Junge Aktivist*innen werden nicht oft wie Politpopstars behandelt. Malala Yousafzai ist die Ausnahme. Die schrillen Stimmen, den Applaus, mit dem sie lauthals in Empfang genommen wird, würde man sonst auf einem Justin-Bieber-Konzert vermuten. Malala besucht die Stadt Lancaster im US-amerikanischen Pennsylvania, sie spricht an einer High-School und auf einer Veranstaltung. Ein Mädchen umarmt sie und bricht in Tränen aus, eine weitere junge Frau, die selbst Fluchthintergrund hat, kann ihr Glück kaum fassen, als sie Yousafzai nach der Ansprache auf der Bühne ihrer High-School persönlich eine Frage stellen darf. Ihr Publikum besteht aus Jungen und Alten, alle sind dem Charme und der Message der 20-Jährigen verfallen, überall im Saal ist Zustimmung und Freude zu hören, während Malala sich samt Sicherheitspersonal durch die Menge vorkämpft.
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Die ekstatische Stimmung zeugt von der Relevanz der jungen Pakistanerin, die vor vier Jahren die Welt auf sich aufmerksam machte: Mit 15 wurde sie mit einer Gruppe von Mitschülerinnen Opfer einer Attacke der Taliban – weil sie trotz eines allgemeinen Schulverbots für Mädchen darauf bestand, im pakistanischen Swat Distrikt zur Schule zu gehen. Seitdem ist sie die bekannteste Aktivistin für Bildung von Mädchen weltweit. Mit 17 gewann sie den Friedensnobelpreis und wurde zur jüngsten Preisträgerin der Geschichte. Malala Yousafzai ist heute 20 geworden und kämpft unermüdlich weiter für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Diesmal macht sie im Rahmen einer internationalen Tournee auf ihr Ziel aufmerksam.
Lancaster, eine kleine Stadt im US-Bundesstaat Pennsylvania, macht seit einiger Zeit Reden von sich als offener und toleranter Ort für geflüchtete Menschen und geht als Beispiel für gelungene Integration voran. Somit ein perfekter Start für Yousafzais „Girl Power Trip“, der sich über vier Kontinente und mehrere Monate zieht und die junge Aktivistin zum ersten Mal auch nach Südamerika bringt. Das Ziel ihrer Reise ist es, junge Frauen und Mädchen zu treffen, sich ihre Geschichten anzuhören und mit ihnen gemeinsam auf die Brisanz eines weltweiten Bildungsauftrags aufmerksam zu machen. Die 20-jährige Pakistanerin hat kürzlich die Schule beendet und geht im kommenden Herbst an die Universität – Bildung ist also auch für sie ganz persönlich ein hochaktuelles Thema.
Das wird auch klar, als wir uns im Rahmen ihres Besuchs in Lancaster mit ihr unterhalten. Mit gerade mal 1,55 Metern und einer zarten Stimme macht sie einen sehr viel verletzlicheren Eindruck als die Person, die voller Selbstbewusstsein auf der Bühne steht und rhetorisch gekonnt sämtliche Regierungsoberhäupter dieser Welt anprangert. Trotz all des Rummels, der um ihre Person gemacht wird, wirkt sie außergewöhnlich ruhig. Im Gespräch ergibt sich dann aber doch eine große Sorge von Malala: Hausaufgaben. „Die Menschen vergessen oft, dass ein Friedensnobelpreis nicht bedeutet, dass man von Hausaufgaben und dem Schulalltag befreit ist“, erinnert sie. „Gerade lerne ich für Wirtschaft, Mathe und Literaturwissenschaften. Alle drei Fächer sind ziemlich schwer. Die Bücher dafür nehme ich in meiner Tasche überall mit hin.“
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Die Menschen vergessen oft, dass ein Friedensnobelpreis nicht bedeutet, dass man von Hausaufgaben und dem Schulalltag befreit ist.
