Dein Vater fährt dich zur Schule, es läuft die Musik seines ägyptischen Lieblingssängers, ihr tanzt und singt und klatscht an jeder roten Ampel zum Takt. Die Klänge, aber vor allem die Freude in den Augen deines Vaters machen dich glücklich. Sobald ihr in die Straße deiner Schule einbiegt, bestehst du darauf, eine deutsche Radiosendung einzuschalten, damit niemand mitkriegt, was du hörst und dich damit aufzieht.
Im Deutschunterricht bist du besser als alle anderen. Dein Lehrer hält deutsch-deutschen Kindern vor, „sogar“ du seist besser als sie, sie sollen sich doch bitte etwas anstrengen.
An der Uni merkst du spätestens im Seminar über die „Metaebenen des Hip-Hop und seine kulturelle Bedeutung für Afroamerikaner“, in dem 17 weiße Menschen und du über Personen an der Armutsgrenze in den Projects Brooklyns sinnieren, dass dieses Studium nichts für dich ist.
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Du stehst mit deiner Mutter in der Garderobenschlange. Eine Frau stellt sich vor dir auf und fragt lauthals, ob du Filipina bist. Du antwortest mit Nein, lächelst. Die Frau fragt erneut nach, besteht darauf, dass du so aussiehst, als ob. Du lächelst, schüttelst den Kopf. Die Leute treten einen Schritt zurück, betrachten dich, betrachten deine Mutter, es bildet sich ein Kreis. Sie grinsen, merken nicht, dass es übergriffig ist, dass es unangenehm ist, wie ein Zootier vorgeführt zu werden.
Auf dem Heimweg von der Uni steht eine Gruppe Skinheads, du läufst mit einem Freund an ihnen vorbei, sie heben den rechten Arm. Ihr wechselt die Straßenseite, lauft schnell weiter.
Auf dem Heimweg von der Uni laufen dir zwei Skinheads entgegen, von Kopf bis Fuß in Thor Steinar gekleidet. Sie bleiben stehen, schauen dich an. Deine Mutter hat dir beigebracht, wenn du aufrecht gehst und die Brust rausstreckst, wirkst du selbstbewusst, dann ist es nicht so wahrscheinlich, dass dich jemand angreift, also tust du es. Als du an ihnen vorbeigehst, spucken sie dir hinterher.
Du hast deinen Abschluss in der Tasche, ziehst zurück in deine Heimatstadt, suchst eine Wohnung. Bei der Wohnungsbesichtigung versichert der Makler den Interessent*innen: „Keine Sorge, die Mieterschaft ist größtenteils deutsch “, sein Blick wendet sich zu dir, „nichts gegen Sie!“
Diese Aussage hörst du immer und immer wieder, während dein Bruder und seine Frau, selbst auf Wohnungssuche, entschlossen haben, bei Bewerbungen fortan seinen Namen nicht mehr anzugeben, obwohl er wesentlich mehr verdient als sie. So erhalten sie mehr Rückmeldungen.
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Du teilst deine Erfahrungen mit Bekannten, Freund*innen, Kolleg*innen, Politiker*innen – sie glauben dir, ABER. Dieses Aber, es gibt immer eins. Sie sagen: „Hab’ dich nicht so“ und „Immer hast du 'was zu meckern, dir geht’s doch gut“ und „Dein Lehrer hat es nur gut gemeint“. Aber „gut gemeint“ reicht nicht mehr.
Seit gestern sind wir mit #MeTwo Nummer 1 unter den Trends - der größte Aufschrei der Menschen mit Migrationshintergrund! Haben wir das Zeug eine Bewegung zu werden? Postet weiter und lasst gehört werden, damit niemand sagen kann: "Wir hatten nichts davon gewusst"! pic.twitter.com/cVTyCmhuo3
— Ali Can (@alicanglobal) July 27, 2018
Unter dem Hashtag #MeTwo teilen seit zwei Tagen genau deshalb Menschen ihre Diskriminierungserfahrungen auf Twitter. Der Rücktritt des ehemaligen Nationalspielers der deutschen Fußballelf Mesut Özil hatte am vergangenen Sonntag eine bundesweite Debatte über Rassismus in Deutschland losgetreten und wurde seither von allen denkbaren Seiten kommentiert. So startete Ali Çan, der Gründer der Hotline für besorgte Bürger und Bürgerinnen, den Hashtag, um jenen Menschen eine Plattform zu bieten, die sonst kein Publikum, keine Reichweite, keinen öffentlichen Einfluss und somit kein Gehör haben. Es ist authentisch, es ist erschütternd, es ist ein Spiegel, der uns dieses Land von seiner teilweise hässlichsten Seite vorhält.
Nein, „gut gemeint“ reicht nicht mehr. Denn „gut gemeint“ ist auch nur knapp daneben. Und knapp daneben ist bekanntermaßen auch vorbei. „Gut gemeint“ heißt, dass die Grenze des Tolerierbaren Interpretationssache ist. Und Interpretationssache heißt aus Erfahrung, dass sich an der Interpretation derer orientiert wird, die am Hebel sitzen. Dass im See von Stimmen nur diejenigen gehört werden, denen man sowieso schon zuhört; die, die am lautesten sind. Dabei muss die Grenze des Tolerierbaren von denen definiert werden, die tolerieren müssen.
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