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Mein Leben als 17-jährige ukrainische Geflüchtete nach 6 Monaten Krieg

Gestern war es genau sechs Monate her, seit Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel. Seit dieser ersten Invasion dauert der Konflikt damit schon viel länger an, als viele damals vermuteten, und hat Berichten zufolge schon mehr als 10.000 Menschen das Leben gekostet. Laut Schätzungen haben mittlerweile zwölf Millionen Ukrainer:innen ihr Zuhause hinter sich gelassen. Sie sind geflüchtet – sowohl innerhalb der Ukraine als auch ins Ausland –, um diesem fortwährenden Krieg zu entkommen.
Obwohl sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Medien langsam verlagert, ist die furchtbare Realität dieses Krieges für Geflüchtete und Kämpfende zugleich noch lange nicht vorbei – ob nun inner- oder außerhalb der ukrainischen Landesgrenzen.
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Eine der zwölf Millionen Geflüchteten ist die 17-jährige Anna Merchuk aus der westukrainischen Stadt Stryi. Das hier ist ihre Geschichte. 
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An dem Morgen, als die russischen Truppen mit dem Angriff großer ukrainischer Städte begannen, wachte ich in einem menschenleeren Haus auf. Meine Familie – mein Vater, meine Mutter und mein älterer Bruder – hatte das Haus schon frühmorgens verlassen. Nachdem ich meine morgendliche Routine erledigt hatte, machte ich mich auf den fünfminütigen Weg zur Schule. Mir wurde direkt klar, dass hier irgendwas nicht stimmte: Die Straßen waren wie leergefegt – total untypisch. Schnell warf ich einen Blick auf mein Handy und scrollte mich durch die Nachrichten. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ich das Gefühl hatte, dass hier gerade meine Welt zusammenbrach. Der Krieg hatte begonnen – hier, in meiner geliebten Ukraine.
Schon Anfang 2022 kursieren die ersten Gerüchte, der Krieg stehe kurz bevor. Wir sprachen alle darüber. Manche waren überzeugt, dazu würde es niemals wirklich kommen; andere fürchteten sich schon vor einem vermeintlich sicheren Krieg. Ich gehörte zu denen, die daran zweifelten. Ich hoffte einfach, das Ganze würde sich schon von selbst regeln, bevor es tatsächlich zu Kämpfen kommen würde.
Mein Leben vor dem Krieg war wundervoll. Ich verbrachte viel Zeit mit Lernen, weil ich mir eine Karriere in der Politik wünschte. Ich war und bin weiterhin eine Tochter, eine Enkelin, eine Schwester. Meine Familie steht sich sehr nah; oft treffen wir uns, um zusammen Musik zu machen. An Wochenenden organisierte ich mit einer Gruppe enger Freund:innen Veranstaltungen für andere Jugendliche. Das Leben war schön.
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Dieses Leben änderte sich jedoch schlagartig am 24. Februar. Anstatt weiter zur Schule zu laufen, sprintete ich zurück nach Hause, um meine Familie und engsten Freund:innen anzurufen. Sie waren alle in Sicherheit. Mein Kopf schien sich einfach abzuschalten – als steckte ich in einem Traum, aus dem ich sicher bald aufwachen würde. Am selben Abend setzte ich mir meine Kopfhörer auf, in der Hoffnung, die Musik würde meine ängstlichen Gedanken verstummen und mich endlich einschlafen lassen.
Unsere Community wurde über Nacht eine andere. So viele Leute verließen sofort die Stadt und versuchten, aus der Ukraine zu flüchten. Meine Familie blieb. Weil mein Vater und meine zwei älteren Brüder volljährige Männer sind, durften sie gar nicht gehen – sie mussten für das Militär verfügbar bleiben. Meine Mutter und ich brachten es nicht über uns, sie zurückzulassen. Noch nicht.
Niemand, auch nicht ich, ging mehr zur Schule. Stattdessen halfen meine Freund:innen und ich, wo wir nur konnten. Wir nähten Kissen, erstellten Abdeckungen aus Netzen, unter denen sich Autos vor russischen Truppen verstecken ließen, und machten Teigtaschen für ukrainische Soldat:innen. Ich legte quasi wochenlang keine Pause ein. Ich wollte mich nützlich fühlen.  
Mehrmals am Tag hallte eine Sirene durch die Stadt und alarmierte uns vor möglicher Gefahr; jedes Mal ging es dann direkt in den nächstgelegenen Schutzraum. Es war wahnsinnig stressig, und nach zwei Monaten in konstanter Angst beschlossen meine Mutter und ich, nach Kanada zu fliehen, wo ukrainischen Geflüchteten Zuflucht geboten wurde.
