Mit dem Kanzlerjet in Krisengebiete – 5 Tage, 3 Länder, 1 Learning
Refinery29 ist mit dem Entwicklungsminister Dr. Gerd Müller & Textil-Botschafterin Barbara Meier nach Äthiopien, Indien und Pakistan geflogen.
In knapp 14 Tagen jährt sich der schwerste Fabrikunfall in der Geschichte Bangladeschs, mehr als tausend Menschen kamen in Rana Plaza 2013 bei dem Einsturz einer Textilfabrik ums Leben. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Deutschland gründete daraufhin ein „Bündnis für nachhaltige Textilien", um die Standards – sowohl sozial als auch ökologisch – zu verbessern. Was das genau bedeutet? Deutsche Firmen sollen sich verpflichten, ihren Zulieferern im Ausland Auflagen abzuverlangen und die Bedingungen im Produktionsland zu kontrollieren. Labels wie Adidas, C&A, H&M, Primark oder Puma traten nach und nach bei, um die Welt der Textilherstellung ein kleines Stückchen zu verbessern. Aber wo stehen wir jetzt? Sind die Bedingungen der großen Ketten in den letzten Jahren wirklich menschlicher und umweltfreundlicher geworden?
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Diese Frage soll unter anderem am Ende der Deligationsreise mit Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Dr. Gerd Müller beantwortet sein: Refinery29 durfte mit dem Minister persönlich und mit Textil-Botschafterin Barbara Meier nach Äthiopien, Indien und Pakistan reisen. Drei Länder in fünf Tagen. Die Textilproduktion stand im Zentrum der Reise mit der Flugbereitschaft der Bundeswehr, dem Kanzlerjet, zusätzlich ging es um die schlimmste Dürre in Äthiopien seit 50 Jahren, den „Marshallplan für Afrika" und die Bildungspolitik in Indien. Straffes Programm also, los geht's:
ERSTER STOPP ÄTHIOPIEN
Die Textilbranche Äthiopiens boomt. Moderne Industrieparks sprießen aus dem Boden – so einer wie der von Jay Jay: Wir besuchen die Produktionsstätte, in der H&M und die bangladeschischen DBL Group in Addis Abeba herstellt. Die Standars, die für die 1.700 Angestellten von Jay Jay eingeführt wurden: Die Näherinnen arbeiten sechs Tage die Woche, täglich acht Stunden, eine Krankenversicherung gibt es nicht, aber einen Mutterschutz von drei Monaten, Mittagessen und Bustransfer inklusive und Urlaubsanspruch von 24 Tagen. Ein Einkommen im Monat übersteigt je nach Qualifikation und Position niemals 60 Euro. Für äthiopische Verhältnisse läuft es in der Fabrik fair und gut – und trotzdem reicht das Einkommen nicht. Eine 24-jährige Näherin erzählt am Rande, dass sie nebenbei noch arbeitet, um die Familie ernähren zu können.
Mit vier Millionen Euro hat Deutschland bereits seit Dezember 2016 in die Verbesserung der Standards der Textilindustrie in Äthiopien unterstützt. Im Rahmen des Bildungsschwerpunkts geht es hauptsächlich um die Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte. In den nächsten 5 Jahren wird nämlich mit einem Bedarf an 350.000 ausgebildeten Arbeitnehmerinnen gerechnet. Anliegen des BMZ sind außerdem das Einsetzen und die Qualifizierung von Arbeitsinspektoren, die Ausweitung von Umweltmanagement-Systemen für Industrieparks und der Dialog zwischen Management und Beschäftigten.
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Das Bild in der Fabrik unterscheidet sich zum Glück von den beklemmenden Reportagen über die Textilproduktion in Asien und Afrika. Die Frauen wirken nicht wie ausgebeutete Arbeitssklaven. Die Hallen sind hell und die Näherinnen tragen nur keine Schutzmasken (in dieser Fabrik wird nicht gefärbt, sondern nur genäht), weil sie sich nach eigener Aussage miteinander unterhalten wollen, während ihre Maschinen surren. Und trotzdem: Wenn man einmal so eine Massenproduktion live sieht, verändert sich die Einstellung zur Kleidung.
