Die 28-jährige Kris ist seit zweieinhalb Jahren mit ihrem Partner zusammen und hat es bisher erfolgreich vermieden, die Feiertage mit ihrer Familie und ihm zu verbringen. Sie und ihr Freund verbrachten 2019 getrennt voneinander und 2020 miteinander, isoliert von ihren beiden Familien. Dieses Jahr besteht ihre aber Mutter darauf, dass Kris und ihr Partner die Feiertage mit ihr verbringen.
Er hat ihre Mutter und ihren Vater bereits kennengelernt und schon bei einigen Gelegenheiten getroffen, aber das Paar war noch nie zu einem großen Familientreffen eingeladen. Kris wird schon allein beim Gedanken daran ganz Bange ums Herz, denn sie schämt sich für ihre Familie und macht sich Sorgen darüber, ob sich ihr Freund beim Familienweihnachtsessen wohl fühlen wird.
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Das Problem ist die Art und Weise, wie sich ihre Familie verhält. Obwohl Kris sie liebt, können sie für Außenstehende sehr anstrengend sein. Sie sind streitlustige Trinker:innen, unglaublich voreingenommen und in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von ihrem Partner. Dieser ist nämlich freundlich, ruhig und liebevoll, und obwohl sie weiß, dass er sie nicht verurteilen wird, möchte sie ihm das nur ungern zumuten, zumal er nicht trinkt. Als sie ihn darauf ansprach, sagte er, er wolle während der Feiertage mit ihr zusammen sein, und wenn das bedeute, dass sie dann gemeinsam mit ihrer Familie feiern müssen, dann sei es eben so.
Unter anderen Umständen könnten sie es vielleicht noch ein weiteres Jahr hinauszögern, aber seine Familie ist in Europa und eine Reise dorthin während einer Pandemie zu planen, erscheint dem Paar zu riskant, wenn nicht sogar zum Scheitern verurteilt.
Was kann sie also tun, damit die Feiertage reibungsloser verlaufen? Wie sollte sie am besten mit schwierigen Familienmitgliedern umgehen, ohne jemanden auszuschließen oder die Situation zu verschlimmern?
Dr. Sheri Jacobson, eine Psychotherapeutin im Ruhestand mit über 17 Jahren klinischer Erfahrung und Gründerin von HarleyTherapy.com kann hier weiterhelfen.
Dr. Sheri Jacobsons Tipps für Kris:
Beginnen wir mit deiner Denkweise, denn darauf haben wir den größten Einfluss. Finde zunächst heraus, welches Gefühl dich beunruhigt (ist es Wut, Verlegenheit, Angst, Einsamkeit, Scham?). Bestimm dann, welche Gedanken dahinter stecken wie z.B: „Unsere Weihnachtsfeiern laufen nie nach Plan“, „meine Familienmitglieder hacken immer auf mir herum“ oder „es ist mir so peinlich, dass sich die anderen Leute zu Weihnachten immer betrinken und sich dann völlig blamieren“. Es gibt oft einen Gedanken, der uns keine Ruhe gibt und Unbehagen bei den meisten Anlässen auslöst, insbesondere an Weihnachten, da es, dadurch das es jedes Jahr stattfindet, die gleichen Gefühle hervorruft. Wenn du die negativen Gedanken, die dahinter stecken, erkennen kannst, ist es möglich, etwas dagegen zu tun.
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Oft geht es darum, unsere Erwartungen herunterzuschrauben und sich damit abzufinden, dass wahrscheinlich nicht alles wie am Schnürchen laufen wird. So gibt es mehr Spielraum für die Spannungen, die sich normalerweise bemerkbar machen. Sei versichert, dass du damit nicht allein bist: Die Weihnachtszeit kann für viele Menschen sehr mühsam oder einsam sein. Trotz all der wunderbaren, stereotypischen Vorstellungen davon, wie die Feiertage sein sollten, ist die Realität oft sehr, sehr weit davon entfernt. Daher ist es ratsam, realistische Vorstellungen zu haben.