Ich packte Kleidung, Tagebücher und ein Armband, das mir meine Freund:innen geschenkt hatten, in einen Rucksack und einen Rollkoffer. Am 30. April standen meine Mutter und ich dann umringt von Verwandten und Bekannten am Busbahnhof und verabschiedeten uns von ihnen.
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Im Laufe der letzten Monate schwappen immer wieder Wellen der Schuldgefühle über mich hinweg, weil ich nicht in der Ukraine sein kann, um dort zu helfen.

Während der Hälfte der sechsstündigen Busfahrt zur polnischen Grenze saßen wir weinend im Bus. Wir waren überwältigt von Trauer, die wir schon so lange in uns herumtrugen.
Nach unserer Flucht blieben wir einen Monat lang in einem Warschauer Hostel, das uns beiden ziemlich gefährlich vorkam. Wir hofften, alles dabei zu haben, was wir für eine Reise nach Kanada brauchten. Dann fanden wir allerdings heraus, dass Kanada zur Einreise eine Corona-Impfung voraussetzte – und ich war nicht geimpft. Also setzten wir uns wieder in den Bus und fuhren zurück in die Ukraine, damit ich mich dort impfen lassen konnte.
Auf dem Rückweg nach Stryi lernten wir einen ehrenamtlichen Helfer kennen, der uns von einem britischen Angebot für die Unterbringung ukrainischer Geflüchteter erzählte. Als wir zu Hause ankamen, beschlossen wir, statt nach Kanada also nach Großbritannien zu reisen, weil wir dort bessere Möglichkeiten und Unterstützung bekämen. Schon am nächsten Tag nahmen wir also erneut einen Bus nach Polen, diesmal mit einem neuen Plan im Gepäck. Dieses ganze Hin und Her war sehr anstrengend. Ich hatte das Gefühl, über so vieles keinerlei Kontrolle zu haben.
Diesmal übernachteten wir in Polen in einem Zentrum für freiwillige Helfer:innen. Dort lernten wir unseren britischen Betreuer und eine Gruppe aus Leuten kennen, die uns dabei halfen, ein Visum für Großbritannien zu bekommen. Schon zwei Wochen später war das Visum da, und wir machten uns sofort auf den Weg nach Milton Keynes, eine dreitägige Autofahrt entfernt. Die Fahrt war unerwartet unterhaltsam – eine schöne Überraschung in all diesem Trauma. Unser Betreuer fuhr uns hin, und wir quatschten die ganze Fahrt über und hörten Rockmusik.
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Schließlich kamen wir in unserem neuen „Zuhause“ an, einem Haus voller Leben. Die Familie unseres Betreuers teilte es sich mit zwei anderen geflüchteten Familien. Das Haus war also ordentlich voll und brachte uns so viel Freude und Ablenkung.
In dieser Nacht schlief ich zum ersten Mal wieder richtig gut.
Meine Freund:innen und Verwandten in der Ukraine sind aber weiterhin nicht in Sicherheit. Immer, wenn ich daran denke, werde ich unruhig. Ich spüre die Angst in mir brodeln, selbst wenn ich versuche, sie zu unterdrücken. Im Laufe der letzten Monate schwappen auch immer wieder Wellen der Schuldgefühle über mich hinweg, weil ich nicht in der Ukraine sein kann, um dort zu helfen.
Weil ich nicht dort bin, helfe ich stattdessen hier, in Großbritannien, so gut ich eben kann. Ich gehöre zu Homes for Ukraine, einer Organisation, die die Umsiedlung von geflüchteten Ukrainer:innen nach Großbritannien erleichtern will. Ganz oft verbringe ich sämtliche Zeit mit diesem Projekt, vom Aufstehen bis zum Abendessen. Ohne diese Arbeit würde ich mich sehr verloren fühlen und wäre sicher auch depressiv. Durch meine Mithilfe weiß ich aber, dass ich etwas Nützliches tue – und das verleiht mir die Kraft, weiterzumachen.
Im September fange ich hier auf der Schule mit der Oberstufe an. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, auf welche Fächer ich mich konzentrieren will, tendiere aber zu Mathe, Geschichte und Englisch. Das ist der erste Schritt in Richtung meines Ziels: Ich will studieren und irgendwann in die Ukraine zurückkehren, um dort beim Wiederaufbau nach dem Krieg zu helfen.
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Russland hat mir meine Kindheit genommen. Mir wurde ein Erwachsenenleben aufgezwungen, um das ich nicht gebeten habe.
Aber ich lasse nicht zu, dass mir Russland auch noch meine Zukunft stiehlt.
Du möchtest Geflüchteten aus der Ukraine helfen? Alles dazu, was du selbst tun kannst, findest du zum Beispiel auf der Website der Caritas
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