Plötzlich hat man eine Relation zu einem Kleidungsstück, man denkt an den Menschen, hinter dem Stoff, den Menschen, der diesen Stoff verarbeitet hat. „Ich dachte, dass gerade große Mengen von Modeketten mit Maschinen hergestellt werden, dass viel übers Fließband läuft. Mir war nicht klar, dass jede einzelne Naht von einem Menschen vernäht wird. Ich werde meine Kleidung nun anders anschauen. Da haben Frauen ihre Lebenszeit reingesteckt", sagt Botschafterin Barbara Meier. „Der Minister hat es so schön auf den Punkt gebracht: 'Kleidung darf keine Ramschware sein'. Es ist heutzutage billiger, ein neues Shirt zu kaufen, als ein Loch flicken zu lassen. Das ist falsch. Wir müssen wieder ein bisschen mehr Respekt vor unserer Kleidung haben."
Nach dem Rundgang in der Produktionsstätte unterzeichnet Dr. Gerd Müller vor Ort noch das Abkommen zur Ausbildung von Textilfachkräften: „Wir gehen mit unserem Textilbündnis vom Verhandlungstisch in die Fabrikhallen und haben in Äthiopien die Chance, gleich richtig zu machen, was anderswo lange falsch gelaufen ist. Ich freue mich, mit H&M und der DBL-Group Partner gefunden zu haben, die beim Textilbündnis engagiert dabei sind und mit ihrer Erfahrung die Herausforderung anpacken und entschlossen vorangehen. Gemeinsam bieten wir mit dem geplanten Berufsbildungszentrum jungen Menschen die Chance auf gute Jobs unter vernünftigen Bedingungen", so der Bundesminister. Das Berufsbildungszentrum wird innerhalb von drei Jahren mindestens 20.000 Fachkräfte für die Textil- und Bekleidungsproduktion ausbilden, Beschäftigte weiterbilden und das mittlere Management qualifizieren.
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Um die Situation Äthiopiens zu verstehen, muss man sich allerdings auch mit den strukturellen Problemen des Landes beschäftigen, die die Entwicklung und die Bedingungen erschweren – die schlimmen Dürreperioden, das Bevölkerungswachstum und die schwach entwickelte Infrastruktur.
Wir fliegen also nach Kebri Dahar in die Somali Region. Hier ist es nach der letzten schweren Hungersnot in 2011, 2015 und 2016 erneut zu extremer Dürre gekommen. Aktuell sind in Äthiopien rund 18 Millionen Menschen auf Lebensmittelhilfen angewiesen. 30 Millionen Euro hat das Entwicklungsministerium seit 2015 für Projekte von Unicef gegen die Dürre bereitgestellt, 45 Millionen Euro für das Welternährungsprogramm. An der somalischen Grenze besuchen wir also die Yu'ub Siedlung, die aus 1.132 Haushalten besteht. Wenn man hier von Haushalten spricht, sind Zelte und Notunterkünfte gemeint. 85 Prozent der Bewohner (hauptsächlich Flüchtlinge aus Somalia) sind Frauen und Kinder. Aus Tüchern und Ästen haben sie ihre vorübergehende Behausungen gebaut. Ein Kontrastprogramm zu den modernen Industrieparks in Addis Abeba.
UNICEF hat die Siedlung mit einem Gesundheitszentrum aufgebaut. Mit der UN-Kolonne fahren wir zur Ersten-Hilfe-Station: Die Organisation kümmert sich vor Ort um die mangelernährten Menschen und um die, die krank wurden aufgrund der fehlenden hygienischen Strukturen. Es sind 36 Grad Celsius, die Sonne sticht und der trockene Staub belegt die Lunge. Ein Leben in der Wüste ist kaum vorstellbar, doch kein Mensch jammert vor Ort. Sie hoffen einfach auf Regen. Damit die Kinder nicht noch mehr Tierskelette zum Spielen am Wegesrand finden.
ZWEITER STOPP INDIEN
Knappe sechs Stunden fliegen wir mit der Konrad Adenauer, Airbus A340-313 der Luftwaffe, nach Neu Delhi. Indien ist der zweitgrößte Textilienexporteur, der sechstgrößte Bekleidungsexporteur und 2022 soll es das bevölkerungsreichstes Land der Erde sein. Aktuell leben 1,3 Mrd. Menschen hier, rund 400 Millionen davon in Armut. Wo viel Not ist, ist auch viel Bedarf an Hilfe: Indien ist somit größter bilateraler Entwicklungspartner des BMZ mit jährlichen Zusagen von circa 1 Milliarde Euro.
