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Über meine Trauer zu posten, machte mich einsamer denn je

Foto: Eylul Aslan.
Als meine kleine Schwester letzten Oktober überraschend starb, war ich überwältigt von der Unterstützung meiner Freund:innen – sowohl der neuen als auch der alten. Nachrichten voller Liebe und Beileid dämpften meine Trauer und gaben mir das Gefühl, nicht allein zu sein. Als jemand, die gerade Teenagerin war, als Instagram so richtig bekannt wurde, bin ich es gewöhnt, jede wichtige Lebenserfahrung online zu teilen. Gewonnene Ruderwettbewerbe, ein neuer Hund, mein Abschlussball, ein 10-Kilometer-Lauf, mein Studienbeginn, mein Umzug in die Türkei, mein Uni-Abschluss, der Jahrestag meiner Beziehung – alles landete auf meiner Instagram-Seite.
Immer wenn ich Fotos von glücklichen Erinnerungen an meine Schwester in meiner Story postete, fühlte sich das so an, als würde ich meinen Freund:innen damit klarmachen, wie sehr ich ihren Support jetzt brauchte. Ich benutzte jeden dieser Posts, um mich das fühlen zu lassen, was ich fühlen musste – Sehnsucht, Liebe, Trauer, Reue. Aber in den darauffolgenden Monaten, als der Tod meiner Schwester immer weiter in die Vergangenheit rückte und von anderen News verdrängt wurde, fühlte ich mich irgendwann einsamer denn je.
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Während ich erwachsen wurde, haben Social Media die meisten meiner Freundschaften bestimmt. Sie beeinflussen, wem ich nah stehe und nah bleibe, mit wem ich mich treffe, wer mir fremd wird, wer als „gute:r“ Freund:in zählt. Im Laufe meiner Trauer ist mir aber klar geworden, dass Social Media dafür sorgen, dass wir uns dauernd mit unseren Freund:innen „verbunden“ fühlen. Wir wissen dadurch, wo sie sind und was sie so treiben. Wir fühlen uns ihnen dadurch näher – selbst wenn sie weit entfernt sind.

Social Media hat uns den Wert authentischer Interaktionen geraubt, weil andere Menschen so leicht verfügbar sind, dass wir sie oft für selbstverständlich halten.

