2020 hat uns sicher so einiges gelehrt – und nicht alles davon ist schlecht. Zum Beispiel: Gen Z steht total auf historische Dramen. Von den Kalter-Krieg-Vibes in Das Damengambit über die umstrittene vierte Staffel von The Crown bis hin zum #regencycore-Soforthit Bridgerton: Das Internet liebt historisch angehauchtes Entertainment – und vor allem die damit einhergehenden Kostüme.
Konkrete Zahlen gefällig? Laut der Fashion-Suchmaschine Lyst sind die Suchanfragen nach Korsetts um 123 Prozent, nach Empirekleidern um 93 Prozent in die Höhe geschossen. Und anderswo im Internet – größtenteils auf TikTok – wird nicht nur gesucht, sondern geschneidert: Junge Leute erschaffen und präsentieren diese Kleidungsstücke und erzählen ihren Follower:innen gleichzeitig noch alles über die Geschichte hinter dieser Mode.
WerbungWERBUNG
Eine von ihnen ist die 24-jährige Shae (@shaetalksfashion) aus Detroit. „Ich fand es einfach so interessant, dass dein Outfit [früher] so viel über dich als Person aussagte“, erklärt sie ihr Interesse für historische Kleidung gegenüber Refinery29. „Vor allem durch Fast Fashion hat Kleidung für uns gar nicht den gleichen Wert. Klamotten repräsentierten früher alles – den gesellschaftlichen Status einer Person, ihre Individualität.“
Shae fing im Mai 2020 mit ihren ersten TikToks an, während des ersten Lockdowns. Seitdem hat sie sich eine Community aufgebaut, die ihr Interesse für Modegeschichte teilt. Ihr beliebtestes Video, in dem sie die Details von Prinzessin Dianas Hochzeitskleid bespricht, hat inzwischen über eine Million Views.
Auch Asta (@asta.darling), 31, ist zur erfolgreichen TikTok-Modehistorikerin aufgestiegen. Sie hat vorher Kostümgeschichte in Film und Theater studiert und fing mit ihren TikToks an, als eine Vorlesung, die sie hatte halten sollen, wegen Corona gecancelt wurde. Stattdessen lud sie die Vorlesung also bei TikTok hoch – und die ging direkt viral. „Es ist toll, dass so viele junge Leute über TikTok ihr Interesse für Geschichte entdecken“, meint sie.
Fashion und TikTok werden beide leider oft belächelt; diese Content Creators sind aber der festen Überzeugung, dass historische Mode enorm wichtig ist. „Mode folgt der Politik“, erklärt mir Asta. „Da wäre zum Beispiel das Edwardische Zeitalter von Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg, wo alle total zugeknöpft rumliefen. Dann änderte sich in den 20ern politisch alles, und plötzlich waren die Kleidersäume viel höher.“ Aber die meisten TikTok-User:innen wollen sich in der App nicht unbedingt bilden, sondern einfach Spaß haben, oder? Nein, findet Shae. „Man sollte meinen, der TikTok-Algorithmus würde bildenden Content eher ignorieren – tut er aber nicht. Stattdessen bevorzugt er ihn sogar. Und dieser Content kommt deswegen so gut an, weil die Videos eben nur eine Minute lang sind. Damit kommen sogar Leute klar, die nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne haben.“ Und gerade seit dem Release von Bridgerton auf Netflix scheint der Algorithmus die Videos dieser Creators zu lieben, in denen sie Looks aus der Show nachahmen oder kritisieren.
WerbungWERBUNG
Dabei haben viele User:innen der Fashion-History-Community insbesondere an den Bridgerton-Kostümen einiges auszusetzen, beschreiben sie als historisch inkorrekt und viel zu knallig. Aber gerade deswegen liebt die 19-jährige Molly (@ladymollyelizabeth) aus London die Show; sie nennt Bridgerton eine „19.-Jahrhundert-Fantasy-Show“ und findet historische Ungenauigkeiten in Film und Fernsehen besonders interessant. „Wenn du schon historisch nicht alles so genau nimmst, musst du es richtig und gut durchziehen – das hat Bridgerton gemacht“, sagt sie.
