Nach der Zeit des „Babybooms“ in den 50ern und 60ern ging die Geburtenzahl in Deutschland stark zurück und erreichte 2011 mit rund 660.000 Lebendgeburten ihren bisherigen Tiefpunkt. Und obwohl die Zahlen seitdem wieder langsam steigen, wird immer wieder behauptet, die niedrige Geburtenrate sei dadurch zu erklären, dass Frauen zu sehr auf ihre Karriere fokussiert seien und ihren Kinderwunsch so lange vor sich herschieben würden, bis sie womöglich sogar schon unfruchtbar sind, wenn sie endlich versuchen, schwanger zu werden.
Und natürlich ist es richtig, dass die weibliche Fruchtbarkeit mit dem Alter generell nachlässt; mit dieser Tatsache verdienen Eizellen einfrierende Social-Freezing-Kliniken viel Geld. Dabei ist aber nur wenigen bewusst, dass die Fortpflanzungskrise nicht nur die weibliche Seite betrifft: Auch um Sperma steht es nicht gut. Darüber wird jedoch nur selten gesprochen.
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Globalen Daten zufolge geht es mit den Spermienzahlen schon seit einiger Zeit bergab. In anderen Worten: Männer haben immer weniger Spermien – und die sind häufig nicht so gute Schwimmer, wie sie sein sollten, um Eizellen befruchten zu können. Eine neue Studie hat ergeben, dass sich die Spermienzahl innerhalb der letzten 40 Jahre sogar halbiert hat und die Kurve immer drastischer fällt.
Die Studie aus dem Fachblatt Human Reproduction Update ergab, dass die durchschnittliche Spermienkonzentration zwischen den Jahren 1973 und 2018 von 101,2 Millionen pro Milliliter auf 49,0 Millionen pro Milliliter fiel – eine Abnahme von 51,6 Prozent.
Über weibliche Fruchtbarkeitsprobleme – darunter die Qual des vergeblichen Versuchs, schwanger zu werden, sowie die hormonelle Achterbahnfahrt der künstlichen Befruchtung – wird inzwischen häufiger berichtet denn je. Einerseits ist das eine gute Sache; es hat definitiv wichtige Gespräche eröffnet und Stigmata abgebaut. Andererseits sorgt der Druck, sich fortpflanzen zu wollen (und zu sollen?), in Kombination mit den gesellschaftlichen Urteilen darüber, wer wann Kinder bekommen sollte, dafür, dass die biologische Uhr in den Köpfen vieler Frauen immer lauter tickt – und schiebt ihnen die volle reproduktive Verantwortung in die Schuhe.
Wenn die Spermien also wirklich in einer Krise stecken, wieso wird das kaum besprochen?
Dr. Channa Jayasena ist ein international anerkannter Experte für reproduktive Endokrinologie und leitet neben seiner klinischen Arbeit derzeit ein Forschungsteam am Londoner Imperial College. „Ich glaube, im Zusammenhang mit männlicher Unfruchtbarkeit gibt es ein historisches, tief verwurzeltes Stigma“, erklärt er. „Mir ist klar, dass dasselbe auch früher für weibliche Unfruchtbarkeit galt. Meiner Meinung nach ist männliche Unfruchtbarkeit davon aber inzwischen stärker betroffen, weil sich Männer dahingehend viel seltener anderen anvertrauen.“
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Dr. Jayasena erkennt in den neuen Forschungsergebnissen einen besorgniserregenden Trend. „Schon vor ein paar Jahren galt männliche Unfruchtbarkeit als Hauptgrund dafür, dass sich Paare einer künstlichen Befruchtung unterziehen mussten“, sagt er. „Das ist also genauso geläufig wie unregelmäßige Eisprünge oder verklebte Eileiter der weiblichen Partnerin. Somit ist männliche Unfruchtbarkeit ein weit verbreitetes Problem.“
„Inzwischen haben wir auch genug Daten dazu, wie es auf anderen Kontinenten [als Nordamerika, Europa und Australien] aussieht. Die Studie hat [in Mittel-, Südamerika, Afrika und Asien] genau dasselbe ergeben“, erklärt er. „Unabhängig davon, wo wir leben, scheint es eine eigenartige, deutliche Reduktion der Spermienzahl zu geben.“
Natürlich sind alle Studien in gewisser Hinsicht eingeschränkt, und auch diese Studie kämpft mit dem Problem, dass sich das Zählen von Spermien als schwierig und nicht immer genau gestaltet. Und obwohl es demnach Kritik an der Herangehensweise dieser Studie gibt, sind die Daten laut Dr. Jayasena „die bisher besten Zahlen, die wir haben, und sie lassen vermuten, dass die Spermienzahl in der Weltbevölkerung tatsächlich zurückgeht“.