Du sagst, dass es deinem Partner nichts ausmacht, wie sich deine Familie verhält. Du scheinst ihm aber nicht ganz zu glauben. Wenn wir Dinge wie „Mach dir keine Sorgen“ hören, fällt es uns oft schwer, anderen Glauben zu schenken, weil wir den Gedankenprozess nicht aufgeschlüsselt haben. In diesem Fall können folgende Gedanken auftauchen: „Meine Familie wird mich blamieren“, „meine Familie wird meinen Partner vergraulen“ oder „mein Partner wird die dunkle Seite meiner Familie sehen und sich denken, dass ich eine Erweiterung von ihnen und damit fehlerhaft und unserer Beziehung unwürdig sein muss.“ Nach dem, was er zu dir gesagt hat, ist das eindeutig nicht der Fall, weshalb du diese Art von Gedanken hinterfragen solltest.
Neben dieser internen Arbeit gibt es außerdem Möglichkeiten, wie du mit wertenden Kommentaren umgehen kannst. Es gibt oft zwei Wege, die du einschlagen kannst. Der eine ist Kommunikation: Nimm dir vor dem Ereignis etwas Zeit, um mit denjenigen Personen zu sprechen, die dir schon im Vorhinein Kopfschmerzen bereiten, und ihnen mitzuteilen, welche Auswirkungen ihr Verhalten auf dich hat. Entscheidend ist, dass du die Verhaltensweise selbst nicht als ein Problem bezeichnest, sondern die Art und Weise, wie du sie wahrnimmst. Zum Beispiel: „Mir ist aufgefallen, dass du dazu neigst, zu trinken und laut zu werden, wenn wir uns während der Feiertage sehen. Es wird dann ziemlich schwierig für mich, in deiner Nähe zu sein. Ich möchte dir nur mitteilen, wie sich das auf mich auswirkt, und ich würde es sehr begrüßen, wenn wir darüber sprechen könnten, wie wir die Situation für uns beide angenehmer machen könnten, wenn du dafür offen bist.“
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Manchen kann diese Option aber zu krass sein, denn oft fällt es meinen Patient:innen schwer, so offen zu sein. Außerdem meinen sie, das sei eine sehr amerikanische Art, mit Dingen umzugehen. Fall du den gleichen Eindruck hast, kannst du auch Folgendes sagen: „Nur damit du Bescheid weißt: Letztes Jahr habe ich mich sehr unwohl gefühlt, weil beim Familienweihnachtsessen so viel getrunken wurde“. Schau, was dabei herauskommt. Wenn jemand sehr abwehrend reagiert und dir nicht zuhört oder sich nicht auf das Gespräch einlassen will, ist es oft am besten, die Unterhaltung an dieser Stelle zu beenden.
Die zweite Möglichkeit, dieses Familienweihnachtsessen heil zu überstehen, besteht darin, alles zu tun, was du kannst, um deine eigenen Emotionen und Gedankengänge im Griff zu haben. Das bedeutet, zu versuchen, unangenehme Momente und wertende Aussagen bis zu einem gewissen Grad einfach hinzunehmen. Wenn das Ganze aber zu viel werden sollte und deine persönlichen Grenzen überschreitet werden, ist es wahrscheinlich besser, entweder zu gehen oder klar auszusprechen, dass du bestimmte Verhaltensweisen nicht tolerieren und gehen wirst, wenn sich nichts ändern sollte.
Wenn es darum geht, jemanden auf Ereignisse wie die Feiertage vorzubereiten, würde ich mit den Therapie-Klassikern „Fragen und Zuhören“ beginnen. Stell eine Frage wie z. B.: „Was hältst du von diesem Weihnachten?“ Hör zu und lass dich von dem, was dein Gegenüber sagt, leiten. Vielleicht gibt es ja gar kein Problem. Vielleicht handelt es sich dabei bloß um deine eigenen Gedanken, die du auf die andere Person projiziert hast. Dein Partner scheint kein Problem damit zu haben, Weihnachten mit deiner Familie zu verbringen. Vergiss also nicht, dass es das Wichtigste an diesem gemeinsamen Essen ist, dass ihr als Paar zusammen feiern könnt. Alles andere sollte eine zweitrangige Rolle spielen.
Sobald du etwas gefragt und dir die Antwort angehört hast, kannst du deine Meinung äußern. Wenn du das Gespräch als Dialog und nicht als Projektion führst, wirst du vielleicht bemerken, dass es gar kein Problem gibt oder dass die Person, mit der du gerade gesprochen hast, mit ihren eigenen emotionalen Wunden oder Traumata zu kämpfen hat. Diese Vorarbeit kannst du dann als Grundlage dafür nützen, um dir Unterstützung zu holen, falls nötig. Viel Glück!
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