Als interneterfahrene 23-Jährige hatte Sarah* nie damit gerechnet, jemals einem virtuellen Liebesbetrug (oder „Love Scamming“) zum Opfer zu fallen. Als sie im Sommer 2020 eine Gaming-App installierte, war die einfach eine dringend nötige Abwechslung von der pandemiebedingten Langeweile. „Ich war aus gesundheitlichen Gründen länger in der Selbstisolation als meine Freund:innen“, erzählt sie. „Das Spiel war ein schönes Hobby und eine Möglichkeit für mich, mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen.“ Schon nach kurzer Zeit lernte sie über das Spiel Tom* kennen, einen US-Amerikaner im selben Alter wie sie. Die beiden freundeten sich schnell an, und bald wurde daraus ein Flirt. Sie hatten viele gemeinsame Interessen und hatten auch in Sachen Games und Musik einen ähnlichen Geschmack. Nach einiger Zeit glaubte Sarah daher, sie könnten perfekt zusammenpassen. „Er war so aufmerksam, und ich mochte ihn wirklich sehr. Er machte mir viele Komplimente und sprach immer wieder davon, wie gern er mich treffen würde.“
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Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Handynummern austauschten. Allerdings fand Sarah es komisch, dass er nie tatsächlich telefonieren konnte. „Die Warnzeichen waren da, aber ich war so einsam und wollte ihm einfach vertrauen“, sagt sie. „Er wirkte in vielerlei Hinsicht wie mein perfektes Match. Ich machte mir Hoffnungen, ihn nach der Pandemie auch mal treffen zu können.“ Nach ein paar Monaten ihrer Online-Beziehung fing Tom dann an, Sarah von seinen finanziellen Sorgen zu erzählen. „Ich wusste, dass er arbeitslos war. Weil wir beide so jung waren, ging ich davon aus, dass es ihm deswegen finanziell nicht gut ging. Er bat mich nie explizit darum, ihm Geld zu schicken – aber erwähnte doch, dass er Hunger hatte, es sich aber nicht leisten konnte, einkaufen zu gehen. Ich hatte so viel Mitleid, dass ich ihm meine Hilfe anbot.“ Im Laufe der darauffolgenden Wochen schickte sie Tom also über 450 Euro, bis ihre Freund:innen erste Zweifel an dieser Beziehung äußerten.
„Sie waren total misstrauisch. Also googelte ich die E-Mail-Adresse von seinem Gaming-Profil“, sagt Sarah. „Es stellte sich raus: Dahinter steckte in Wahrheit eine junge Frau, die genauso alt war wie ich.“ Obwohl Sarah zwar schon vorher den Verdacht gehabt hatte, dass hier irgendwas nicht stimmen konnte, war die Wahrheit dann doch ein echter Schlag in die Magengrube. „Ich stellte sie direkt zur Rede. Sie meinte erst, ich sei verrückt, und versuchte, mich zu gaslighten. Nach einiger Zeit gab sie dann aber doch zu, dass ich Recht hatte. Auf Facebook hatte ich gesehen, dass sie einen Freund hatte, und sie gestand, dass sie mein Geld benutzt hatte, um ihn zu besuchen.“ Im Laufe der nächsten Monate versuchte Sarah, ihr Geld zurückzufordern, bekam aber keine Antwort. Schließlich meldete sie sich via Facebook bei dem Freund der Frau und erklärte ihm die Situation. Obwohl er von alldem nichts mitbekommen hatte, entschuldigte er sich und drängte seine Partnerin dazu, Sarah das Geld zurückzugeben. Dennoch hatte Sarahs Selbstbewusstsein durch die ganze Sache einen ordentlichen Knacks abbekommen. „Seitdem fällt es mir extrem schwer, anderen zu vertrauen.“
