Triggerwarnung: Der folgende Artikel beinhaltet Schilderungen von emotionalem Missbrauch.
„Ich fühlte mich so erwachsen, weil ich mit diesem charmanten, älteren Typen zusammen war, der Anzugschuhe und karierte Morgenmäntel trug.“
Kelly* war 21, als sie ihren 26-jährigen Freund in einem Club kennenlernte. In kürzester Zeit wurde daraus eine stürmische Romanze. Sie war total verliebt, erzählt sie. „Er wohnte im zweiten Haus seiner Eltern. Das hatte einen Springbrunnen und Glastüren. Ich verlor meine Jungfräulichkeit auf seinem Schaffell-Teppich, vor einem Kaminfeuer, mit Musik im Hintergrund. Nach dem Sex schaute er mich liebevoll an und sagte mir, wie wundervoll ich doch sei und dass meine Mutter mich gar nicht zu schätzen wisse. Er brachte mir Austern und Jakobsmuscheln zum Essen mit, und wir veranstalteten richtige Festessen. Er war so zärtlich, wollte immer alles für mich tun und wünschte sich, ich würde bei ihm einziehen“, sagt sie.
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So eine stürmische Lovestory ist prinzipiell keine Seltenheit. Es kommt durchaus vor, dass sich zwei Leute kennenlernen und sich quasi direkt ineinander verlieben, in dem Glauben, den oder die Partner:in fürs Leben gefunden zu haben. Beziehungsmeilensteine wie das Zusammenziehen oder eine Verlobung werden dann meistens schnell abgehakt. In der Popkultur sind Storys wie diese beinahe überall. Sogar die beliebteste Reality-Show der letzten Jahre, Love Island, ist eine moderne Inkarnation der stürmischen Romanze: Frisch verliebte Pärchen verbringen acht Wochen lang jeden Tag miteinander und ziehen danach direkt zusammen. Und auch Hochzeit auf den ersten Blick, in der Paare den Schritt einer Beziehung direkt überspringen und sich direkt am Altar kennenlernen, fällt in dieses Schema.
Die Erzählung von so einer Hals-über-Kopf-Verliebtheit ist also beliebt wie eh und je, und obwohl wir vielleicht glauben, wir seien inzwischen immun gegen die Liebes-Klischees, die uns in den Märchen und den Medien verkauft werden, lebt niemand von uns in einem Vakuum – wir können uns von diesen Geschichten niemals wirklich lösen. Und genau deswegen bauen viele von uns unsere Vorstellungen einer solchen stürmischen Romanze auch in unsere echten Beziehungen ein. Dabei sind diese emotional intensiven Lovestorys in Wahrheit natürlich nicht immer gesund und können sogar gefährliche Konsequenzen haben.
Innerhalb von drei Monaten hatte Kellys Freund die angespannte Beziehung zwischen Kelly und ihrer Mutter nämlich zu seinen Gunsten ausgenutzt und Kelly damit – zusammen mit seiner finanziellen Großzügigkeit, die ihr ein Gefühl von Sicherheit gab – dazu überredet, bei ihm einzuziehen. „Anfangs fühlte sich alles noch aufregend und schön an, wie wahre Liebe eben. Er tat alles, um mich zu bekommen, als sei ich ein Preis, den er gewinnen wollte. Leider änderte sich das alles sofort, kaum hatte er mich aus dem Haus meiner Mutter zu sich gebracht“, erzählt sie. Er überschüttete Kelly mit Zuneigung und redete ihr gleichzeitig Zweifel an ihren Freund:innen ein, indem er behauptete, sie hätten sich an ihn rangemacht oder hinter Kellys Rücken über sie gelästert. „Ich erkannte nicht, dass er versuchte, mich zu isolieren. Als ich bei ihm einzog, wurde aus der stürmischen Romanze plötzlich ein zerstörerischer Wirbelsturm.“
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Im Laufe der folgenden acht Monate gewann er immer mehr die Kontrolle über Kelly. Irgendwann durfte sie das Haus nur noch verlassen, um zur Uni oder in den Supermarkt zu gehen. „Er bestand darauf, dass ich sein Weihnachtsgeschenk an mich bei meiner Mutter auspackte. Es war ein roter Tanga mit Loch im Schritt. Das war wie ein Mittelfinger an meine Mutter. Er wollte ihr damit gleichzeitig wehtun, mich blamieren und manipulieren“, erzählt sie.
