WERBUNG
WERBUNG

Wenn über Nacht Europa zerbricht: So erlebe ich den Brexit in London

Ich bin vor sechs Wochen nach London gezogen. Sechs Wochen reichen im Normalfall gerade mal aus, ein neues liebstes Café zu finden und sich zu entscheiden, zu welcher Reinigung man seine Kleider bringt. In diesem speziellen Fall aber fühlt es sich so an, als ob ich bereits in zwei Ländern gelebt hätte: In einem Vereinigten Königreich vor dem Brexit-Referendum und in einem kleineren und engeren England danach. Bis zum 23.Juni merkte man in London eine Dynamik, die eindeutig nicht dem herbstlichen Wetter geschuldet war. Ich entdeckte nicht nur immer wieder neue Ecken in der Stadt, ich sah von Tag zu Tag mehr Leute an Straßenecken, vor U-Bahn-Eingängen, eigentlich überall in der Stadt, Werbung für das „Remain“-Lager machen und „I'm in“-Aufkleber verteilen. Keine grauen Herrschaften, wie die, die normalerweise auf deutschen Straßen Werbung für Politik im Allgemeinen und ihr Anliegen im Speziellen machen, es waren gut gelaunte Leute aus jeder Altersgruppe, die mir da Aufkleber an den Mantel hefteten. Man merkte, dass sie nicht aus Prinzip handelten, sondern um ihre Zukunft kämpften – eine klar europäische Zukunft. Ich ließ den Aufkleber aus Solidarität an meinem Revers und wir, die Leute, die bleiben wollten, die die Idee eines großen Europas mochten und das mit einem optimistischen „I'm In“ am Oberteil kundtaten, lächelten sich auf der Straße an. Und dann und über Nacht war die Welt des großen Europas und der lächelnden Remain-Verbündeten Teil einer vergangenen Welt. Schon am ersten Tag nach dem Referendum kündigen Briten einen Umzug nach Schottland an; spanische Freunde wollen ihre Wohnung im Osten Londons verkaufen und zurück auf's Festland ziehen. Eine Freundin von mir konnte es einfach nicht fassen, man merkte ihr an, dass das was da plötzlich in ihrem Land passiert einfach zu viel war, um einfach so Teil ihrer neuen Realität zu werden. Meine Sprachlehrerin fing fünf Tage nach Bekanntgabe des Ergebnisses im Unterricht an zu weinen. Sie und ihre Freunde würden sich gar nicht mehr nach Europa trauen, die Leute dort müssten doch denken, dass auch sie ein „Leaver“ sei. Egal wohin ich komme und kam, es gibt kein anderes Gesprächsthema mehr. In der Post, im besagten neuen Lieblings-Café, in der Supermarktschlange – der Brexit bringt die Leute dazu, jegliche Zurückhaltung über Bord zu werfen. Die rassistischen Übergriffe steigen bereits in der ersten Woche um fast 500 Prozent. Es wird eine Initiative ins Leben gerufen, die dazu auffordert eine Sicherheitsnadel zu tragen, wenn man ein öffentliches Zeichen gegen xenophobe Übergriffe setzen wolle und bereit wäre zu helfen. Anstelle des optimistischen Aufklebers jetzt also ein Zeichen, dass man denen hilft, die Opfer eines wütend zur Schau getragenen Fremdenhasses werden; eines Fremdenhasses, der denkt durch das Referendum-Resultat eine Berechtigung zu haben. Freunde fragen mich, ob ich angefeindet werde. Ich werde es nicht, aber meine polnische Freundin hat den Hass zu spüren bekommen. Hier, mitten im liberalen London. Die neue Realität schwappt auch in die virtuelle Welt über. In jeder wachen Sekunde ist man, zumindest mit einem Auge, auf der Webseite des Guardian. Die politischen Neuigkeiten überschlagen sich, die Politiker treten ab und zurück, ganz so, als ob sie Dominosteine seien, die von David Cameron angestoßen wurden. Es ist vollkommen akzeptabel unkonzentriert zu arbeiten, Facebook wird zur Informationsverbreitung und als Diskussionsforum genutzt; unpolitische Posts in meinem Newsfeed kommen nur noch aus anderen Ländern. Den Engländern ist die Lust an witzigen Videos vergangen. Wer will schon sehen was eine Katze im Astronautenanzug macht, wenn die eigenen Zukunftspläne in unbekannte Sphären geschoßen wurden? Niemand. Selbst beim Ausgehen wird darüber gesprochen, als ich Samstag Nacht nach Hause gehe, höre ich nicht den üblichen betrunkenen Chit-Chat, es wird lallend über den Brexit räsoniert. Mein „I'm In“-Aufkleber ziert dieser Tage ein wenig trotzig meinen Laptop. Ich klappe ihn auf und sehe, dass Theresa May die nächste Premierministerin werden wird. Sie wurde bereits mit Margaret Thatcher verglichen und ich habe die große Sorge, dass es in diesem Fall nicht nur am Frau-Sein liegt. Die Zukunft ist unsicher und das fühlt sich dieser Tage alles andere als aufregend an. Geschichte passiert. Vor unseren Augen. Und keiner weiß, wie es weitergeht.

More from Global News

WERBUNG