Wie dieses Modelabel Straßenkindern einen Weg zurück in die Gesellschaft bahnt
Lilli & Hotaru entwerfen Mode für People Berlin und finden so zu einer Zukunft fernab vom Leben auf der Straße.
Inspirierend. Extravagant. Bloß nicht langweilig. Während an den Scheiben der Tram das bunte Berlin vorbeizieht, philosophieren Lilli – 19, kurze schwarze Haare, ein Top in Orange, dazu Rock, Tennissocken, Sneaker, alles in Weiß – und Hotaru – 18, grüne Haare, grünes Batik-Shirt, blau karierter Faltenrock, schwarze Plateauschuhe – darüber, wie ihre eigene Mode ist. Für die Mädchen ist sie getragenes Gefühl, ein Statement gegen Konventionalität. Das spiegeln auch ihre Entwürfe für People Berlin wider – und nun sind sie unterwegs zwischen den zwei Welten, die dieses soziale Modelabel verbindet.
Die Reise beginnt zwei Wochen zuvor in Lichtenberg, einem bei Familien beliebten Viertel im Osten Berlins. Genauer gesagt beginnt sie im Drugstop des Jugendhilfevereins Karuna e. V. „Malt eure Gefühle. Nutzt auch Hassfarben, die ihr nicht leiden könnt – und guckt nicht auf euer Bild“, ruft Designerin Eva Sichelstiel in die Runde und drückt auf ihrem Handy den Play-Button. Ruhige Musik, vielleicht entspannt das ja. Lilli, die Augen fest geschlossen, verreibt rote Farbe mit einem Topfreiniger auf einem grau karierten Stoff. „Blind Malen“ heißt der heutige Mode-Workshop, bei dem sie, Hotaru und fünf andere Jugendliche sich locker machen sollen. Der eigene Blick, erklärt die Designerin später, sei eine mächtige Kontrollinstanz des Unterbewusstseins. Hier aber sollen die jungen Menschen lernen, sich freizumachen – von erdrückenden Erwartungen und nagender Selbstkritik.
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People Berlin ist mehr als ein High-Fashion-Label. In Namen von Karuna e. V. fungiert es als tägliches Beschäftigungsangebot für junge Menschen zwischen 13 und 27 Jahren, die unter psychischen Problemen oder Suchterkrankungen leiden und in der Folge einen bedeutenden Teil ihres Lebens auf der Straße verbringen. Oberbegriff: Straßenkinder. Das Kinderhilfswerk terre des hommes schätzt, dass in Deutschland derzeit rund 9.000 Jugendliche dazu zählen. So auch Lilli und Hotaru.
„Ich glaube, ich lass’ das jetzt so“, sagt Hotaru trotzig und hält ein buntes Blatt Papier in die Luft. Mit etwas abzuschließen, sich dem Zwang nach Perfektion zu widersetzen, ist eine Herausforderung für die 18-jährige Berlinerin. Hier lernt sie, damit umzugehen und arbeitet noch dazu an einer echten Modekollektion mit. Denn auch wenn es nicht so anmutet: Aus den heutigen Arbeiten könnten experimentelle Stoffvorlagen für die vierte Edition von People Berlin entstehen. Schon im Herbst soll sie fertig sein.
Ein Ort für verschiedene Lebenswirklichkeiten
14 Tage später und neun Kilometer weiter westlich ist die Realität eine ganz andere: Berlin-Mitte, ein Viertel voller Modeläden, Touristen und Zeichen des Geldes. Lilli und Hotaru wollen ihre Kleidungsstücke der letzten Kollektion präsentieren. Mit großen, stolzen Schritten betreten sie den People-Berlin-Store in den Hackeschen Höfen. Seit April dieses Jahres hatte das Label in dieser 1-a-Lage seinen festen Standort – ran an die Klientel, die so wenig über das Schicksal von Jugendlichen wie Hotaru und Lilli weiß. An schwarzen Kleiderstangen hängen hochwertige Blazer, Bleistiftröcke, Blusen, Bomberjacken. Die Kleidung ist gewagt, unorthodox und mutig. „Unlike you“ haben die Jugendlichen diese dritte People-Edition genannt – das zu Kleidung gewordene Gefühl, sich von der Gesellschaft ausgegrenzt zu fühlen, mit dem sie nun eben jene Gesellschaft konfrontieren wollen. Und so hat das Oversize-Kleid in grellem Pink, die zweifarbige Culotte und der asymmetrische Body in Bronze-schimmerndem Braun eine zweite Bedeutungsebene: die Konfrontation. Als einen „Ort für verschiedene Lebenswirklichkeiten“ beschreibt Designerin Eva Sichelstiel, die People Berlin zusammen mit Ayleen Meissner 2014 gegründet hat, den Store.