In stürmischen Romanzen verbringen Paare oft jede freie Minute miteinander und überhäufen sich mit Geschenken. Dazu kommt eine Vielzahl an komplizierten Hormonen, die durch das Hirn und den ganzen Körper rauschen. Leider sind die großzügigen Geschenke und übermäßigen Komplimente, die damit oft einhergehen, ebenfalls klassische Anzeichen von Love Bombing – dem Versuch, durch intensive Zuneigung die Kontrolle über eine Person zu erringen –, wodurch es schwer ist, beides voneinander zu unterscheiden. Insbesondere wenn der Meilenstein des Zusammenziehens aufgrund bösartiger Absichten vorgezogen wird, kann das fatale Konsequenzen haben. Missbräuchliche Partner:innen können es nämlich als Manipulationstaktik nutzen, um ihre Partner:innen von ihrem Umfeld zu isolieren.
Sophie* war 25, als sie ihren 25-jährigen Freund auf Tinder kennenlernte. Auch ihre intensive Beziehung begann mit romantischen Gesten, und auch sie zogen schnell zusammen. Sophie wurde innerhalb kürzester Zeit von ihrer Familie und ihren Freund:innen isoliert. Der Missbrauch ihres Partners war jedoch finanzieller, nicht körperlicher Natur: Im ersten Monat ihrer Beziehung verbrachten sie jeden Tag zusammen, bevor er in ihre WG einzog. Nach vier Monaten mieteten sie sich dann gemeinsam eine Wohnung. „Als wir uns kennenlernten, wohnte er bei einem Freund, weil er gerade erst in die Stadt gezogen war. Dann zog er bei mir ein und wir einigten uns mit meinen Mitbewohner:innen wegen der Miete. Währenddessen hetzte er mich aber immer mehr gegen sie auf. Als wir schließlich da auszogen, war ich nicht mehr mit ihnen befreundet“, erzählt sie.
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„Nach nur zwei Wochen sagte er mir, er würde mich lieben, und hatte mich schon in drei Michelin-prämierte Restaurants eingeladen. Nach drei Monaten mietete er zu meinem Geburtstag einen Cadillac samt Chauffeur, der uns durch ein Weingut fuhr.“
Die Gefahr dabei, wenn du jemanden nur über eine kurze Zeitspanne hinweg kennenlernst, ist, dass sich daraus ein womöglich falsches Gefühl von emotionaler und körperlicher Intimität ergeben kann. Du hast den Eindruck, diese Person besser zu kennen, als du wirklich tust; außerdem schüttet körperliche Intimität Neurotransmitter wie Dopamin und Oxytocin aus, die für angenehme körperliche Empfindungen sorgen und dir deine:n Partner:in in einem vertrauenswürdigen Licht erscheinen lassen. Dadurch entsteht eine Atmosphäre, in der Warnsignale leichter übersehen werden und missbräuchliche Partner:innen immer mehr Vertrauen gewinnen können.
Es kann schwierig sein, einzelne Aspekte einer Beziehung als gesunde romantische Gesten oder als Warnsignale zu identifizieren. Um beides voneinander zu unterscheiden, kannst du dir aber genauer ansehen, wer von euch die Kontrolle hat. Die Therapeutin Holly Roberts meint, dass die Kontrolle in den meisten Beziehungen zwischen beiden Beteiligten hin- und herwandert. Wenn alles aber ganz schnell geht und die Kontrolle eindeutig in der Hand von nur einer Person liegt, kann das ein Grund zur Besorgnis sein. „Die Anzeichen dafür sind ziemlich unauffällig. Diese Form von Missbrauch ist nicht körperlicher Natur, sondern zeichnet sich durch wiederholte Muster von herabsetzendem, demütigendem und einschüchterndem Verhalten aus“, erklärt sie.
