„Ich brauche einen Rat dazu, wie ich mit einem meiner Freunde reden soll, der gerade eine schwierige Trennung hinter sich hat“, erzählt die 32-jährige Serena. „Er und seine Freundin waren jahrelang in einer toxischen Beziehung. Als sie sich dann endlich trennten, kam raus, wie schlimm er sie behandelt hatte. Ich kenne ihn schon sehr, sehr lange, und habe von ihm nie etwas anderes als Liebe und Unterstützung erfahren – und ich hatte keine Ahnung von seinem missbräuchlichen Verhalten in seiner Beziehung.“
„Jetzt, da die Beziehung vorbei ist, ist er total am Boden zerstört. Er versucht sie dazu zu überreden, ihm nochmal eine Chance zu geben und erzählt allen, jede Geschichte hätte zwei Seiten. Ich habe das Gefühl, ihm nicht mehr vertrauen zu können, und mich deswegen seitdem von ihm distanziert. Trotzdem braucht er offensichtlich Hilfe (er ist auch wegen seiner Probleme in Therapie) und die Unterstützung seiner Freund:innen. Wie verhalte ich mich am besten in dieser Situation? Kann man mit jemandem befreundet sein, der:die diese Seite von sich selbst verheimlicht hat?“
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Dr. Sheri Jacobson, eine pensionierte Psychotherapeutin mit über 17 Jahren Berufserfahrung, kann hier weiterhelfen.
Dr. Sheri Jacobson: Diese Frage lässt sich ohne genauere Details nur schwer beantworten. Vor allem ist dabei wichtig, in dieser Situation auf deine eigene Sicherheit zu achten, wenn und falls du dich mit diesem Freund triffst. Dazu braucht es eine Mischung aus guten Instinkten und gelebter Erfahrung; verlasse dich auf dein Bauchgefühl und vorheriges Wissen, um eine Situation einschätzen zu können. Dabei spielt nicht bloß eine Rolle, was du gerade von einer Person hältst, sondern auch, wie du selbst eine Situation beeinflusst – zum Beispiel durch die Entscheidung, wo ihr euch trefft, in welcher Umgebung dieses Treffen stattfindet, wie du mit ihm sprichst, wie nah ihr einander körperlich kommt. Wir sollten Verantwortung übernehmen, wo wir nur können, uns aber auch auf unsere Instinkte verlassen, um einzuschätzen, wie wohl wir uns in der Gesellschaft anderer fühlen. Manchmal läuft das ein bisschen schief, und wir über- oder unterschätzen die Situation. Dabei sollten wir uns selbst aber immer ernst nehmen. Prinzipiell gilt: Wenn wir auch nur den geringsten Zweifel an unserer Sicherheit in der Nähe einer Person haben, sollten wir uns von dieser unbedingt fern halten.
Das Schwierige und Komplizierte an dieser Situation ist, dass es eben tatsächlich immer zwei Versionen einer Trennung gibt. Ich denke also, dass du – abhängig von der Tiefe eurer bisherigen Freundschaft – ihn darauf ansprechen und mit ihm darüber reden solltest. Höre dir seine Sicht auf die Situation an und triff dann die Entscheidung, ob du ihm glaubst – oder die Freundschaft lieber beenden möchtest.
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Für die meisten Menschen sind missbräuchliche Beziehungen ein absolutes No-Go und etwas, das wir weder für uns selbst noch von unseren Liebsten tolerieren würden. Wenn du also anhand deiner eigenen Werte ein Urteil über eine Situation zu fällen versuchst, kann das in diesem Fall bedeuten, dass die Freundschaft tatsächlich enden sollte. Schließlich wollen wir das Verhalten einer Person nicht gutheißen, wenn er oder sie sich tatsächlich so verhält, wie hier behauptet wird. Du wirst nie die komplette Wahrheit kennen, weil sich alle Ereignisse unterschiedlich interpretieren lassen und Menschen sich selbst oder andere belügen können. Trotzdem solltest du dir beide Seiten anhören, anstatt alles aus zweiter Hand zu erfahren, um die Situation selbst einschätzen zu können. Anhand dieser primären Quellen verlässt du dich dann am besten auf dein Urteilsvermögen.
Du wirst nie wissen können, was genau passiert ist. Trotzdem kannst du die Situation anhand deiner eigenen Schlussfolgerungen einordnen. Du musst dir nicht sagen: „Ich werde es wohl nie erfahren können, also kann ich mir keine Meinung bilden.“ Oft bilden wir uns nämlich trotzdem Meinungen – selbst wenn unsere Version der Ereignisse von einer Seite geleugnet wird. Unser Verhalten richtet sich dann nach unserer eigenen Einschätzung. Das ist eine komplizierte Mischung aus Bauchgefühl und gesammelter Information. Du wirst von beiden Parteien nie dieselbe Antwort bekommen. Viel wichtiger ist aber, dass du dich selbst mit deiner Einschätzung der Situation wohlfühlst.
Wenn du selbst betroffen bist oder jemanden kennst, die oder der Opfer häuslicher Gewalt ist, kannst du dich beispielsweise unter der Nummer 08000 116 016 oder per Online-Beratung an das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ wenden – ein vertrauliches, kostenfreies 24-Stunden-Beratungsangebot, das anonyme, mehrsprachige und barrierefreie Unterstützung bietet. Eine Liste mit weiteren Ansprechpartnern findest du hier.
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