Malala Yousafzai
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Auch über die Wahl der Hochschule wurde schon gemunkelt: Stanford vielleicht? Nein, Yousafzai hat sich für die Uni im britischen Oxford entschieden, was näher bei Birmingham, dem neuen Wohnort ihrer Familie liegt. Philosophie, Politik und Wirtschaft möchte sie studieren, und irgendwann einmal Premierministerin von Pakistan werden – aber erstmal muss sie nach Oxford. Die Universität hat ihr bereits ein Angebot gemacht, doch um das Ganze ganz offiziell machen zu können, müssen die letzten Prüfungen erfolgreich abgeschlossen werden. Deshalb sitzt die angehende Studentin nun zwischen den Events gleich an vier Hausarbeiten und bereitet sich .nebenbei noch auf eine Ehrung durch die Vereinten Nationen und ein Treffen mit dem kanadischen Premier Justin Trudeau vor.
Als wir sie fragen, ob sie sich auf Trudeau freut, lächelt sie schelmisch, „Oh, ja“
Es ist eine aufregende Zeit für Malala, doch das, wofür sie steht, war nie wichtiger. Die Bildung von Mädchen und Frauen gilt als das wichtigste Instrument, um Gleichberechtigung weltweit zu schaffen. Ein Anliegen, das neben humanitären Brennpunkten oft als sekundär behandelt wird. Schätzungsweise 130 Millionen Mädchen weltweit haben keinen Zugang zu Bildung. Die Gründe sind so unterschiedlich, wie sie komplex sind: Zwangsheirat von Minderjährigen, staatliche Unterdrückung, gesellschaftliche Gewalt und sogar Mangel an Hygieneprodukten halten junge Frauen weltweit davon ab, ihr Potenzial zu erreichen. Zwar wurden auch schon Erfolge verzeichnet, doch die großen Migrations- und Fluchtwellen, sowie der Aufstieg von nationalistischem Gedankengut in vielen Ländern hindern die Demokratisierung der Bildung rund um die Welt.
Malalas Erfolg bringt die Relevanz dessen einerseits zurück auf die Weltbühne, jedoch lastet so auch erheblicher Druck auf der Teenagerin: „Es ist eine riesige Herausforderung, weil Bildung ein Thema ist, das nur im Kontext von unzähligen anderen Themen zu betrachten ist, wie etwa kulturelle Tabus und Armut“, sagt sie im Gespräch. Sie hat sich jedoch selbst versprochen, „stark zu bleiben, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und immer einen Schritt voraus zu sein“ in allem, was sie tut – auch in der Unterstützung von Geflüchteten. „Wenn wir sie nicht jetzt unterstützen, all die Kinder, die schon jetzt Jahre nicht mehr zur Schule konnten, dann verlieren wir ganze Generationen.“
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So kurz vor dem ganz persönlichen Meilenstein namens Oxford ist das ein ganzes Stück Verantwortung. Was passiert, wenn die berühmteste junge Aktivistin der Welt erwachsen wird? „Es ist sehr spannend, weil sie jetzt selbst entscheiden kann, wer sie sein will“, sagt Shiza Shahid, Mitbegründerin des Malala Funds und ehemalige CEO, die Malala und ihre Familie schon vor der Attacke durch die Taliban kannte. „Sie wird von ihrer Überzeugung und dem Ziel ihrer Mission getrieben sein, ganz egal, wie sie sich entwickelt.“
Dabei ist Malalas Weg alles andere als einfach gewesen. Nachdem die Taliban im pakistanischen Swat Distrikt an die Macht kamen, verboten sie Mädchen zur Schule zu gehen. Malala war damals gerade einmal 11 Jahre alt und wurde, ermutigt durch ihren Vater, der selbst Schuldirektor und langjähriger Aktivist in diesem Bereich war, zur Stimme der betroffenen Mädchen und ihrer Bildung. Mit einem anonymen Blog auf BBC und etwas weniger anonymen Auftritten und Interviews setzte sie sich der Öffentlichkeit aus. Dass diese Arbeit Gefahren bergen würde, war den Yousafzais bewusst, doch sie unterschätzten das tatsächliche Ausmaß. Niemand hätte gedacht, dass die Militärs tatsächlich Kinder angreifen würden. Doch am 9. Oktober 2012 wurden sie eines besseren belehrt. Malala fuhr im Schulbus mit ihren Mitschüler*innen, als ein Mann den Bus betrat. „Wer von euch ist Malala?“, brüllte er. Er zog eine Colt .45 heraus und schoss Malala ins Gesicht. Zwei ihrer Freundinnen wurden bei dem Angriff ebenfalls verletzt.
