Als die Beziehung der 32-jährigen Laura in die Brüche ging, zog sie näher zu ihrer Familie – vor allem, weil ihr finanziell nichts anderes übrig blieb. Sie und ihr Partner hatten sich ein Haus geteilt, und alleine konnte sie sich die Miete dafür nicht leisten. Also zog sie zwei Monate vor der Corona-Pandemie in ihre Heimatstadt. Seitdem leidet sie aber darunter, wie sehr sich ihr Sozialleben verändert hat – nicht nur wegen ihres Umzugs, sondern auch wegen Corona.
„Seit dem Umzug habe ich Probleme, neue Freund:innen zu finden“, erzählt Laura. „Ich bin Anfang 30. Viele meiner alten Freund:innen haben während der Pandemie eine Familie gegründet, und weil ich jetzt weiter weg wohne, stelle ich oft fest, dass sie sich überhaupt nicht mehr um unsere Freundschaft bemühen. Daher fühle ich mich oft einsam. Ganz ehrlich: Ich bin aus der Übung, was das Knüpfen neuer Freundschaften angeht, und bin nicht wirklich selbstbewusst genug. Oft habe ich auch den Eindruck, dass viele Leute gar keine neuen Freund:innen finden wollen. Was kann ich tun?“
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Dr. Sheri Jacobson, eine pensionierte Psychotherapeutin mit über 17 Jahren Berufserfahrung, kann hier weiterhelfen.
Dr. Sheri Jacobson: Zuallererst solltest du nicht kleinreden, wie sehr dich die Veränderungen der Lebenssituationen deiner Freund:innen getroffen haben. Vielleicht fühlst du dich deswegen verbittert oder außen vor – und das solltest du dir auch eingestehen. Lass diese Gefühle an die Oberfläche kommen und erkenne sie an, ob nun verbal oder schriftlich. Von diesem Punkt an geht es darum, ein wenig dieser Verbitterung zu akzeptieren, ohne dich davon überwältigen zu lassen. Manchmal suchen wir nämlich zu viel Trost in unserem Elend und glauben am Ende, die Welt habe sich verändert und wir würden nicht mehr reinpassen. Das ist natürlich nicht ideal.
Irgendwann wollen wir nämlich mit der Trauer abschließen. Jede Art der Veränderung bedeutet meist irgendeine Form von Verlust – aber auch den Gewinn von etwas anderem. Je mehr wir uns damit befassen, was uns jetzt fehlt, desto eher neigen wir zu negativen Gefühlen. Bis zu einem gewissen Punkt ist das noch okay. Danach sollten wir es uns aber selbst erlauben, den Prozess der Trauer voranzutreiben und zur Akzeptanz zu finden.
Darüber hinaus solltest du dir überlegen, ob sich deine Situation vielleicht in manchen Aspekten auch verbessert hat. Zum Beispiel hast du jetzt die Chance, neue Freundschaften zu finden oder neue Aktivitäten für dich zu entdecken, bei denen du vielleicht auch neue Leute kennenlernst. Die schönen Erinnerungen bleiben uns erhalten. Bloß, weil sich eine Freundschaft weiterentwickelt, heißt das ja nicht, dass wir nicht würdigen können, was sie einst war. Die gemeinsamen identitätsformenden Erlebnisse bleiben uns schließlich im Gedächtnis. Und die Veränderung einer Freundschaft bedeutet auch nicht zwangsläufig, dass sie jetzt vorbei ist; sie nimmt bloß neue Formen an. Wir können uns entweder mit ihr entwickeln – oder uns darauf verkrampfen, wie sie einst aussah, und uns die Vergangenheit zurückwünschen.
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Was das Finden neuer Freund:innen angeht, finde ich es persönlich sehr wichtig, zwischen „Errungenschaften“ (Wie viele Freund:innen habe ich? Wie viel Zeit habe ich mit ihnen verbracht?) und der Freude an der Freundschaft selbst zu unterscheiden. Das heißt: Womöglich hast du ganz verschiedene Beziehungen mit ganz verschiedenen Menschen. Es geht nicht unbedingt darum, wie viele Freund:innen du hast und wie viele Stunden du mit ihnen verbringst, sondern eher um die Art der Verbindungen. Freundschaft ist nicht wie Angeln, wo du etwas fängst oder eben nicht. Es braucht viel Zeit, um eine Freundschaft voranzubringen. Und je mehr wir diesen Prozess zu genießen lernen, desto weniger fixieren wir uns auf den tatsächlichen „Preis“, eine:n Freund:in zu haben.