Leider haben Betroffene meist mit enormen Schamgefühlen zu kämpfen, wenn ihnen bewusst wird, was in ihrer Beziehung schief läuft. Wenn all das, was du für wahr gehalten hast, plötzlich vor deinen Augen zerbricht, kann das unangenehme Gefühle auslösen. Vielleicht kommst du dir dumm vor und hältst dich für naiv, weil du die Warnsignale nicht als solche erkannt hast; wie Holly betont, kann das aber absoluten jedem und jeder passieren. „Solche Beziehungen fühlen sich anfangs vielleicht total sicher an. Ein:e missbräuchliche:r Partner:in wird sich viel Mühe geben, um dein Vertrauen zu gewinnen, damit du ihm oder ihr alles verzeihst“, sagt sie. Holly empfiehlt, dich in solchen Situationen an deine liebsten Vertrauen zu wenden und dir Hilfe von außen zu holen, um die Zwangskontrolle innerhalb deiner Beziehung als solche identifizieren zu lassen – vor allem, weil ein frühes Zusammenziehen zu Beginn einer Beziehung eine missbräuchliche Taktik sein kann, um dich von deinem Umfeld zu lösen. „Verlasse dich auf deine Freund:innen und Familie. Lass dir von ihnen helfen, alles im Blick zu behalten, oder sprich darüber mit einem:einer Therapeut:in.“
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Dieser Isolation zu entkommen, ist schwierig, aber nicht unmöglich. Kelly gelang es, sich hilfesuchend an ihre Mutter zu wenden, als ihr Freund schließlich auch gewalttätig wurde. „Ich hatte alle meine Freund:innen verloren, hatte aber immer noch meine Mutter. Ich fragte sie: ‚Kann ich nach Hause kommen?‘ Sie sagte: ‚Du kannst immer nach Hause kommen.‘“
Auch Sophie entkam ihrer missbräuchlichen Beziehung. Als ihr Partner sich weigerte, bei ihrem Geburtstagsessen dabei zu sein, kurz nachdem ihre Großmutter gestorben war, war das für Sophie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Er nannte mich einen Kontrollfreak, weil ich ihn gerne dabei gehabt hätte. Das war überhaupt nicht mehr derselbe Typ wie damals, als er zum ersten Mal meinen Geburtstag mit mir gefeiert hatte. Heute bin ich ein großer Fan davon, es in Beziehungen erstmal langsam angehen zu lassen. Damals kam mir alles noch so zufällig vor, aber er hatte über alles die Kontrolle“, sagt sie.
Kelly ist heute 45, Sophie ist 32 Jahre alt. Sie teilen ihre Erfahrungen, um andere damit hoffentlich dazu zu ermutigen, neue Partner:innen erstmal von Grund auf kennenzulernen, bevor man sich auf wichtige Schritte wie das Zusammenziehen einlässt. Sie hoffen, anderen damit die Werkzeuge in die Hand zu geben, erste Anzeichen von Missbrauch zu erkennen – sowohl beim Dating als auch später in der Beziehung.
Ruth Davison, CEO der Organisation Refuge gegen häusliche Gewalt, ist der Meinung, genau dieses Wissen und Bewusstsein ist entscheidend dafür, häuslichen Missbrauch als solchen zu erkennen. „Das Erste, was Betroffene meistens sagen, wenn sie unsere Hotline anrufen, ist: ‚Ich bin mir nicht sicher, ob ich missbraucht werde… aber irgendwas stimmt in meiner Beziehung nicht.‘ Wir müssen verstehen, wie gesunde Beziehungen aussehen sollten, damit missbräuchliches Verhalten direkt bemerkt und erkannt wird.“
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Die Ähnlichkeiten zwischen stürmischen Romanzen und Love Bombing können es erschweren, problematisches oder sogar missbräuchliches Verhalten zu identifizieren. Wenn eine Beziehung zu schnell voranschreitet und die Kontrolle unfair zwischen beiden Partner:innen verteilt ist, kann sich ein Opfer nach dem Zusammenziehen isoliert und verletzlich fühlen und angreifbar für emotionale und finanzielle Kontrolle sein.
Wenn du überlegst, ob deine Beziehung von Zwangskontrolle betroffen sein könnte, kannst du dir die folgenden Fragen stellen:
– Fühlte sich die Beziehung anfangs noch sicher an, doch hat sich daran mittlerweile etwas geändert?
– Lobt dich dein:e Partner:in und spricht liebevoll mit dir und über dich, oder kritisiert er:sie dich für die eigenen Fehler und schlechten Verhaltensweisen?
– Kommt es in der Beziehung zu übermäßiger Eifersucht? Gefällt es ihm:ihr zum Beispiel nicht, dass du eigene Freund:innen hast?
– Fühlst dich verängstigt, isoliert und abgeschnitten von deinem Support-Netzwerk aus Freund:innen und Verwandten?
*Name wurde von der Redaktion geändert
Wenn du selbst betroffen bist oder jemanden kennst, die oder der Opfer häuslicher Gewalt ist, kannst du dich beispielsweise unter der Nummer 08000 116 016 oder per Online-Beratung an das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ wenden – ein vertrauliches, kostenfreies 24-Stunden-Beratungsangebot, das anonyme, mehrsprachige und barrierefreie Unterstützung bietet. Eine Liste mit weiteren Ansprechpartnern findest du hier.
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