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Stehe ich wirklich auf ihn – oder ist er einfach… immer da?

Foto: Renell Medrano.
Als die 24-jährige Lucy* in einem neuen Restaurant zu kellnern anfing, hatte sie für ihren Manager kaum einen zweiten Blick übrig. Nach etwa drei Wochen regelmäßiger Schichten empfand sie aber etwas, das die meisten von uns kennen dürften: ihr wurde ganz warm im Gesicht, ihr Herz klopfte schneller, sie hatte Schmetterlinge im Bauch. Kurz: Sie war verknallt. Das Ding war aber, meint Lucy: „Er ist gar nicht mein Typ, und wenn ich kündigen würde, würde ich wohl nicht mal mehr an ihn denken. Weil ich ihn aber so oft sehe, stehe ich total auf ihn.“
Das nennt sich auch „proximity crush“, oder „Nähe-Verknalltheit“, und hängt mit dem sozialpsychologischen Prinzip der Nähe zusammen, das besagt, dass wir uns eher zu den Menschen und Dingen hingezogen fühlen, die uns räumlich nah sind.
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Diese Theorie des Näheprinzips stammt aus dem Jahr 1960, als der Psychologe Theodore Newcomb eine Studie durchführte, die ergab, dass College-Student:innen, die sich ein Wohnheimzimmer teilten, eher miteinander befreundet waren als mit anderen Leuten im selben Wohnheim. Weitere Untersuchungen zu platonischen Freundschaften bestätigten diese Theorie; so schicken Student:innen zum Beispiel mehr E-Mails an ihre Kommiliton:innen in benachbarten Wohnheimzimmern und freunden sich eher mit denen an, die in Seminaren in ihrer Nähe oder neben ihnen sitzen. Eine neuere Studie von 2021 zeigte, dass Forschende, die im selben Gebäude arbeiten, auch eher zusammen an Studien oder Papers arbeiten. Und obwohl es zwar keine spezifische Studie gibt, die auch eine Verbindung zwischen romantischer Anziehung und dem Prinzip der Nähe herstellt, diskutieren Psycholog:innen die Theorie doch auch häufig in ebendiesem Kontext. Das Ganze hängt auch mit einem anderen psychologischen Phänomen zusammen: dem Mere-Exposure-Effekt, der in einer Studie von 1992 festgestellt wurde und beschreibt, dass wir uns mit größerer Wahrscheinlichkeit zu den Menschen hingezogen fühlen, die wir oft sehen.
Der Punkt ist: Obwohl es natürlich auch Ausnahmen von dieser Regel gibt, fühlen wir uns tendenziell denen näher, denen wir eben näher sind – vielleicht, weil wir mit ihnen zusammenarbeiten, -wohnen oder einfach ins selbe Fitnessstudio gehen wie sie. Tatsächlich wird diese Theorie genau deswegen auch schon seit vielen Jahren von Firmen benutzt (und ausgenutzt). Wie die Psychologin Dr. Kelsey Latimer erklärt, fühlst du dich nämlich stärker zu einem Produkt oder einer Marke hingezogen, je häufiger du damit konfrontiert wirst. 
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„Wegen dieses Prinzips kann es passieren, dass du in der Nähe einer Person bist, die du anfangs vielleicht für eher durchschnittlich attraktiv hältst, dann aber in einem anderen Licht siehst, je mehr Zeit du mit ihr verbringst“, erzählt Dr. Latimer. „Vielleicht denkst du dann: ‚Oh, sieh dir mal diese Augen an! Dieser Mensch ist eigentlich sehr attraktiv‘, weil du positive Interaktionen mit dieser Person erlebt hast.“ Vielleicht hat sie nämlich eine tolle Persönlichkeit oder flirtet gern mit dir. Wichtig ist an dieser Stelle: Nähe ist in diesem Kontext nur ein wichtiger Faktor, denn natürlich kann eine wiederholte Interaktion auch das Gegenteil bewirken – zum Beispiel, wenn eine auf dich extrem attraktiv wirkende Person plötzlich in deinem Ansehen sinkt, weil du ihren Charakter besser kennengelernt hast.
Das wirft direkt ein ganz anderes Licht auf deine „unerklärlichen“ Crushes, oder?
Diese Theorie erklärt auch, wieso sich die 27-jährige Dani* vor ein paar Jahren in ihren Busfahrer verknallte. „Das entwickelte sich über mehrere Monate hinweg“, erzählt sie. „Er war nicht besonders gutaussehend, aber hatte einfach so ein nettes Gesicht und war der jüngste Busfahrer, den ich auf meinem Arbeitsweg so sah. Und wenn ich ihn außerhalb meines Arbeitswegs entdeckte – wie am Wochenende –, winkte er mir immer zu. Das fand ich echt süß.“
Dani setzte sich im Bus immer ganz nach vorne, um mit ihm zu quatschen. „Dabei erfuhr ich ein bisschen was über sein Leben. Ich glaube, wir fanden es beide nett, so mit einer bekannten, fremden Person zu reden“, sagt sie. „Er war immer sehr lieb zu den anderen Passagieren und half zum Beispiel älteren Leuten beim Einsteigen. Daran erinnere ich mich bei ihm am meisten: Er achtete immer darauf, dass die Leute sicher ein- und ausstiegen. Ich weiß, dass das kein großes Ding ist – aber es ist wichtig, gut zu anderen Menschen zu sein.“
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Auch das passiert, wenn wir jemandem räumlich sehr nah sind: Dein Gehirn zieht sich Daten aus diesen Interaktionen. „Wenn du jemandem nah bist, ist es wahrscheinlich, dass du daraus gemeinsame Interessen interpretierst“, erklärt die Sozialpsychologin Dr. Sandra Wheatley. Wenn ihr beispielsweise ins selbe Fitnessstudio geht, liegt die Vermutung nahe, dass ihr beide Spaß am Sport habt. Wenn du in der Bibliothek immer wieder demselben Typen begegnest, liegt das vielleicht daran, dass er Bücher genauso mag wie du. Womöglich schlussfolgerst du daraus dann sogar, dass er Single ist, weil du ihn dauernd alleine siehst.