yasmin elizabeth
Diese Illusion ist keine Einbahnstraße: Ich versuchte meine Trauer auch dadurch zu bewältigen, indem ich einfach „wie gehabt“ weitermachte. Das hieß, dass mein persönlicher Social-Media-Feed alles andere als eine ehrliche Repräsentation meiner Erfahrungen und Gefühle war. Die Konsequenz war, dass viele meiner Freund:innen glaubten, ich käme gut mit meinem Verlust klar. Anstatt mich bei meinen Liebsten zu melden und ihnen klarzumachen, was ich im echten Leben von ihnen brauchte, lebte ich meine Trauer durch meine Social-Media-Präsenz aus. Anstatt offen und ehrlich mit meinen Freund:innen über meine Gefühle zu sprechen, tauschten wir demnach nur hohle, oberflächliche Nachrichten aus.
Im Internet zählt vor allem eins: Präsenz – und die Algorithmen, die uns mit Benachrichtigungen immer wieder in die Apps locken, machen es quasi unmöglich, nicht „chronisch online“ zu sein. Das sorgt für unrealistische Erwartungen daran und ein verfälschtes Bild davon, was eine gute Freundschaft und eine enge Beziehung ausmacht. Immer wieder behaupten manche, du solltest „Freund:innen“ absägen, die dir online nicht beweisen, was ihnen an dir liegt. Du hast seit zwei Wochen nicht von ihnen gehört? Weg mit ihnen! Du zweifelst daran, dass sie an dich denken? Da hast du vermutlich Recht! Sie schauen sich deine Storys an, reagieren aber nicht darauf? Die sind bestimmt neidisch! Solche Mantras beeinflussen heute, wie wir über unsere Freundschaften sprechen – und sorgen dafür, dass wir Likes, Kommentare und DMs für echte, bedeutsame Interaktionen mit unseren Freund:innen halten.
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Es ist erschreckend einfach, unsere Freundschaften anhand ihrer Online-Aktivität zu analysieren und zu „ranken“. Dabei ist es natürlich total ungenau (und sogar unmenschlich), unsere engsten Beziehungen einer solchen „Kosten-Nutzen-Analyse“ zu unterziehen. Indem wir darüber nachgrübeln, wie viel Zeit uns unsere Freund:innen im Online-Raum schenken – wie viele Nachrichten, Anrufe, DMs wir ausgetauscht haben –, und das als Indikator ihrer Gefühle für uns zu deuten, reduzieren wir unsere Freundschaften auf digitale Metriken.
Die Künstlerin und Theoretikerin Neema Githere, bekannt als @take.back.theinternet, ist der Meinung, Social Media sorge für den Zerfall unserer Freundschaften, weil sie uns eine kapitalistische, zahlenbestimmte Werteperspektive auf unsere Liebsten aufdrückt. „Insbesondere Instagram setzt in seinem Geschäftsmodell auf unsere Ängste und Zwänge und bestärkt unsere Tendenz dazu, andere zu verurteilen.“
Diese Konditionierung bewusst zu entlernen, kann uns ihr zufolge bestärken und unsere Beziehungen verbessern. „Ein großer Bestandteil meiner Praxis der ‚Datenheilung‘ ist es, diese Verzerrungen wieder geradezurücken, indem wir uns beispielsweise von der Natur dazu inspirieren lassen, wie wir sanftere Beziehungen führen können.“
Online zu trauern vermittelte mir die Illusion von Nähe und Community, ohne dass ich jemals wirklich davon profitieren konnte. Obwohl meine Freund:innen auf meine Updates reagierten und meine Posts kommentierten und/oder likten, fühlte sich keine dieser Online-Interaktionen wirklich „erfüllend“ an. Safiya U. Noble, Autorin von Algorithms of Oppression, ist der Meinung, unser echtes Leben entferne sich immer weiter von uns, je mehr wir uns in der digitalen Welt verlieren – wie zum Beispiel im Metaversum. Als Konsequenz entgeht uns viel echte Nähe.
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Noch dazu kann es passieren, dass wir, wenn wir zunehmend online für unsere Freund:innen da sind, für dieselben Freundschaften in der Offline-Welt kaum noch Zeit haben. Das betrachten wir aber oft nicht genauso kritisch wie fehlende Online-Interaktion. Vor den sozialen Medien mussten wir uns Zeit für unsere Freundschaften in der realen Welt nehmen. Es gab keine Alternative. Heute stelle ich aber fest: Ich habe einige meiner engsten Freund:innen nicht mal gesehen, seit meine Schwester gestorben ist. Das ist jetzt fünf Monate her. Wie konnte ich von ihnen erwarten, genau zu wissen, was ich während meiner Trauerphase von ihnen brauchte, ohne ihnen das jemals wirklich zu kommunizieren?
Yasmin Elizabeth, Gründerin des Instagram-Accounts Pick Me Up Inc, hat es geholfen, jeden Monat eine Social-Media-Pause einzulegen, um Online-Interaktionen und -Erwartungen als nicht real zu begreifen. „Wir haben gerade mehr Freund:innen denn je und sind trotzdem einsamer als je zuvor. Social Media hat uns den Wert authentischer Interaktionen geraubt, weil andere Menschen so leicht verfügbar sind, dass wir sie oft für selbstverständlich halten.“
Das ergibt Sinn: Unbeschränkten Zugriff zu etwas zu haben, sorgt definitiv dafür, dass wir es weniger zu schätzen wissen – und dasselbe gilt auch für Freundschaft. Seit der Pandemie und unserem Übergang zu hauptsächlich digitalen Formen der Kommunikation ist mir klar geworden, dass ich meine Freundschaften nie wieder so habe „aufleben“ lassen, wie ich sie früher geführt habe, als ich noch studierte und meine Freund:innen öfter treffen konnte, ohne dafür lange im Voraus planen zu müssen.
Wir gehen oft davon aus, dass die Online-Verfügbarkeit unserer Freund:innen bedeute, dass wir uns gegenseitig immer und überall „melden“ könnten. Dadurch zögern wir aber umso mehr davor, eine:n Freund:in zu kontaktieren, wenn wir ihn oder sie wirklich vermissen oder brauchen – weil wir uns haben einreden lassen, dass sich die Person schon melden würde, wenn sie es denn wollte. Als jemand, die von zu Hause aus arbeitet und in einer anderen Ecke des Landes als all meine Freund:innen lebt, weiß ich heute, dass diese Freundschaften ganz schnell zu ausschließlich online stattfindenden Austauschen werden können, wenn wir uns nicht die Mühe machen, uns tatsächlich zu treffen.
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Es ist noch dazu sehr leicht, diese Online-Kontakte einfach im Sand verlaufen zu lassen, weil es in einer digitalen Welt mit all ihren Ablenkungen sehr viel Energie erfordert, diese Freundschaften aufrechtzuerhalten. Selbst die simpelste Aufgabe – wie das Schreiben einer WhatsApp-Nachricht – wird zur Herausforderung, wenn TikTok, Instagram und Twitter nur ein paar Klicks entfernt sind. Deswegen mögen es viele von uns nicht mal, online zu sein. Wir wissen, dass unsere Freundschaften in ihrer organischen, unverfälschten Form mehr wert sind – von Angesicht zu Angesicht. Und dennoch: Für diejenigen von uns, die keine Lust auf die Online-Freundschaftsarbeit haben und die zum Beispiel auf Instagram nur ungern kommentieren oder liken, können Social Media ein echtes Freundschaftsrisiko sein. Erst letzte Woche schrieb mir eine enge Freundin, sie habe das Gefühl, wir stünden kurz vor einer „Freundschaftstrennung“ – also buchten wir spontan einen gemeinsamen Urlaub, um die verlorene Zeit wiedergutzumachen.
Nach dem Verlust meiner Schwester fühlte ich mich von diesen widersprüchlichen Eindrücken meiner Freundschaften total hin- und hergerissen. Einerseits wünschte ich mir, meine Freund:innen würden sich bei mir melden – gleichzeitig wusste ich aber auch, dass mir ein paar WhatsApp-Nachrichten nicht gegen das unangenehme Bauchgefühl helfen würden, dass irgendwas nicht ganz stimmte. Als ich mich selbst dabei erwischte, dass ich meine Freundschaften hinterfragte und daran zweifelte, dass ihnen wirklich etwas an mir lag, wurde mir klar, dass meine innere Leere nicht ihre Schuld war – sondern die von Social Media. Ich habe an meiner Trauer im digitalen Zeitalter gelernt, dass wir uns nicht ausschließlich auf digitale Interaktionen verlassen können, um unsere komplexen sozialen und emotionalen Bedürfnisse zu erfüllen.
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Social Media sollten unsere Freundschaften ergänzen, anstatt das einzige Medium zu sein, auf dem wir sie ausleben. Online-Interaktionen können niemals gemeinsam verbrachte Zeit ersetzen. Anstatt also mit Vorwürfen um dich zu werfen, kann es dir helfen, um mehr gemeinsame Zeit zu bitten. Denn vielleicht musst du eine Freundschaft noch gar nicht beenden – sondern brauchst einfach eine Umarmung von dieser Person
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