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Obwohl Betroffene eines Liebesbetrugs nur selten ihre Erfahrungen teilen – und das gilt vor allem für junge Frauen –, ist Sarah längst kein Einzelfall. In Deutschland gibt es dazu keine konkreten Zahlen, aber in den USA ist mit dem Liebesbetrug allein im Jahr 2022 ein Schaden von 1,3 Milliarden Dollar entstanden, mit durchschnittlich rund 4.400 Dollar Verlust pro betroffener Person (umgerechnet etwa 4.000 Euro). Laut Daten der britischen Bank Barclays ist das Risiko, einem Liebesbetrug zum Opfer zu fallen, im vergangenen Jahr sogar noch gestiegen – aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten. Den Recherchen von Barclays zufolge nutzen „Love Scammer“ die finanziellen Nachwirkungen von Corona, dem Krieg in der Ukraine und der daraus entstandenen Inflation nämlich für neue Betrugstaktiken. Über ein Viertel aller Befragten (27 Prozent) gab an, durchaus dazu bereit zu sein, jemandem Geld für Rechnungen, Lebensmittel und andere wichtige Käufe zu schicken, den oder die sie online dateten. In den letzten sechs Monaten seien die Betrugsversuche um ganze 60 Prozent gestiegen, so Barclays, und 51 Prozent der 21- bis 30-Jährigen gaben an, in Dating-Apps immer mehr verdächtige Nachrichten zu bekommen. Und obwohl über die Hälfte der befragten 21- bis 30-Jährigen (54 Prozent) bekräftigten, sie seien sich sehr sicher, ihnen könnte so etwas nie passieren, ist die Wahrscheinlichkeit dazu bei ihnen doch doppelt so hoch wie bei den 51- bis 60-Jährigen.
Lisa Mills ist Expertin für Liebesbetrug bzw. Love Scamming und arbeitet für die Wohltätigkeitsorganisation Victim Support. Ihr zufolge unterscheidet sich dieser Scam von anderen Formen des Betrugs. Sie empfiehlt, bei Online-Freundschaften und -Beziehungen immer wachsam zu bleiben. „Liebesbetrüger:innen geben vielleicht vor, die gestiegenen Lebenshaltungskosten hätten sie in Schulden gestürzt, oder sie bräuchten dringend ein bisschen Geld, um den Alltag bewältigen zu können“, erklärt sie. „Die andere Konsequenz der aktuellen Wirtschaftskrise ist die, dass finanzielle Verluste Opfer eines Liebesbetrugs natürlich umso schwerer treffen, weil alles gerade so teuer ist. Wir unterstützen Leute, die durch die Kombination aus Betrug und Inflation Schwierigkeiten haben, sich grundlegende Dinge wie Essen und Heizkosten leisten zu können. Die Implikationen eines finanziellen Verlusts sind aktuell dramatischer denn je.“
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Seit einigen Jahren assoziieren viele von uns den Liebesbetrug mit einer ganz bestimmten Form von Opfer. Die meisten würden sich dabei wohl erstmal eine ältere Person vorstellen, die nicht viel Erfahrung mit dem Internet hat. Mills zufolge ist das aber ein enormer Irrglaube. „Letztes Jahr haben wir in unserer Organisation einen 38-prozentigen Zuwachs an Betroffenen festgestellt. 60 Prozent davon waren Frauen. Und weil immer mehr Menschen zur Zielscheibe für diese Scams werden, steigt das Risiko, selbst einem solchen Betrug zum Opfer zu fallen, für alle – auch für jüngere Frauen. Junge Menschen glauben oft, sie könnten selbst nie darauf reinfallen. Genau diese Einstellung macht sie allerdings potenziell anfälliger dafür, weil sie es sich gar nicht vorstellen können, dass die Person, mit der sie online schreiben, ein:e Betrüger:in sein könnte. Sie wissen oft nicht, nach welchen Warnsignalen sie Ausschau halten sollten.“ Sie ergänzt, dass eine „Internet-Affinität“ auch keinesfalls vorm Liebesbetrug schützt. „Dabei kommt emotionale Manipulation zum Einsatz, für die wir alle anfällig sein können. Technologische Kenntnisse machen dich dagegen nicht immun.“
Ross Martin, Head of Digital Safety bei Barclays, erklärt, es gebe diverse „rote Flaggen“ bzw. Warnsignale, vor denen du dich in sozialen Netzwerken oder Dating-Apps in Acht nehmen solltest. Dazu gehören Profile mit nur einem oder gar keinem Foto; glamouröse Bilder, die einen extravaganten Lifestyle suggerieren; extrem schnelle Antworten; frühe Liebeserklärungen; das Ablehnen von Treffen; oder das Zuschicken von Links zu Websites, auf denen du angeblich mehr über eine Person erfahren sollst. „Das größte Warnzeichen ist aber die Bitte um Geld, ob nun für einen angeblichen Notfall oder zur Investition. Du solltest immer hinterfragen, wieso dich jemand um Geld bitten könnte, und dir dazu immer die Meinung einer Vertrauensperson einholen.“