Das klingt komplizierter, als es ist. In der Therapie arbeiten wir an den Fähigkeiten einer Person, kleine Verbindungen zu Leuten aufzubauen. Vielleicht wartest du gerade auf den Zug, stehst in einem Laden in der Schlange oder sprichst mit irgendjemandem in einem Callcenter. Das sind perfekte Gelegenheiten, Smalltalk zu üben: Erkundige dich nach den Leuten, wie es ihnen geht, was sie so machen, wo sie herkommen: All das sind wichtige Einleitungen für Beziehungen jeder Art und können potenziell zur Freundschaft führen – oder eben auch nicht. Je häufiger wir solche Kontakte angehen, ohne dabei einen gezielten Plan zu verfolgen, desto besser. Klar, vielleicht startest du mal ein bisschen Smalltalk mit jemandem und bekommst dann eine Abfuhr; das kann wehtun. Aber je öfter du das machst, je öfter du lächelst und dich für Leute interessiert, desto wahrscheinlicher ist es, dass dieses Interesse auch erwidert wird.
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Beim Knüpfen neuer Freundschaften gibt es natürlich auch einen weiteren Aspekt zu bedenken: Je mehr Zeit wir mit jemandem verbringen, je besser wir ihn oder sie kennenlernen, desto eher lässt sich daraus eine Basis für eine tiefere Beziehung aufbauen. Deswegen sind Hobbys, Aktivitäten und Vereine oft das ideale Umfeld, um Leute kennenzulernen – vor allem, wenn es eine körperliche Aktivität ist. Wenn du dich zum Beispiel einer Laufgruppe anschließt, triffst du Woche für Woche dieselben, oder auch immer mal wieder neue Leute. Und je mehr du dich der Möglichkeit des Kennenlernens öffnest, desto eher ergibt sich daraus eine Freundschaft.
Was deine Freund:innen angeht, die dir weniger Aufmerksamkeit schenken wollen oder können, ist es deine persönliche Entscheidung, wie wichtig dir jede dieser Freundschaften wirklich ist – und wie weit du zu gehen bereit bist, um sie aufrechtzuerhalten oder wiederzubeleben. Das kann bedeuten, dass du dich öfter meldest oder öfter mal gemeinsame Aktivitäten planst; vor allem, wenn die andere Person von anderen Dingen (Kindern oder Arbeit, zum Beispiel) abgelenkt ist. Vielleicht erfordert das dann auch mal ein bisschen Überredungskunst, um sie „rauszulocken“. Wenn du es wirklich möchtest, ist überhaupt nichts falsch daran, die treibende Kraft in eurer Beziehung zu sein.
Wenn das alles ist, was es braucht, um die eigenen Freund:innen öfter zu sehen, sind viele Leute dazu bereit. Manche erwarten aber mehr Gegenseitigkeit – und wenn deine Freund:innen nicht genug an dich denken, um zwischendurch mal anzurufen, dir zu schreiben oder auch ein Treffen zu vereinbaren, solltest du dir überlegen, ob es dir die Freundschaft wert ist, noch mehr Mühe zu investieren.
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Wenn deine Antwort „Nein“ lautet, ist das vollkommen in Ordnung. Schließlich entwickeln sich Freundschaften im Laufe der Zeit weiter – und nicht zwangsläufig in eine gute Richtung. Wir gehen natürlich immer erstmal davon aus, unsere Freundschaften würden ewig halten, doch lernen wir früher oder später alle die schmerzhafte Lektion, dass das ein Irrglaube ist. Das kann wehtun, aber wie ich schon gesagt habe: Die Erinnerungen bleiben uns erhalten, und so tragen wir die Freundschaft immer weiter in uns. Und je mehr wir auf diese schönen Zeiten zurückblicken können, anstatt darüber zu jammern, dass sie uns heute fehlen, desto positiver und offener begegnen wir potenziellen neuen Freund:innen.
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