@fashionboyy Bridgerton Fashion #bridgerton #fashion #fashioneducation #fashionhistory #baroque
♬ original sound - jake
Besonders auffällige historische „Verbrechen“ der Bridgerton-Kostüme sind ihre grellen Farben und unüblichen Stoffe; dabei sind es vielleicht genau diese Elemente, die dem jüngeren Publikum besonders gut gefallen. Ellen Mirojnick, die Kostümdesignerin der Netflix-Serie, verleiht der Show durch die Kostüme nicht nur Farbe, sondern auch Leben – eine nette Abwechslung von den traditionell eher gedeckteren Farben in anderen historischen Dramen. Asta schwärmt hier vor allem vom cleveren Einsatz der Farben: „Daphnes Farbe ist Blau; der Duke trägt eher Rot. Als sie heiraten, sieht man sie danach häufiger in Lila – aber wenn Daphne sauer auf Simon ist, zieht sie wieder Blau an.“
Aber nicht jede:r ist so begeistert von der Serie. Alle Creators, mit denen ich darüber spreche, haben irgendwas daran auszusetzen – vor allem an der Korsettszene in der ersten Episode, in der eine der Featherington-Töchter in ein enges Korsett geschnürt wird. Laut der TikTok-Fashion-Expert:innen war das in Wahrheit sehr unüblich; genauso übrigens, ein Korsett auf der nackten Haut zu tragen (wahnsinnig unbequem!).
@ladymollyelizabeth take a shot everytime i talk about corsets #fyp #corsets #victorianfashion #fashionhistory #TFBornThisWay
♬ original sound - Aydon Holley
The Crown und Emma (2020) werden in der Diskussion rund um historische Genauigkeit hingegen immer wieder gelobt. Shae nennt in dem Zusammenhang auch Stolz und Vorurteil (1995) und beschreibt die Kostüme der Miniserie als „so authentisch, weil [die Kostümdesigner:innen] in Museen nach Kleidung von damals suchten und die Schnittmuster kopierten. Damit schossen sie weit übers Budget hinaus; viel genauer kann eine Darstellung aber nicht sein, wenn du nicht unbedingt jedes Kostüm am Webstuhl herstellen möchtest.“
WerbungWERBUNG
Historische Dramen sind gerade beliebter denn je – kein Wunder also, dass Korsetts, Puffärmel und Regency-typische eckige Dékolletés ein kleines Revival erleben. Aber warum stehen einige TikToker:innen so darauf, komplette historische Outfits nachzubasteln?
Deidrehannah (@thewoodmother) aus Atlanta zeigt auf TikTok, wie man historische Kleidungsstücke wie Korsetts herstellt und trägt, und erklärt mir den Reiz dahinter. „Was mir an diesen Kostümen mitunter am besten gefällt, ist, dass ich mich dadurch meinen Vorfahr:innen verbunden fühle – deren Namen ich nie kennen werde. Wenn ich die Klamotten trage, die sie getragen hätten, verstehe ich, wie sie sich dabei fühlten, ihre Ärmel hochzukrempeln, ihre Röcke zu raffen, sich die Hände an den Schürzen abzuwischen. Ich spüre, wie schwer diese Kleidung ist und wie sich ein Korsett auf die Körperhaltung auswirkt. Und wenn ich meine Vorfahr:innen auf diese Weise ein wenig verkörpern kann, habe ich das Gefühl, sie sind nicht völlig in Vergessenheit geraten.“
Diese Verbindung zur Vergangenheit scheint momentan besonders beliebt zu sein. Wir sehnen uns danach, mit Serien wie The Crown, Das Damengambit oder Bridgerton unserer Realität nach einem schwierigen Jahr ein bisschen zu entkommen. Und kann man uns das wirklich übel nehmen?
WerbungWERBUNG