Dass sie überlebte, war ein Wunder. Sie wurden sofort ins Militärkrankenhaus gebracht und notoperiert und zur weiteren Behandlung nach Großbritannien ausgeflogen. Ihre Familie, samt ihrer zwei jüngeren Geschwister folgten ihr und ließen sich in Birmingham nieder, da von Anfang an klar war, dass es nun zu gefährlich würde, nach Pakistan zurückzukehren. Bis heute ist es ihnen unmöglich, ihre Heimat zu besuchen.
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Sechs Monate später packte Malala ihren pinkfarbenen Rucksack und ging wieder zur Schule – nur eben in England. 2013 gründete sie den Malala Fund, der seit seiner Gründung über 7,5 Millionen Euro in die Bildung von Mädchen und Frauen, weltweite Initiativen sowie den Bau von Schulen investiert hat. Die Stiftung hat mittlerweile neue Tochterstiftungen, die sich um innovative Lösungen für den Nachwuchs kümmern, für diejenigen, die nach Malala kommen.
So auch am 11. April in Lancaster: Malala sitzt nach ihrer Rede in einem kleinen Raum und unterhält sich mit einer Gruppe von jungen Frauen und geflüchteten Mädchen, die ihr ihre Geschichten erzählen. „Es ist eine Menge Arbeit“, sagt Marie Claire, eine junge Frau, die aus der Zentralafrikanischen Republik fliehen musste. „Wir können das nicht, was andere Kinder hier können. Wir können nicht so schreiben oder tippen oder rechnen, wie andere Kinder es können.“
Marie Claires Finger streichen immer wieder an der Tischkante entlang. Sie ist 20 Jahre alt und, wie Malala, die Überlebende von unvorstellbarer Gewalt. Ihre Familie musste den Kongo, ihre Heimat, verlassen, als sie noch klein war. Sie flohen nach Sambia, wo sich die Situation jedoch nur verschlimmerte. Sie beherrschte die Sprache nicht und konnte nicht zur Schule gehen. Eines Nachts brachen mehrere Menschen in ihr Zuhause ein und töten ihre Mutter vor ihren Augen. Ihr Vater wurde brutal geschlagen, doch er überlebte. „Wir dachten, sie wären beide tot, aber Gott war gnädig“, sagt sie. Sie flohen erneut. Marie Claire hatte davon geträumt, nach Amerika auszuwandern, doch sie fing an, die Hoffnung zu verlieren. Doch 2015 war es soweit und sie wurden nach Lancaster geholt. Marie Claire absolvierte 2016 die High-School und bewarb sich an Unis. Der Gedanke an die horrenden Kreditsummen, die ein Collegeabschluss in den USA mit sich bringt, hat sie nicht abgeschreckt. Neben Marie Claire sitzt ein anderes, jüngeres Mädchen und weint: „Ich werde irgendwann Krankenschwester sein. Ich werde es schaffen!“
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Meist überlässt Malala ihrem Vater, Ziauddin, das Wort, wenn sie in kleinen Gruppen sprechen. Wenn sich jedoch eine Person öffnet und ihre eigene Geschichte erzählen will, wird Malala ganz still und schenkt ihr ihre volle Aufmerksamkeit. Marie Claires Schicksal hat sie besonders mitgenommen. In unserem 20-minütigen Interview erwähnt sie sie immer wieder. „Sie hat ihre Mutter verloren, sie wurde vor ihren Augen umgebracht, sie musste zweimal fliehen und gibt nicht auf, nein, stattdessen träumt sie von einem Universitätsabschluss, möchte lernen, sich bilden, ihrer Gemeinschaft helfen“, bemerkt Malala. „Sie steckt voller Hoffnung, und das stimmt auch mich hoffnungsvoll. Ich habe Hoffnung, dass die Zukunft doch noch Gutes bringt.“
