Die 25-jährige Marie ist ein sehr ängstlicher Mensch, und das schon lange. „Ich mache alles, um selbst damit klarzukommen (Therapie, Medikamente, Meditation) – aber es hilft mir am besten, meine Ängste mit anderen zu teilen. Anfangs dachte ich, es sei gut, über sowas zu sprechen. Nach einem besonders panischen Gespräch mit einer guten Freundin, die selbst gestresst war, wurde mir aber klar, dass ich oft einfach nur meine Liebsten in meine Ängste hineinzerre. Seit mir das klar ist, fühle ich mich furchtbar damit, mich so auf anderen ‚abzuladen‘, kann aber einfach nicht damit aufhören. Wie kann ich mir das abgewöhnen?“ Dr. Sheri Jacobson, eine pensionierte Psychotherapeutin mit über 17 Jahren Berufserfahrung, kann hier weiterhelfen.
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Dr. Sheri Jacobson: Du bist ein sehr selbstreflektierter Mensch, wenn du erkannt hast, dass dieses Verhalten dir nicht mehr so gut zu helfen scheint. Es ist wichtig, im Umgang mit Ängsten zwischen hilfreichen und schädlichen Bewältigungsmethoden zu unterscheiden. Wenn wir mal ehrlich zu uns selbst sind, wissen wir oft recht gut, ob unsere Methoden insgesamt effektiv sind oder uns und anderen eher schaden, sich vielleicht sogar auf unseren Alltag auswirken. Es geht dabei weniger darum, was sich in dem Moment gut oder schlecht anfühlt. Nimm als Beispiel mal den Drogenmissbrauch: Ganz egal, wie schön das in dem Moment vielleicht gerade ist – der Missbrauch kann einen negativen Kreislauf lostreten. Und außerdem geht es dabei auch nicht nur um die eigene Perspektive.
Bevor ich mich mit den Nachteilen dessen befasse, sich auf anderen „abzuladen“, wie du sagst, möchte ich erstmal betonen, dass es tatsächlich sehr beziehungsfördernd sein kann, mit anderen über unsere Schwächen und Schwierigkeiten zu sprechen. Das kann dich anderen näher bringen, wenn du ihnen deine verletzlichen Seiten zeigst, und kann somit die Basis für tolle Freundschaften sein. Es geht also nicht darum, komplett darauf zu verzichten, unsere Ängste mit anderen zu teilen. Du solltest das auch nicht völlig negativ betrachten.
Dennoch ist es gut, dir bewusst zu sein, dass du deinem Gegenüber damit womöglich eine Last auflegst. Wenn du selbst zum Beispiel den ganzen Tag lang von Ängsten und Sorgen hörst, wirkt sich das sehr wahrscheinlich auf deine Stimmung aus. Du würdest dann jede Menge positive Erfahrungen und Erlebnisse brauchen, um das auszugleichen. Es ist also möglich, dass sich diese Person von euren Gesprächen allmählich belastet fühlt – wegen der schieren Menge an negativen Themen und vielleicht auch wegen deren Intensität.
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Es kann für diese Person außerdem frustrierend sein, wenn es für deine Sorgen und Probleme keine Lösung gibt. Das gilt vor allem für Gedanken und Situationen, die sich im Kreis drehen, ohne den geringsten Fortschritt zu machen. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit der sogenannten „compassion fatigue“ („Mitleidsmüdigkeit“): Wenn du jemandem durchgehend dein Mitleid und vielleicht auch Verständnis schenkst, kann das sehr ermüdend sein. Das ist ein bisschen anders, als wenn du „einfach nur“ überfordert bist oder dich runterziehen lässt; das ist ungefähr so, als würde dir die emotionale Puste ausgehen. Du fühlst dich dann irgendwie abgestumpft.
Natürlich macht es einen Unterschied, ob du ein Verhalten bemerkst oder es wirklich ändern möchtest. Wir sind schließlich Gewohnheitstiere, deren Gewohnheiten häufig negativ sind, weil wir zwar glauben, sie würden uns helfen, dann doch aber irgendeinen Nachteil mit sich bringen. Sobald uns dieser Nachteil bewusst wird, hängen wir aber oft schon zu tief in unserem Kreislauf fest. Daher erfordert es viel Mühe, eine Gewohnheit abzulegen. Meist hast du dabei zwei Optionen: Die erste ist der dramatische, kalte „Entzug“, bei dem du die Gewohnheit von jetzt auf gleich ablegst und sie durch ein alternatives Verhalten ersetzt. Der Durchschnittsmensch braucht etwa zwei Woche, um eine Gewohnheit zu „brechen“; versuch doch also mal zwei Wochen lang niemanden zu treffen, dem:der du sonst deine Ängste erzählen würdest. Das wird vermutlich unangenehm – daher solltest du ein paar gesunde Gewohnheiten parat haben, die dir über diese Phase hinweghelfen. Das kann alles sein, vom Lesen über Sport bis hin zum Schauen von Dokumentationen – eben alles, was dich ein bisschen ablenkt, aber auf so gesunde Art wie möglich.
Die andere Option ist eine allmähliche Veränderung. In der Therapie verlassen wir uns dabei auf ganz kleine Schritte. Die kannst du zum Beispiel aufschreiben und einen nach dem anderen bewältigen; oder du überlegst dir, wie lange du deine Ängste für gewöhnlich auf anderen ablädst, und reduzierst diese Zeit dann. Wenn du beispielsweise durchschnittlich eine Stunde lang von deinen Ängsten erzählst, versuchst du es beim nächsten Mal vielleicht mit 45 Minuten, dann 30, dann 20. All das hängt aber natürlich von dir und deinem Gegenüber ab: Wie viel könnt ihr beide tolerieren? Vermutlich fällt es dir erstmal schwer, deine Gewohnheit zu verändern – aber du musst ja nicht gleich alles völlig auf den Kopf stellen, sondern dich nur ein wenig einschränken. So lässt sich die Umstellung leichter ertragen.