In einer der lustigsten Szenen lässt die japanische Künstlerin und Aktivistin Rokudenashiko ein Boot zu Wasser, das einem 3D-Print ihrer Vagina nachempfunden ist. Während sie glücklich in dem XXL-Abbild ihrer Scheide sitzt und durch das seichte Gewässer rudert, tönt es aus dem geladenen Publikum aus Pressevertreter*innen und Freund*innen „Lang lebe die Vagina!“. Kurz darauf wird Rokudenashiko festgenommen und wegen „Obszönität“ angeklagt.
In einer weiteren ergreifenden Szene demonstriert die britische Aktivistin Leyla Hussein einer Gruppe junger Männer anhand einer großen Vagina aus Knete, was bei einer weiblichen Genitalverstümmelung genau passiert. Den anfänglich genierten Männern steht das Entsetzen in ihre Gesichter geschrieben, sie haben Tränen in den Augen.
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Es sind zwei Episoden der Dokumentation #Female Pleasure, die sich an unterschiedlichen Orten und Gesellschaften dieser Welt zugetragen haben – und die doch eines gemeinsam haben: die Unterdrückung von und die Angst vor weiblicher Sexualität. Insgesamt fünf Frauen aus den fünf Weltreligionen stehen im Zentrum des Dokumentarfilms der Schweizer Regisseurin Barbara Miller, der Anfang August bei dem Filmfestspielen in Locarno seine Premiere feierte und am 8. November in die deutschen Kinos kommt.
Die Protagonistinnen Deborah Feldman aus den USA, Doris Wagner aus Deutschland, Vithika Yadav aus Indien, Rokudenashiko aus Japan und Leyla Hussein aus Großbritannien schildern ihren mutigen Kampf gegen archaisch-patriarchale Strukturen hin zu einer selbstbestimmten Sexualität und einem Miteinander von Mann und Frau auf Augenhöhe und mit Respekt.
In ihrem Kampf lehnen sich die Frauen gegen religiöse und gesellschaftliche Doktrinen auf und verweigern sich einer Opferhaltung. Und das ist eine der wichtigsten Botschaften von #Female Pleasure: Es geht Barbara Miller darum, auf Missstände aufmerksam zu machen, ohne den Mut zu verlieren, und mit positiven Gedanken in den Diskurs zu gehen. Ich habe mir #Female Pleasure angeschaut und bin, nach anfänglicher Skepsis, berührt und voller Stolz und Kampfeslust zurückgelassen worden.
Im Interview mit Barbara Miller sprechen wir über die Produktion von #Female Pleasure, die Rolle von Gesellschaft, Religion und Tradition, wenn es um die (sexuelle) Unterdrückung der Frau geht und wie wichtig es ist, auch die Männer mit einzubeziehen. Denn nur gemeinsam können wir eine Veränderung der Strukturen erreichen.
Refinery29: Woher kam die Idee zu dem Projekt #Female Pleasure?
Barbara Miller: Während meiner Dreharbeiten in vielen Ländern habe ich mich immer wieder gefragt, weshalb Frauen in den meisten Kulturen Sexualität nicht genießen können oder dürfen. Weshalb es für sie eine Pflicht ist und was das für sie wirklich bedeutet. Ich wollte herausfinden, welches System, welche Strukturen dahinterstecken, dass Frauen leider fast auf der ganzen Welt ihre Sexualität nicht frei ausleben können oder, wenn sie es tun, geächtet, diffamiert oder sogar mit dem Tod bedroht werden.
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Nach welchen Kriterien hast du deine Protagonistinnen ausgesucht und welche Schwierigkeiten gab es in der Umsetzung?
Ich habe nach Personen gesucht, die es wagen über die Rolle der Frau und die weibliche Sexualität zu sprechen, auch wenn es in ihrer Kultur oder Gesellschaft ein großes Tabu ist. Wichtig war mir dabei, dass die Protagonistinnen ein gemeinsames Schicksal eint, auch bei absolut unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Das Erlebte, so schmerzhaft es auch war, soll verarbeitet und positiv umgesetzt worden sein. Meine Protagonistinnen nehmen keine Opferrollen ein und sind ein positives Beispiel dafür, dass sich der Kampf um Selbstbestimmung lohnt. #Female Pleasure zeigt auch deutlich, dass das Miteinander mit dem anderen Geschlecht eines der großen Ziele ist. Ich habe außerdem nach jungen Frauen gesucht, die schon mit ihren Themen an die Öffentlichkeit gegangen sind.