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Während der Minister die Entwicklungszusammenarbeit mit dem indischen Finanzministerium besprach, zog es Barbara Meier und die restliche Delegation sofort zu den Menschen in die Projektgebiete: Die Diplomaten der deutschen Botschaft bereiteten uns schon darauf vor, dass Indien das Land der Gegensätze, des 'alles ist möglich und alles ist unmöglich' ist. Die Frauen tragen bunte Saris, die prächtigsten Farben schimmern durch die Slums, wir Gäste bekommen Blumenketten überreicht, alles sind freundlich – doch die Situation in den Slums ist furchtbar.
Wo soll man nur anfangen, wenn es darum geht, was in diesem Land noch verbessert werden kann: Probleme wie die hohe Müttersterblichkeit, die niedrige Alphabetisierungsrate, viele Infektionskrankheiten, Armut, Frauendiskrimierung, häusliche Gewalt und viele andere Missstände führen die Liste an. Vor allem die Geschichten der Kinder gehen uns beim Besuch sehr nahe: Mehr als 10 Millionen Kinder zwischen 10 und 15 Jahren verrichten Kinderarbeit. Und Indien hat weltweit die höchste Anzahl an Kinderehen.
Wir besuchen die Caritas/Chetanalaya. Die Organisation klärt uns über das Leben der Müllsammler auf. Dr. Gerd Müller wird wie ein Superstar empfangen, er darf das neue Versammlungshaus einweihen. 780.000 Euro hat das Ministerum seit 2009 an das Projekt übergeben. Schon allein der Gang zum Gemeindehaus bot einen Einblick in das Leben der Slumbewohner. Herzlich luden sie uns in ihre Hütten ein. In einem Raum schläft die ganze Familie – meist mit Ziegen und Kälbern.
In der Hauptstadt Delhi leben aktuell circa 14 Millionen Menschen. Knapp 400.000 Kinder leben und arbeiten auf der Straße. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie Arbeiten wie Müllsammeln, Schuhputzen, Teeverkauf, Auto waschen... Wenn sie 8 bis 15 Stunden am Tag arbeiten, können sie ca. 15 indische Rupien (25 Cent) verdienen. Auch wenn diese Kinder es gelernt haben, zu überleben, können sie nicht zur Schule gehen und haben somit keine Chance auf eine Ausbildung oder ein geregeltes Leben. Und um diese Kinder geht es beim nächsten Besuch der deutschen Regierungs-Reisegruppe: Das Straßenkinderprojekt „Butterflies“ hat es sich zum Ziel gemacht, diesen Kindern eine Zukunft zu geben: Neben Unterricht und medizinischer Versorgung kann man bei „Butterflies" Ausbildungen machen, es gibt Tanz- und Theatergruppen, eine Straßenkinderzeitung und ein Straßenkinderradio, einen Kinderrechtsclub und eine Kinderentwicklungsbank, in die die Kinder ihre Ersparnisse einzahlen können. Es wird quasi eine kleine Gesellschaft aufgebaut, in der jedes Kind seinen festen Platz hat, eine Aufgabe. Und in den Nachtunterkünften finden die Kinder Schutz vor Ausbeutung und Missbrauch, eine Dusche und ein warmes Essen. So erreicht Butterflies in Indien 2.000 Straßenkinder (davon 32% Mädchen). Das Vorhaben wird seit 2014 mit 500.000 Euro vom BMZ unterstützt.
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Der Nachmittag war rührend: Die Kids versammelten sich um den Politiker aus Deutschland und berichteten nacheinander, welchen Kinderjob sie in bei den „Butterflies" übernommen haben: Der Kinderbankmanager erzählte also, warum er zum Manager gewählt wurde. Die Mediengruppe interviewte den hohen Besuch schlauerweise gleich mal. Es war unglaublich schön zu sehen, wie die Kids spielerisch lernen, mit dem Leben vernünftig umzugehen. Und wie wichtig Struktur dann doch ist.
DRITTER STOPP PAKISTAN
Wir fliegen knapp zwei Stunden von Delhi nach Islamabad, Pakistan – mit ungefähr 203 Millionen Einwohnern ist das Land an Position sechs der bevölkerungsreichsten Staaten der Welt. Die politische Lage hat sich stabilisiert, trotzdem bleibt Terrorismus eine realistische Gefahr. In diesem Jahr gab es schon verschiedene Anschläge, die Opfer forderten. Die zehn Männer vom BKA, die uns bei jedem Schritt begleiten, sind hier besonders alarmiert, die schusssicheren Westen immer an.