Tatsächlich nimmst du immer mehr über eine Person an, je mehr Zeit du in ihrer Nähe verbringst. Die 26-jährige Kara* lebt mit mehr als 20 anderen Student:innen in einem Haus zusammen und stellte letztens fest, dass sie und ein anderer Mitbewohner die Einzigen waren, die morgens früh aufstanden.
Was als Freundschaft begann, wurde schnell zum „proximity crush“. „An einem Tag zupfte er im Garten ein paar Kräuter, und der Anblick gefiel mir viel zu sehr“, erinnert sich Kara. „Das war wie eine Szene aus einem Film.“ Kara wusste eindeutig, dass sie auf ihn stand, als sie sich auch auf tieferer Ebene näher kamen und miteinander über ihre Gefühle redeten (alles Gespräche, die Kara selbst initiiert hatte, wie ihr später klar wurde). Und dann fing er an, nette Dinge für sie zu tun. „Er schrieb mir eine süße Notiz über Selbstmitgefühl, nachdem ich ihm erzählt hatte, dass ich an meinem Selbsthass arbeiten wollte“, sagt sie. „Und einmal machte er mir einen Kaffee.“ All das führte Kara zu der Überzeugung, dass ihr Crush – obwohl er nach außen hin eher kühl wirkte – in Wahrheit total lieb und süß war. „Da lag ich aber völlig daneben“, stellt sie schnell klar.
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Und genau das ist das Problem mit solchen Verknalltheiten: Sie sind nur selten mehr als eine Projektion, und es kann süchtig machen, von einem Crush zu fantasieren – insbesondere, wenn er nicht erwidert wird. Wie Dr. Latimer erklärt, wird unser limbisches System aktiviert, wenn wir uns zu jemandem hingezogen fühlen. „Wenn jemand in der Nähe ist, auf den oder die wir stehen, werden Glücks-Neurotransmitter [wie Dopamin, Oxytocin und Serotonin] ausgeschüttet“, sagt sie. „Das kann sich sehr intensiv anfühlen.“ Auch Dr. Wheatley vergleicht die Interaktion mit einem Crush mit einem „High“: „Du verpasst dir quasi selbst einen Dopamin-Schuss, eine Dosis Glück. Das fühlt sich natürlich gut an.“
Genau deswegen neigen wir dazu, uns in Tagträumen und Fantasien zu unseren Crushes zu verlieren. Und wenn du andauernd in der Nähe dieser Person bist, kann es sehr schwer sein, das abzuschalten. Das hat laut Dr. Wheatley mit dem sogenannten Primary-Recency-Effekt zu tun, dem zufolge du dich am ehesten an etwas erinnert, das erst vor Kurzem passiert ist. Wenn du also an einem Donnerstag den ganzen Tag mit einer Person zusammengearbeitet hast, auf die du stehst, denkst du am selben Abend vermutlich eher an diesen Menschen als an die heiße Kellnerin, die dir am letzten Wochenende ein Kompliment gemacht hat. Es sind diese wiederholten Interaktionen, die dafür sorgen, dass sich dein Crush derart in deinem Kopf verfängt. Gut fühlt sich das aber natürlich nur dann an, wenn diese Gefühle auch erwidert werden. „Wenn das unerwidert bleibt, bleibt auch das Dopamin-High aus.“
Wenn du also dauernd die Aufmerksamkeit und Nähe einer Person suchst, die nicht auf dich steht – oder wenn es jemand ist, den oder die du nicht haben kannst (wie zum Beispiel dieser verheiratete Typ im Büro, der immer mit dir flirtet und nie seinen Ehering trägt) –, kann das langfristig negative Konsequenzen für dein Selbstwertgefühl haben. Was kannst du also tun, wenn du unerwiderte Verknalltheit für eine Person empfindest, die du regelmäßig siehst? Die Antwort: Grenzen.
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Wenn du beispielsweise mit dieser Person zusammenarbeitest, bemühe dich bewusst darum, nicht mehr mit ihr zu flirten. Wenn du sie im Fitnessstudio siehst, geh nicht zum Quatschen zu ihr rüber. Ermögliche dir selbst eine gesunde Distanz zu deinem Crush, bis deine Gefühle wieder verpufft sind. Dasselbe gilt auch für Social Media: Bloß, weil du jemanden nicht „im echten Leben“ triffst, zählt es auch als „Nähe“, wenn du dir die Storys oder das Profil dieser Person anguckst oder vielleicht checkst, ob sie sich deine Storys anschaut. Zögere also nicht, diese Person online auch mal auf „Stumm“ zu stellen, bis du wieder einen klareren Kopf hast. 
Zusätzlich kannst du dir vor Augen halten, dass Nähe eben auch nur ein Faktor ist. Obwohl es zwar stimmt, dass wir uns am ehesten zu jemandem hingezogen fühlen, den oder die wir besonders oft sehen, ist diese Hingezogenheit ja nur ein Teil des großen Ganzen. „Es braucht auch geteilte Werte und eine tiefere Bindung. Diese erste Hingezogenheit hält nämlich nicht ewig“, betont Dr. Latimer. Und das sind doch tröstliche Aussichten.
*Namen wurden von der Redaktion geändert.
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