Ash ist 42 Jahre alt und hat eine sehr schwierige Beziehung mit ihrer Mutter. „Je älter ich werde, desto mehr wird mir bewusst, dass unsere Meinungen, Ansichten und Persönlichkeiten total auseinandergehen“, erzählt sie und gesteht: „Wenn ich mal ehrlich bin: Wenn sie nicht meine Mutter wäre, wäre sie kein Mensch, den ich freiwillig in meinem Leben haben wollen würde. Ich grause mich vor ihren Besuchen. Wir haben nichts, worüber wir uns unterhalten können, und meine Stimmung ist jedes Mal total im Keller.“
Darunter leidet auch ihre Beziehung – denn ihr Partner bemerkt, dass sie in Gesellschaft ihrer Mutter zu einem anderen Menschen wird. „Zeitweise hatte ich deswegen auch gar keinen Kontakt zu meiner Mutter. Aber jedes Mal, wenn wir dann doch wieder miteinander sprechen, kehrt sie zu ihrem alten Verhalten zurück. Sie ist in ihren Achtzigern, bei bester Gesundheit und körperlich fit. Sie arbeitet sogar noch in Teilzeit. Nach außen hin halten sie viele Leute deswegen für total toll. Wer ihr aber näher steht, weiß, dass sie ein sehr negativer Mensch ist. Sie ist egoistisch und letztlich nicht mal sehr glücklich. Jedes Mal, wenn wir uns treffen oder sie zu Besuch kommt, merke ich, dass ich mich immer weiter von ihr distanziere. Was soll ich tun? Was kann ich machen, um unsere Beziehung erträglicher zu machen?“
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Dr. Sheri Jacobson, eine pensionierte Psychotherapeutin mit über 17 Jahren Berufserfahrung, kann hier weiterhelfen.
Dr. Sheri Jacobson: Zuallererst solltest du dich fragen, ob die Familie für dich oberste Priorität hat. Wie wichtig ist dir deine Familie innerhalb deines Wertesystems? Hat die Stellung deiner Familie in diesem System für dich bisher gut funktioniert? Oder wäre es womöglich besser für dich, enge Freundschaften und Beziehungen höher zu priorisieren, notfalls auch auf Kosten deiner Familienbeziehungen? Wir gehen oft ganz selbstverständlich davon aus, wir müssten die engsten Bindungen zu den Menschen haben, mit denen wir verwandt sind – nach dem Motto „Blut ist dicker als Wasser“. Tatsächlich gibt es aber sehr viele zerklüftete Familien, getrennte Familien. Um diese Risse zu „reparieren“, opfern wir oft sogar unser eigenes seelisches Wohlbefinden. Dabei ist das gar nicht immer nötig.
Wenn du für dich beschließt, dass die Familie in deinem Leben die wichtigste Rolle einnehmen soll, kann das harte Arbeit bedeuten. Manchmal ist das mit Teamwork machbar – zum Beispiel bei einer Familientherapie. Oft muss aber jemand die Zügel in die Hand nehmen, um diese Bemühungen voranzutreiben. In dem Fall liegt es dann an einer Person (in diesem Fall womöglich an dir), die größere Last auf die Schultern zu nehmen und zu versuchen, eure Differenzen zu überbrücken. Dazu kommt leider oft die Schwierigkeit, dass viele Leute in ihrer Einstellung ziemlich stur sein können und sich daher nur ungern verändern. Worüber wir aber sehr wohl die Kontrolle haben, ist unsere Reaktion auf das Verhalten anderer Leute. Manchmal ist es leichter, zu akzeptieren, dass sich unser Gegenüber nicht verändern wird, anstatt es dazu zu zwingen.
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Viele Menschen können höflicher und sympathischer mit Fremden umgehen als mit den Menschen, die ihnen am nächsten sind. Daher kann es vorkommen, dass Eltern ihren Kindern gegenüber (und umgekehrt) aggressiver auftreten als gegenüber Außenstehenden. Das liegt daran, dass wir eine gewisse Fassade aufrechterhalten müssen, um beispielsweise einen Job zu behalten; unsere Familie vergibt uns solches Verhalten schon eher (zumindest glauben wir das). Gleichzeitig kann genau dieses Verhalten im engeren Umfeld natürlich viel tiefere Narben hinterlassen.
Was bleibt dir also übrig? Du hast die Option, deine Perspektive zu ändern. Das lässt sich beispielsweise in Form eines Gedankentagebuchs machen (eine verbreitete Praxis in der kognitiven Verhaltenstherapie). Dabei schreibt du deine Gedanken auf, sowie die Gefühle, die davon ausgelöst werden. So ermöglichst du dir eventuell einen neuen Blickwinkel. Vielleicht denkst du zum Beispiel: „Sie ist eine schwierige Frau mit hohen Erwartungen an sich selbst, die sie auch auf mich überträgt.“ Danach bewertest du dann, wie du dich deswegen fühlst.
So weit, so abstrakt. Der andere wichtige Bestandteil der kognitiven Verhaltenstherapie ist aber natürlich das Verhalten. Wie benehmen wir uns in der Gesellschaft dieser anderen Person? Können wir uns ihr beispielsweise kürzer aussetzen, indem wir die Treffen kürzer halten? Können wir Grenzen ziehen, indem wir zum Beispiel etwas sagen wie: „Es ist dir vielleicht nicht bewusst, aber es tut mir weh, wenn du so etwas sagst“? Sobald du einmal klargemacht hast, dass du dich unwohl fühlst, kannst du weitere Grenzen ausloten. Deine Mutter wird sich wahrscheinlich nicht grundlegend ändern – sie sollte aber wissen, was sie mit ihrem Verhalten bei dir anrichtet. Und vielleicht berücksichtigt sie deine Gefühle dann beim nächsten Treffen schon ein wenig mehr.
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Wenn du verhindern willst, dass sich eine solche Beziehung weiter verschlimmert, solltest du dabei vor allem auf Selfcare achten. Nutze deine eigenen Gefühle als eine Art Barometer: Wie stark wirkt sich das Verhalten deiner Mutter von Mal zu Mal auf dich aus? Das ist ein wichtiger Ausgangspunkt, um dich selbst an eure Situation anzupassen – und dein Denken ein wenig zu modifizieren, um dich selbst besser schützen zu können. Dieser Selbstschutz kann verhindern, dass alles außer Kontrolle gerät.
Es gibt keine konkreten Regeln dazu, wann du welche persönlichen Grenzen innerhalb deiner Familie ziehen solltest. Das hängt alles davon ab, wie wichtig dir euer Kontakt ist – und wie weit du zu gehen gewillt bist, um diese Beziehung aufrechtzuerhalten. Das absolute K.O.-Kriterium ist für viele Menschen der Missbrauch. In welchem Ausmaß wirst du verbal, körperlich oder emotional manipuliert oder sogar missbraucht? An oberster Stelle sollte dir hierbei vor allem eines stehen: Der Selbstrespekt.
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