Im Laufe des Tages begleiten wir Malala noch zum „Church World Service“, wo sie mit weiteren Menschen mit Fluchtgeschichte spricht und Gemeindevorsitzende zum Essen trifft – das Restaurant serviert nepalesische Gerichte, der Besitzer ist selbst einst geflüchtet. Während der ganzen Zeit strahlt sie eine geerdete Entschlossenheit aus, eine gnädige Aura. „Ich habe das Schlimmste schon erlebt“, sagt sie sehr sachlich. „Das ist nun einmal die Realität.“
Doch es gibt Momente, da sieht man in Malala eine Teenagerin, wie sie leibt und lebt: wenn sie ihren Schrittezähler stolz herumzeigt, weil sie beim Treffen mit der UN ganze 18.700 Schritte einheimsen konnte, wenn sie auf dem Rücksitz des Autos sitzt und zwischen den Meetings Pringles isst und dabei ihre liebste Serie binge-watcht. Sie trägt ein farbenfrohes Gewand und ein Tuch auf dem Kopf, unscheinbare High Heels blitzen unter den Hosenbeinen hervor. Auf der Bühne sagt sie mit einem Lachen, dass sie den Absatz braucht, um ans Mikrofon zu kommen.
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Die Reden vor großem Publikum machen ihr eigentlich nichts aus, erzählt sie im Gespräch, aber vor der Klasse einen Vortrag zu halten, macht sie jedes Mal sehr nervös. So sehr, dass sie oft anfängt zu zittern. „Ich habe großen Respekt vor meinen Lehrern und Lehrerinnen“, erwähnt sie. „In der Schule möchte ich außerdem perfekt sein, das ist mehr Druck.“
Zuhause in England ist sie die große Schwester. „Wenn ich einfach so ins Zimmer meiner Brüder gehe, schmeißen die mich sofort raus“, sagt sie und kichert. „Wir führen ein sehr normales Leben. Sie streiten sich und lachen dann miteinander“, fügt ihr Vater hinzu. „Als sie gestern von der UN zur jüngsten Friedensbotschafterin aller Zeiten gekürt wurde, habe ich ihr danach ins Ohr geflüstert ‚Ich hoffe, das ziehst du jetzt auch bei uns zuhause durch mit dem Frieden‘.“
Today is my last day of school and my first day on @Twitter [THREAD]
— Malala (@Malala) 7. Juli 2017
Malalas Abiturprüfungen sind jetzt vorbei. Am 7. Juli war ihr letzter Schultag – und ihr erster Tag auf Twitter. Ihre Augen strahlen, als sie von der „neuen Phase in ihrem Leben“ spricht. „Ich werde nicht mehr mit meinen Eltern zusammenwohnen. Ich werde mein Leben selbst organisieren müssen, vom Frühstück über das, was ich anziehe bis hin zu meinen Verabredungen, meinen Aufgaben und meiner Schlafenszeit“, sagt sie voller Aufregung. „Ich glaube, es wird gut.
Oxford ist zwar nur eine Stunde von Birmingham entfernt, aber ihre Familie rechnet mit großen Veränderungen, jetzt, da die Erstgeborene das Nest verlässt. Zum Ende ihres Besuchs an der High-School in Lancaster posiert sie noch für ein Bild, das an ein klassisches Prom-Foto erinnert. Hinter der Kamera schaut Ziauddin seiner Tocher zu. „Nach all den traumatischen Erlebnissen waren wir nie getrennt, wir haben immer zusammengehalten“, sagt er andächtig. Plötzlich hört man in seiner Stimme Bedacht, aber auch eine optimistische Sänfte, die in seinem sonst eher strammen Ton in den Hintergrund tritt. „Es wird schwierig, aber sie muss es tun. Sie muss ihr eigenes Leben leben.“
Der Text wurde redaktionell leicht geändert und gekürzt.
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