Schwierigkeiten gab es meist da, wo wir in einem streng religiösen Umfeld drehten. Das Misstrauen und die Bereitschaft zu Gewalt waren deutlich spürbar. Sei dies im ultraorthodox jüdischen Quartier Williamsburg in Brooklyn und im Mea Sharim Quartier in Jerusalem mit Deborah Feldman. Oder bei den Dreharbeiten eines Streitgesprächs unserer indischen Aktivistin Vithika Yadav mit einem hindu-fundamentalistischen Guru in Delhi oder auch nur bei den Filmaufnahmen einer Moschee.
Man könnte dir vorwerfen, dass der Film sehr schwarz/weiß malt und von sehr negativen, individuellen Schicksalen berichtet.
In 90 Minuten eine so komplexe Geschichte zu erzählen ist nur durch Verdichtung möglich. Die fünf Lebensgeschichten der Protagonistinnen sind aber keinesfalls nur negative, individuelle Schicksale. Sie zeigen die Befreiung von fünf Frauen, denen dies mit Stärke und Mut gelingt. Es sind fünf Beispiele, die Mut und Hoffnung machen. Zudem stehen die fünf Frauen symbolisch für Millionen von Frauen weltweit, denen es so oder sehr ähnlich auch heute noch ergeht. Die keine Selbstbestimmung über ihre Körper und ihre Sexualität haben, die als Menschen zweiter Klasse behandelt, diskriminiert oder dämonisiert werden.
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Welche Rolle spielen deiner Meinung nach Religionen, wenn es um die Unterdrückung der weiblichen Sexualität und von Frauen allgemein geht?
Religionen waren über Jahrtausende hinweg die wichtigsten moralischen Instanzen. Gerade im Bereich der Sexualität und des Verhältnisses zwischen Frau und Mann. In den ursprünglichen Texten und Ideen der fünf Weltreligionen wurde vor allem in den extremen, fundamentalistischen Ausprägungen das Bild der Frau und die weibliche Sexualität als etwas Negatives dargestellt. Als etwas, das im Gegensatz zur männlichen Spiritualität und Gottesfurcht steht. Das Paradebeispiel dafür ist Eva als Verführerin. Oder die Vorstellung, die sich sowohl im orthodoxen Judentum wie auch im japanischen und nepalesischen Buddhismus findet, dass der weibliche Monatszyklus die Frau unrein und somit sündhaft mache. Dabei ist es mir wichtig zu betonen, dass es mir dabei nicht um eine spezifische Religion oder Religion an sich geht, sondern vielleicht um etwas noch Größeres: die Religion des Patriarchats, wie es Leyla Hussein im Film so treffend sagt.
Und welche Rolle spielen Traditionen?
Traditionen oder das Berufen auf angebliche Traditionen werden leider sehr oft dazu benutzt, Frauen und Mädchen zu unterdrücken. Im Namen der Tradition wird der intimste Körperteil bei Millionen von Mädchen verstümmelt. Ihre Klitoris und die Schamlippen werden abgeschnitten und bei der schlimmsten Form wird auch ihre Vagina zugenäht. Nur damit Männer die absolute Kontrolle über die Sexualität von Mädchen und Frauen erlangen. Wie Leyla im Film sagt: „Wenn man Männern den Penis abschneiden würde, gäbe es einen Aufschrei und anstatt in Kriege würde man das Geld in die Rettung der männlichen Genitalien investieren!“ Aber beim Verstümmeln der Genitalien von Mädchen scheint das absurde Argument der Tradition und Religion über der körperlichen Integrität zu stehen. Im Namen von Tradition und Religion haben Frauen in ultraorthodoxen oder -konservativen Gemeinschaften auch kein Recht auf eine Scheidung, die Kinder sind Eigentum des Mannes. Es gibt unzählige weitere Beispiele auf der ganzen Welt, die Liste ist leider unendlich lang.
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Denkst du, dass die Rolle der Frau, die durch Religion und Tradition im Laufe unserer Gesellschaften geprägt wurde, hauptsächlich devot und unterwürfig ist?
Wenn wir an die zwei großen weiblichen Frauenfiguren der Bibel denken, trifft das sicher zu. Maria, die Unbefleckte, die Reine, die Mutter Gottes. Eva wird einerseits als schwach dargestellt, weil sie sich von der Schlange, dem Symbol der Sexualität, hat verführen lassen, andererseits als Sünderin, welche die Menschheit ins Verderben stürzte. Dabei aßen Eva und Adam auf ihre Initiative hin vom „Baum der Erkenntnis“! Damit hätte Eva eigentlich zum strahlenden Vorbild für unsere Gesellschaft werden können. Wie mir meine Protagonistinnen von ihren Religionen erzählten, gab es auch im ursprünglichen Judentum und im Islam starke, kämpferische Frauenfiguren, doch gerieten sie im Laufe der Geschichte immer mehr in Vergessenheit.