Was sind die zentralen Herausforderungen? Botschafterin Ina Lepel klärt uns im Vorgespräch auf: der Umgang mit Korruption, eine schwache öffentliche Verwaltung, gewaltsame Konflikte und angespannte zivilmilitärische Beziehungen, Defizite im Menschenrechtsschutz, bei der Rechtssicherheit und bei der Schaffung von günstigen Rahmenbedingungen für ein stärkeres Wirtschaftswachstum.
Auch in Pakistan unterstützt das BMZ vermehrt die Verbesserung von menschenwürdigen und sicheren Arbeitsbedingungen im Textilsektor. Die Textil- und Bekleidungsproduktion ist der größte Industriezweig und wichtigste Exportindustrie Pakistans (Beschäftigung von rund 15 Millionen Menschen). Laut des BMZ ist ist die islamische Republik eines der wichtigsten Länder in Bezug die Optimierung der Lieferkette. Die Nachhaltigkeitsstandards werden immer besser und die gesamte Produktionskette vom Rohstoff Baumwolle bis zur fertigen Bekleidung wird abgebildet und kann besser kontrolliert werden.
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Was konkret erreicht wurde: Die Arbeitsbedingungen für über 13.000 Arbeiter und Arbeiterinnen aus 11 Betrieben wurden durch Beratung und Trainings der deutschen Entwicklungszusammenarbeit verbessert.
In Islamabad besuchen wir das Projekt der Konrad Adenauer Stiftung „Behbud". Das Herzstück der Organisation ist die Fabrik, hier lernen Frauen die Textilherstellung in Handarbeit: Aufwendige Stickereien, kleinste Detailarbeit mit Perlen und Spiegelchen werden hier ausgeführt und gleichzeitig auch verkauft. Alles was hier hergestellt wird, wird im Verkaufsraum im Untergeschoss und in einer Boutique in der Stadt vertrieben.
In den Räumen herrscht ein ausgelassener Schnack, die muslimischen Frauen legen hier ihre Verschleierung ab und fühlen sich zuhause. Die Menschen, die an diesem Ort sind, bekommen Bildung für sich und ihre Kinder, werden medizinisch versorgt und bekommen in Workshops berufliche Perspektiven oder rechtliche Beratung. Darf ich mich scheiden lassen? Was, wenn ich mein eigenes Geld verdienen möchte? Wie lege ich Geld für die Zukunft an? Es gibt viele Fragen, bei „Behhbud" gibt's auch Antworten.
Auch in dieser Produktionsstätte wird einem der „Wert" der Kleidung bewusst. An einer Tagesdecke mit kleinen Pailetten und bunten Stickereien saß eine Frau drei Monate, wie sie berichtet. Wie kann man leichtfertig Stoffe wegschmeißen, wenn man weiß, dass eine Frau ein Viertel Jahr mit diesem Stück beschäftigt war?
DAS LEARNING
Von Islamabad geht es dann auch schon wieder zurück nach München. Im Flieger sind sieben Stunden Zeit, um das Erlebte Revue passieren zu lassen. Mehr Eindrücke kann man in 5 Tagen wohl kaum sammeln. Dankbarkeit und Erschöpfung machen sich in den Sitzen breit: „Am beeindruckensten war für mich, dass die Menschen so positiv waren. Wir haben Menschen getroffen, die nichts haben außer ein paar Äste, Tücher und Tiere, die kurz vor dem Verhungern sind – und diese Menschen waren warm und fröhlich. In Deutschland geht es uns so gut, aber das Positive fehlt", sagt Barbara Meier. Auch für sie war es die erste Delegationsreise und die bewusste Entscheidung als neue Textil-Botschafterin des Ministeriums, die Augen zu öffnen, Fragen zu stellen und mitzuhelfen, dass die Herstellung und der Umgang fairer wird und das Thema in die Öffentlichkeit zu rücken. „Ich denke, es ist wichtig, Schritt für Schritt zu einem grünen Schrank zu gelangen. Ich bin nicht für eine radikale Lösung und diktiere, dass man nur noch ökologisch und fair produzierte Kleidung besitzen darf. Das wäre unrealistisch. Aber wenn man sich bewusst macht, wo die Kleidung herkommt, wie sie produziert ist und schon mal 20 % an vertretbarer Mode besitzt, ist ein Anfang getan."
Auf der Website www.siegelklarheit.de kann man sich über die verschiedenen Siegel und Standards der Textilindustrie informieren. Auf www. textilbuendnis.com findet man eine Liste aller Firmen, die beim Textilbündnis mitmachen. Mehr Informationen gibt's auf www.bmz.de.
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