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Trotz der Tatsache, dass Love Scamming leider immer häufiger passiert, sprechen viele Betroffene immer noch ungern über ihre Erfahrungen, weil sie sich so sehr dafür schämen. Auch Sarah gesteht, dass sie sich danach „furchtbar“ fühlte, weil sie alle Warnsignale ignoriert hatte. „Ich war zu nett gewesen und hatte ‚Tom‘ zu schnell vertraut. Deswegen war ich danach extrem wütend auf mich selbst. Ich war damals einfach so einsam und wünschte mir eine Verbindung zu jemandem.“ Seitdem ist sie viel vorsichtiger geworden und benutzt keine Apps mehr, in denen es schwer ist, eine Person wirklich identifizieren zu können. „Heute konzentriere ich mich aufs Reisen und habe eine Auszeit vom Dating genommen. Zum Glück unterstützen mich meine Freund:innen total und haben mir versichert, dass das Ganze nicht meine Schuld war. Ich weiß heute, dass ich früher immer zu sehr darum bemüht war, anderen gefallen und es ihnen recht machen zu wollen. Das, in Kombination mit meiner Einsamkeit, machte mich wohl besonders anfällig für so einen Betrug.“
Die Liebesbetrug-Privatermittlerin Samantha Cooper erklärt, dass sich Betroffene eines Love Scams oft deswegen so schämen, weil unsere Gesellschaft häufig vorschnell urteilt und Opfer für ihre Erlebnisse selbst verantwortlich macht. „Opfer eines Liebesbetrugs sind oft gutherzig und sehr vertrauensvoll. Das sind eigentlich wundervolle Eigenschaften“, meint sie. „Wenn wir den öffentlichen Blick auf dieses Verbrechen ändern könnten, denke ich, dass sich viele andere Betroffene melden würden. Dann hätten wir aussagekräftigere Statistiken dazu.“ Sie glaubt, dass kleinere Fälle – bei denen Leute kleinere Summen verlieren – wegen der Scham und Stigmatisierung gar nicht erst gemeldet werden. „Wenn jemand etwas auf eBay kauft, den Karton öffnet und darin einen Backstein findet, erzählt die Person davon schon eher. Wenn aber Gefühle im Spiel sind, fällt es vielen sehr schwer, davon zu berichten.“ Cooper ergänzt, dass es schon schwierig sein kann, über jede gescheiterte romantische Beziehung zu sprechen; im Fall eines Liebesbetrugs gilt das umso mehr. „Ob du nun jemanden mehr magst als er:sie dich, ob du dich scheiden lässt oder verzweifelt nach Liebe suchst: Oft schämen wir uns für unsere Taten und Gefühle, wenn es um die Liebe geht. Und weil wir so schnell über andere und ihre Beziehungsfehler urteilen, ist es umso schwieriger, ganz offen und ehrlich davon zu erzählen.“
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Wie Mills befürchtet auch sie, dass Liebesbetrug so schnell nicht wieder verschwinden wird. „Niemand glaubt, das könne dir selbst passieren. In Wahrheit kann es aber sehr wohl passieren, und das in jedem Alter“, sagt sie. Denn obwohl sich junge Frauen vielleicht besser mit dem Internet auskennen, können auch sie mal unachtsam sein – vor allem auf Social Media. „Du bist mit der ganzen Welt verbunden, befindest dich aber gleichzeitig in einem sicheren Raum, in deinem Zuhause. Dadurch verlierst du vielleicht die Wachsamkeit, die du in der Außenwelt hättest. Leider tun Dating-Apps auch nicht viel gegen diese Verbrechen. Ich hoffe sehr, dass wir alle mit der Zeit weniger schnell verurteilen, damit wir eine ehrlichere Darstellung der Zahlen dieser Verbrechen bekommen – und sie dann hoffentlich besser verhindern können.“
*Name wurde von der Redaktion geändert.
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