Welche Rolle hat der Mann – damals und heute – in einer Veränderung der Strukturen?
Männer spielen eine ganz wichtige Rolle, wenn es um Veränderungen der Strukturen geht. Das ist für mich eine ganz zentrale Aussage des Films: Es braucht das Miteinander von Männern und Frauen! Nur dann ist ein wirklicher Wandel möglich. Es ist wichtig, „feministische“ Männer als Partner zu haben. Also Männer, welche Frauen selbstverständlich als gleichberechtigte Partnerinnen verstehen und sie in allen Belangen unterstützen.
Bei drei meiner Protagonistinnen, die in sehr traditionsgeprägten Gesellschaften aufgewachsen sind, der Somalierin Leyla Hussein, der Inderin Vithika Yadav und der Japanerin Rokudenashiko, spielen außerdem die Väter eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Stärkung ihrer Töchter. Alle drei Väter haben sich hinter ihre Töchter und somit gegen die gesellschaftlichen Konventionen gestellt, als sich diese zur Rebellion und zum Schritt in die Öffentlichkeit entschlossen haben.
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Du zeigst fünf individuelle Frauenschicksale, um auf strukturelle Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaften aufmerksam zu machen. Können wir eine Änderung erreichen, indem wir die Puzzleteile sehen, anstatt das große Ganze?
Der Film zeigt nicht nur fünf Einzelschicksale, sondern vor allem die unglaublichen Parallelen und die tief verwurzelten Strukturen, die dahinterstehen. Und diese haben auf der ganzen Welt frappante Ähnlichkeiten. Die Parallelen weisen auf die patriarchalen Strukturen hin, die unser Leben als Frauen immer noch weitgehend definieren. Es ist wichtig, dass man in einem Film Menschen begegnen kann, die einem einen intimen Einblick in ihr Leben gewähren, mit denen man mitfühlen, mitlachen, mitweinen kann. Die Zuschauer*innen lernen in sehr kurzer Zeit Menschen sehr nahe kennen und entdecken dadurch eine andere Realität als ihre eigene.
Gleichzeitig machen manche Traditionen auch Männern das Leben schwer und weniger schön (Zwangsheirat oder Enthaltsamkeit) – warum, denkst du, tun sich Gesellschaften so etwas an?
Ich bin überzeugt, dass viele Traditionen auch Männern schaden. Nur ist ihnen das oft wahrscheinlich nicht wirklich bewusst, denn die Gesellschaft gaukelt ihnen vor, damit Macht und Verfügungsgewalt über die Frauen zu haben. Zugleich gibt die Einschränkung der männlichen Sexualität religiösen Institutionen ein Instrument in die Hand, um auch über Männer bestimmen zu können, indem ihre Sexualität auch mit Scham und Schuld belegt wird.
Dass es auch für Männer eine ganz große Befreiung und ein enormer Gewinn ist, wenn sie ihre Frau als Partnerin und gleichwertiges Gegenüber erleben können, wenn die gemeinsame Sexualität ein respektvolles, lustvolles Miteinander ist, das ist mir ein wichtiges Anliegen.
Die Dokumentation hinterlässt mich als Frau auch stolz, denn hinter vielen Ungerechtigkeiten und Verbrechen steht die Angst von Männern vor der wahren Stärke unseres Geschlechtes. Wie ist dein Gefühl nach den Gesprächen mit all den Protagonistinnen?
Die Dreharbeiten mit den fünf Protagonistinnen haben mir unglaublich viel Mut und Hoffnung gegeben, dass wir gemeinsam wirklich etwas verändern können. Wenn auf dem Land in Indien, wo die Frauen ihre Gesichter noch verschleiern müssen, wenn Massai-Frauen, die bis vor kurzem noch im Kindesalter verstümmelt wurden, wenn Frauen weltweit aufstehen und ihre Rechte auf eine selbstbestimmte Sexualität und ein partnerschaftliches, gleichwertiges Miteinander einfordern und auch immer mehr Männer sie dabei unterstützen, dann können wir auf friedlichere, glücklichere Beziehungen zwischen Frauen und Männern hoffen. Dazu möchte ich mit diesem Film beitragen.
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