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Zielstrebig bewegt sich Hotaru durch den hellen Raum. Sie greift zu einer pelzigen Weste aus silberblauem Stoff, in den blaue Kunstzähne eingenäht sind. Es ist ihr Werk, ihr Sinnbild für die bissige Abwehrhaltung, mit der sie der Welt manchmal begegnet. Sie zieht die Weste an und schaut an sich herab. Ihr Mund lächelt mutig, doch ihre Augen können eine Ungläubigkeit nicht verbergen. „Es ist echt abgefahren, wie teuer die Sachen verkauft werden“, sagt Hotaru. 240 Euro soll das Stück kosten. Von dem Geld, das zu 100 Prozent zurück in das Projekt fließt, könnte sie wahrscheinlich einen Monat lang leben. Es ist jedoch nicht der Preis, der auf Hotaru und Lilli den größten Eindruck macht: „Jemand da draußen will etwas tragen, das ich geschaffen habe“, sagt die 19-jährige Halbsenegalesin Lilli.
Wahrnehmung und Anerkennung sind für die beiden der wahre Lohn. Und besonders belohnend ist es, wenn sie Kund*innen bei der Kleiderwahl beraten. „Es ist toll, als professionell wahrgenommen zu werden“, sagt Hotaru und deutet wortlos an: trotz ihrer Probleme, trotz ihres unkonventionellen Kleidungsstils, trotz der Unterschiede zwischen ihnen. Mit ihrem Projekt wollen Ayleen Meissner, Eva Sichelstiel und die 2015 dazugestoßene Cornelia Zoller beweisen, dass Mode mehr bietet als schnelllebige Trends: Sie kann eine soziale Rolle erfüllen und Positives bewegen. „Die Jugendlichen erkennen durch die Arbeit bei People Berlin, dass sie nicht in ihrer Biografie verhaftet sind. Das gibt ihnen oft eine völlig neue Perspektive.“
Hotaru will Modedesignerin werden
Zeitsprung zurück in den Drugstop von Karuna e. V. Während die Sonne die Sommerwärme durch die Fenster drückt, versuchen sieben junge Menschen, ihre Gefühle zu malen. „Durch das Projekt lerne ich, dass ich etwas zu Ende bringen kann. Das ist ein Erfolgserlebnis“, sagt Lilli, die wie Hotaru zum zweiten Mal zum festen, meist 15-köpfigen People-Team gehört. Laut Designerin Eva Sichelstiel nehmen innerhalb eines Jahres schätzungsweise 100 Jugendliche an den Mode-Workshops teil. Mal ein paar Tage, mal ein paar Wochen, mal ein ganzes Jahr. Mal leisten sie Sozialstunden ab, mal überbrücken sie die freie Zeit zwischen Schuljahren. Die Hintergründe sind vielzählig. Für alle Jugendlichen ist es aber wichtig, eine feste Struktur und Aufgabe zu haben, die sie von den persönlichen Schwierigkeiten fernhalten.
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„Wenn ich hier bin, denke ich nicht über meine Probleme nach“, sagt Hotaru und zieht Stoff im Leopardenmuster aus dem Textilhaufen vor sich. Es gebe ihr viel Kraft und Selbstbewusstsein, im Team gebraucht zu werden. Beim Essen, das aus Spenden der Berliner Tafel besteht, gesteht Hotaru, dass das Lob der Designerinnen manchmal auch zu einem unangenehmen Druck führe. Einen, vor dem sie früher geflüchtet wäre – aber diesen Impuls bekommt sie immer besser in den Griff.
„Die Jugendlichen stabilisieren sich bei People Berlin und trauen sich langsam wieder, nach vorne zu blicken“, erklärt Eva Sichelstiel. Hotaru wartet derzeit auf die Rückmeldung vom Berliner Oberstufenzentrum Bekleidung und Mode. Eine Ausbildung zur Modedesignerin möchte sie machen. Und genau darum geht es, das ist das Ziel von People Berlin: Mode machen, Perspektive gewinnen.
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