Hast du dich selbst schon mal gefragt, was du mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin besprechen würdest, wenn du die Chance dazu hättest? Wir bitten Dr. Sheri Jacobson, einer pensionierten Psychotherapeutin mit über 17 Jahren Berufserfahrung, um ihren Rat zu all den Angelegenheiten, über die wir uns insgeheim den Kopf zerbrechen.
Frage:
Eine Person, die ich als eine meiner besten Freundinnen betrachte, hält unsere Freundschaft oft für weniger wichtig als Dinge, die ihr etwas bringen. Wir müssen uns immer dort treffen, wo es für sie gerade praktisch ist. Sie hat kein Problem damit, mir in letzter Sekunde abzusagen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie mir nur zuhört, um an einer geeigneten Stelle das Gespräch auf sich selbst umzulenken. Ich habe außerdem den Eindruck, dass sie vor allem dann mit mir befreundet sein will, wenn es in meinem Job gerade gut läuft (ich arbeite mit Promis zusammen). Sie kann gleichzeitig aber auch so lustig und unterhaltsam sein und war in der Vergangenheit auch schon für mich da, wenn ich sie am meisten brauchte. Wie kann ich rausfinden, ob sie eine falsche Freundin ist oder bloß ein bisschen egoistisch? Und falls sie fake ist – was mache ich dann?
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Toni, 26
Antwort:
Die meisten von uns denken von unserem eigenen Standpunkt aus. Ein bisschen Egoismus lässt sich also nicht vermeiden. Gleichzeitig sind wir aber auch soziale Wesen. Wenn der Egoismus nicht durch die eigene soziale Seite ausgeglichen wird, kann es zu diesen Fake-Freundschaften kommen, die du ansprichst. Das sind Freundschaften, die sich durch ihre Einseitigkeit auszeichnen: Alles dreht sich um das Leben, die Meinungen, die Interessen der anderen Person. Oft können diese Freundschaften auch zu einer Art Handel werden: Wenn dich die Person für deinen gesellschaftlichen Status oder für den eigenen finanziellen Vorteil benutzt, kann das geradezu ausbeuterisch wirken. Dieser fehlende Respekt deutet womöglich darauf hin, dass diese Person deine Wünsche und Bedürfnisse nicht bloß ignoriert, sondern sie als unwichtig empfindet.
Wie sollst du also herausfinden, ob eure Freundschaft nun echt oder „fake“ ist? Ich empfehle dir dazu, dir einen genauen Überblick zu verschaffen. Überlege dir, wie das Geben und Nehmen in eurer Freundschaft verteilt ist. Versuche dabei, so objektiv wie möglich auf dein eigenes Verhalten zu schauen und herauszufinden, wie du dich in eurer Freundschaft präsentierst. Trägst du tatsächlich mehr bei als sie? Bietest du ihr deine Hilfe an, wenn sie sie braucht? Das Ganze machst du dann umgekehrt genauso.
Das kann eine Gelegenheit für dich sein, mal in dich hineinzuhorchen und dir wichtige Fragen zu eurer Freundschaft zu stellen. Macht eure Freundschaft eure beiden Leben schöner? Und dann drehst du die Frage um: Wie würde es dir gehen, wenn du diese Freundschaft nicht (mehr) hättest? Eine gute Freundschaft erkennt man oft daran, dass sie dich zu einem besseren Menschen macht. Wenn es dir wegen dieser Freundin aber schlechter geht und dein Leben tatsächlich eher unter ihr leidet, kann dir das viel darüber verraten, ob ihr überhaupt zusammenpasst.
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Was du mit diesem Wissen anfängst, ist deine Entscheidung. Wenn eine Person zum Beispiel eine große Klappe hat und dir das nicht gefällt, kannst du dich fragen, ob dich das so sehr stört, dass sich die Freundschaft für dich nicht mehr lohnt. Vielleicht übernimmt deine Freundin die Planung all eurer Treffen, ist super im Organisieren und womöglich auch einfach lustige Gesellschaft. Wenn dich an eurer Freundschaft nur stört, dass sie ab und an egoistisch wirkt, liegt es an dir, zu entscheiden, ob du gewillt bist, das zugunsten all der Vorteile eurer Freundschaft eben hinzunehmen.
Das hängt auch davon ab, ob du dazu bereit bist, deiner Freundin klarzumachen, dass du dich mit ihrem Verhalten manchmal unwohl fühlst. Das muss sich nicht wie eine Standpauke anhören, sondern kann auch ganz locker formuliert sein. Gleichzeitig solltest du aber auch auf dich aufpassen: Wenn diese Freundin dazu neigt, dich auszunutzen, und du sehr leicht zu beeinflussen bist, kann es besser sein, dich vorsichtig und ohne Erklärung zurückzuziehen. Wenn sie versucht, das von dir angestoßene Gespräch so zu manipulieren, dass du danach glaubst, du seist an allem schuld, kann der Rückzug für dich nämlich besser sein als die direkte Konfrontation.
Freundschaften gibt es in so vielen verschiedenen Formen. Manchmal enden sie ganz abrupt und absichtlich; manchmal verliert man sich einfach aus den Augen. Und manchmal wird eine Freundschaft auch wieder so wie früher. Unsere Leben verändern sich, und es kann passieren, dass wir aufgrund dieser Veränderungen plötzlich sehr weit voneinander entfernt sind. Genau deswegen ist es gut, eine Freundschaft immer im Hier und Jetzt zu betrachten: Macht dich diese Freundschaft heute zu einem besseren Menschen? Verbessert oder verschlechtert sie heute deine Lebensqualität?
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Zwischenmenschliche Beziehungen können chaotisch sein. Wir sind keine perfekten Wesen und sollten daher voneinander keine Perfektion verlangen – nicht einmal in unseren engsten Bindungen. Sei also nachsichtig, sowohl mit anderen als auch dir selbst. Zumindest so lange, bis du merkst, dass deine persönliche Grenze erreicht ist.
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