letzte Würde zu erweisen. Doch dann stellte sich heraus, dass ihn mein Onkel zwar zur Beerdigung eingeladen hatte – dass mein Vater aber mit Krebs im Krankenhaus lag und nicht wollte, dass wir davon erfuhren. Jetzt würde im Film wohl die dramatische Musik einsetzen.
Instinktiv rief ich in jedem Krankenhaus unserer Stadt an, bis mir irgendjemand mehr Informationen geben konnte. Um es kurz zu machen: Kleine Info-Krümel und mein Bauchgefühl führten mich schließlich ins richtige Krankenhaus, wo er im Wartezimmer der Krebsstation saß, neben einer Frau, die ich nicht kannte.
Unsere Blicke trafen sich, und es folgte eine Konfrontation, die ebenfalls direkt aus einem Drama hätte stammen können: Tränen, Gebrüll, das Kennenlernen seiner neuen Partnerin und eine hysterische Tochter, die sich weigerte zu gehen. Schließlich erklärte er sich dann doch (sehr widerwillig) dazu bereit, mich zu seinem Termin mitkommen zu lassen. Darin erfuhren wir, dass der Krebs schon im vierten Stadium und nicht mehr operabel war. Der Krebs war so weit fortgeschritten, dass ihm selbst eine erfolgreiche Chemotherapie bloß ein paar Monate bis maximal zwei Jahre schenken würde. Die Tränen strömten mir unaufhaltsam über die Wangen – und plötzlich wurde dieser Fremde wieder zu meinem Vater.
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Ich wünschte, ich könnte jetzt erzählen, wir hätten uns heulend in den Armen gelegen und über die Vergangenheit gelacht. Ganz so einfach war es aber leider nicht.
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Ob aus Stolz, Schuldgefühlen oder ehrlichem Protest: Mein Vater weigerte sich konsequent, ihn während der Chemo und anderer Krankenhausaufenthalte zu unterstützen. Leider habe ich seine Sturheit geerbt; ich blieb hartnäckig, bis er nachgab. Ich wollte ihm helfen, so gut ich konnte, obwohl mir mehrere gutgesinnte Freund:innen davon abrieten; sie befürchteten, er würde mich um Geld bitten oder mir wieder wehtun. Weil ich aber mitansehen musste, wie dieser einst gesunde, kräftige Mann zu einem Schatten seiner selbst wurde, zögerte ich nicht lange.
Trotzdem quälte ich mich mit vielen unangenehmen Gedanken und Gefühlen (und meine Therapeutin war auch noch im Urlaub!). Ich musste mich außerdem mit der neuen Beziehung meines Vaters abfinden (die sich als gar nicht so neu herausstellte) und mir überlegen, welche Art von Beziehung ich mir vorstellte – zu ihm und/oder zu ihr. Ich hatte den Eindruck, dass all das, woran ich so hart in der Therapie gearbeitet hatte, ganz plötzlich verpuffte. Also beschloss ich, mich jetzt erstmal auf seine Gesundheit zu konzentrieren und mir erst später den Kopf über mich selbst zu zerbrechen. In anderen Worten: Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was ich eigentlich machte.
Ich wünschte, ich könnte jetzt erzählen, wir hätten uns heulend in den Armen gelegen und über die Vergangenheit gelacht. Ganz so einfach war es aber leider nicht. Tatsächlich begann es erstmal mit viel unangenehmer Stille im Krankenhaus. Wir zwangen uns zu krampfhaftem Smalltalk und wechselten zwischen nur zwei Themen hin und her – dazwischen, was wir in den letzten Jahren so gemacht hatten, und seinem Krebs. Ich begleitete ihn zu jedem Termin und half ihm beim Ausfüllen der Formulare.
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Im Laufe eines Monats lernte ich, weitestgehend fließend „Krebs“ zu sprechen, die besten Zeiten zum Parken am Krankenhaus zu erwischen, und welche Ärzt:innen und Pfleger:innen bei der Behandlung meines Vaters welche Rollen übernahmen. Jeden Tag fühlte ich mich überwältigt und hätte am liebsten „Pause“ gedrückt – und war doch gleichzeitig unheimlich froh darüber, Zeit mit meinem Vater zu verbringen, wenn auch unter komplizierten Umständen. Dann wieder fühlte ich mich hoffnungslos und wünschte mir, ich hätte Medizin studiert, wie es sich meine Eltern gewünscht hatten. Jeden Tag stand ich vor ganz neuen unvorhersehbaren Emotionen und unangenehmen Gesprächen.
Erst als mein Vater vor ein paar Wochen im Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht wurde, sprachen wir den Elefanten im Zimmer an. Vielleicht glaubte er, im Sterben zu liegen und wollte sein Gewissen erleichtern; oder vielleicht wollte er sich bei mir einschleimen, um mich wieder um Geld zu bitten (so mein zynischer Gedanke). Was es auch war – irgendwas bewegte ihn dazu, sich im Bett aufzurichten und mich zu fragen, ob ich irgendwelche Fragen an ihn hätte. Und oh ja, die hatte ich. Ich fragte ihn, ob er sich nur deswegen nie für mich interessiert hatte, weil ich ein Mädchen war und er sich immer einen Sohn gewünscht hatte. Definitiv nicht, versicherte er mir. Er erklärte, er habe sich eine glückliche Familie gewünscht; weil er und meine Mutter sich aber nicht so gut verstanden, suchte er Trost im Alkohol und in den Armen anderer Frauen. Ich wusste zwar, dass ich die jugendfreie Version seiner Story bekam, doch war mir das in dem Moment egal. Wir hatten noch nie so offen und ehrlich miteinander gesprochen, und das wollte ich nicht durch sinnlose Nachfragen ruinieren.
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Im Laufe der letzten zwei Monate habe ich mehr über meinen Vater erfahren als in den letzten 30 Jahren davor. Ich weiß jetzt, dass Squid Game seine Lieblingsserie ist, dass er bei WhatsApp gerne Faultier-GIFs verschickt (und das fühlt sich an wie Schicksal – ich bin leidenschaftliche Sammlerin von Faultiersocken!) und er während unserer Trennung oft an mich gedacht hatte. Und trotzdem: Obwohl sein Krebs unsere Gespräche überhaupt erst ermöglicht hat, weiß ich, dass ich nie alles über ihn wissen werde – was mir als neugierige Journalistin besonders schwer fällt.
Ich weiß nicht, ob mein Vater bis zur zweiten Staffel von Squid Game noch hier ist, oder ob er je gesund genug sein wird, um einen Cocktail mit mir zu trinken (steht auf meiner Bucket List!). Ich weiß aber sehr wohl, dass Blut manchmal eben doch dicker ist als Wasser. Vor allem, wenn du Krebs hast.
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