Was steckt also hinter diesem vermutlichen Rückgang? Da ist sich niemand ganz sicher; eine Theorie vermutet aber, dass endokrine Disruptoren (Stoffe, die den Hormonhaushalt beeinträchtigen können) in Form von Chemikalien wie BPA (Bisphenol A, ein Bestandteil von Plastik) womöglich männliche Föten im Uterus beeinflussen können.
In medizinischen Kreisen ist dieses Problem weitreichend bekannt, bekommt aber dennoch nicht die öffentliche Aufmerksamkeit, die es verdient. Die UN und die Weltgesundheitsorganisation WHO haben bereits gemeinsam vor dem Einfluss endokriner Disruptoren gewarnt und betont, wie wichtig es ist, uns ihnen weniger auszusetzen.
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„Dieses Thema wird definitiv immer größer“, meint Dr. Jayasena, „und wir bekommen gerade die ersten überzeugenden Studien dazu, wie sehr sich endokrine Disruptoren auf die reproduktive Gesundheit der Weltbevölkerung auswirken.“
„Das ist besorgniserregend“, fügt er hinzu und ergänzt, dass auch Lifestyle-Faktoren wie Alkoholkonsum, Rauchen, Übergewicht und Ernährung beim Spermienrückgang eine Rolle spielen könnten. „Es sind zwei Dinge passiert: zuerst die enorme Verbreitung des Übergewichts, weswegen unser Stoffwechsel weniger gesund funktioniert als früher. Zweitens kommt Plastik immer mehr überall zum Einsatz – von der Innenseite von Dosen bis hin zu unserer Zahnpasta“, erklärt er.
Lässt sich irgendetwas gegen die fallende Spermienzahl unternehmen?
Dr. Jayasenas Kollegin Dr. Lisa Webber ist Gynäkologin und Expertin für weibliche Fruchtbarkeit. Ihr zufolge ist es leichter, weibliche (Un-)Fruchtbarkeit zu messen und zu behandeln, als Spermien akkurat zu analysieren.
„Ich glaube nicht, dass alle Männer unfruchtbar werden“, sagt sie. „Die Daten lassen sich aber nur schwer überprüfen. Ich würde mir für die Zukunft einen nützlicheren Test zur grundlegenden Spermienanalyse wünschen, damit wir etwas haben, womit wir genauere Voraussagen treffen können. So könnten wir jungen Paaren, die noch den Luxus der Zeit haben, die Eigenschaften und Parameter ihrer Spermien präsentieren.“
„Stattdessen verbringe ich aktuell noch sehr viel Zeit damit, Männern zu versichern, dass sie nicht direkt unfruchtbar sind, bloß weil ihre Spermien vielleicht außerhalb des Normalbereichs liegen“, ergänzt Dr. Webber. „Wir brauchen daher bessere Tests, um den Leuten wirklich helfen zu können, denen wir früher helfen sollten.“
Dennoch macht sich Dr. Jayasena Sorgen darüber, wer in Zukunft überhaupt noch auf solche Fruchtbarkeitsbehandlungen zurückgreifen kann. „Wir brauchen Möglichkeiten dazu, männliche Unfruchtbarkeit auch tatsächlich behandeln zu können“, sagt er. „Momentan klappt das eigentlich nur über IVF-Therapien (also künstliche Befruchtung), die zwar sehr effektiv sind, aber eben auch enorm teuer [und in Deutschland nur zum Teil von Krankenkassen übernommen werden].“
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Unsere reproduktive Gesundheit betrifft uns alle – selbst diejenigen, die keine Kinder bekommen möchten, weil die Größe und Gesundheit unserer Bevölkerung unsere Gesellschaft, Demografie und die Funktionsmöglichkeiten unserer Wirtschaft beeinflussen. Die gute Nachricht ist aber, dass Fruchtbarkeitsanalysen, -behandlungen und -technologien immer fortschrittlicher werden. Dafür müssen wir aber erstmal offen drüber reden – auch mit und unter Männern.
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