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Back to normal – wie du dich wieder daran gewöhnst, unter Leuten zu sein

Foto: Jessica Xie
Letzten Samstag stieg ich zum ersten Mal in diesem Jahr in einen Zug. Ich war mit einem guten Freund unterwegs, um einen anderen zu besuchen, der während der Pandemie zu seinen Eltern zurückgezogen war. Als wir im Waggon nebeneinandersaßen und uns persönlich (!) unterhielten, konnte ich die körperliche Anstrengung spüren, die mich diese Unterhaltung kostete. Die Durchsagen während der Fahrt, die mir extrem laut und schrill vorkamen, und die Gespräche der anderen Menschen um uns herum lenkten mich enorm ab. Ich musste mich immens darauf konzentrieren, was mein Freund sagte, da ich mich wegen der Masken viel weniger auf nonverbale Anhaltspunkte verlassen konnte. Außerdem erschwerte der Mundschutz zusammen mit der Entfernung das Hören ganz schön. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, meine Freunde endlich wieder in echt zu sehen. Noch bevor wir unser Ziel erreichten, war mir aber klar geworden, wie sehr ich aus der Übung war. Wieder unter Leuten zu sein, war ganz schön ermüdend.
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Der Gedanke daran, in naher Zukunft wieder unter normalen Umständen unter Menschen zu gehen, verursacht bei dir wahrscheinlich eine ähnliche Mischung aus Aufregung, Angst, Unbeholfenheit und Erschöpfung. Das ist kaum verwunderlich, denn schließlich haben wir unsere sozialen Fähigkeiten über ein Jahr lang kaum genutzt. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin an der University of Kent School of Psychology Fanny Lalot hat sich mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in Großbritannien während der Pandemie beschäftigt. Sie gibt an, dass dieser Nichtgebrauch deutliche Kreise gezogen hat.
„Zu Beginn werden sich unsere Social Skills wahrscheinlich etwas eingerostet anfühlen“, erklärt sie. „Soziale Interaktionen zeichnen sich durch eine Reihe sozialer Richtlinien oder Normen aus, die wir alle kennen und bis zu einem gewissen Grad befolgen: wie wir Leute begrüßen, wie wir ein Gespräch beginnen, wie wir uns für bestimmte Arbeits- oder Freizeitveranstaltungen kleiden, und so weiter.“ Im Lockdown hat sich all das radikal verändert – von unserer Kleiderwahl bis hin zu der Art, wie wir kommunizieren (Zoom-Gespräche gekennzeichnet durch Zurufe à la „Du bist noch auf stumm gestellt!“). Es wird sich also seltsam anfühlen, zur Normalität zurückzukehren, da wir uns zuerst wieder an die alten sozialen Spielregeln gewöhnen müssen.
Fanny beruhigt mich aber, als sie sagt: „Unsere soziale Kompetenz ist nicht weg. Wir müssen nur wieder mehr Gebrauch von ihr machen.“
Genauso wie du keinen Marathon laufen solltest, wenn du seit einem Jahr nicht mehr gelaufen bist, lassen sich deine sozialen Muskeln nicht in einem einzigen anstrengenden Versuch wieder aufbauen. Um sie wieder in den Zustand zu bringen, in dem sie mal waren, ist es wichtig zu verstehen, weshalb es nach all dieser Zeit so schwierig ist, wieder unter Menschen zu gehen. Erst dann kannst du diese Hürden erfolgreich nehmen. Wir sind nämlich nicht nur aus der Übung (obwohl das ein wichtiger Faktor ist), sondern haben auch mit den körperlichen Auswirkungen der Isolation zu kämpfen und müssen lernen, auf COVID-sichere Weise miteinander zu kommunizieren (Distanz einhalten, Masken tragen etc.)
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Einiges weist darauf hin, dass sich das letzte Jahr negativ auf unsere Gehirne ausgewirkt hat: Es wird angenommen, dass länger andauernde Isolationsphasen die kognitiven Funktionen beeinträchtigen – insbesondere das Erinnerungsvermögen und den verbalen Abruf. Mit anderen Worten: Unsere Fähigkeit, uns an Sätze oder Momente zu erinnern, hängt davon ab, wie viel interaktiver Stimulation wir ausgesetzt sind. Als soziale Wesen brauchen wir viel davon. Wenn du dich also mit jemandem unterhältst und feststellst, dass du nicht die passenden oder gar keine Worte finden kannst, liegt das wahrscheinlich an dem Konversationsmangel, dem viele von uns ausgesetzt gewesen sind.
Gleichzeitig haben wir beim Socializen jetzt physische Herausforderungen wie Masken und die vorgeschriebene Distanz. Wie Chris Segrin, Professor für Kommunikation an der Universität von Arizona, gegenüber The Cut erklärte, gibt es physiologische Gründe, warum es sich derzeit so kräfteraubend anfühlt, unter Leuten zu sein. „Durch Social Distancing wird das Sprechen miteinander anstrengender, da wir uns beim Kommunizieren bewusst mehr Mühe geben müssen. Das kann dazu führen, dass wir uns bereits nach einer Weile ziemlich müde fühlen.“ Masken dämpfen nicht nur unsere Worte, sondern machen es auch unmöglich, eine Fülle von nonverbalen Signalen zu erkennen, die den Kommunikationsprozess so viel einfacher machen. Immerhin ist ein halb verdecktes Gesicht nur halb so ausdrucksstark wie ein unverhülltes.
Dann sind da noch die psychologischen Barrieren. Die Pandemie hat uns nicht nur gelehrt, Menschen zu meiden, sondern auch, ihnen gegenüber misstrauisch zu sein. „Jede Person, an der wir vorbeilaufen, hat bisher ein potenzielles Ansteckungsrisiko symbolisiert. Deshalb haben wir uns angewöhnt, uns von anderen fernzuhalten – buchstäblich, am besten zwei Meter“, betont Fanny. „Das hat zu Misstrauen oder zumindest Unbehagen bei sozialen Interaktionen geführt. Es wird einige Zeit dauern, bis diese Gefühle wieder verschwinden.“
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Diese Scheu vor anderen Menschen spielt in viele anhaltende Ängste hinein. Während uns die Corona-Regeln klar vor Augen führen sollen, welche Art von Interaktion erlaubt ist und welche nicht, berichten Psycholog:innen, dass Erwachsene zunehmend über Stress in sozialen Situationen klagen – angefangen von der Unwissenheit, wie sie sich ohne Händedruck begrüßen oder ohne Umarmung verabschieden sollen, bis hin zum Mangel an Gesprächsthemen.
„Es kann sein, dass einige Freund:innen und Familienmitglieder aus dem einen oder anderen Grund zögern, sich zu treffen, selbst wenn es sich bei diesen Treffen nur um kleine Gruppen handelt“, sagt Gill Hasson, Autorin von Communication: How To Connect With Anyone. „Vielleicht fühlen sie sich einfach sicherer und selbstbewusster, wenn sie sich nur mit einer anderen Person treffen. Andere wollen sich vielleicht immer noch nicht an öffentlichen Orten treffen.“ Das vergangene Jahr war für uns alle schwer, aber es hat jede:n von uns unterschiedlich getroffen. Um die eigenen Grenzen und jene anderer Personen wahren zu können, müssen wir vor persönlichen Begegnungen unbedingt explizit darüber sprechen.
Wie bringst du also – mit all diesen Faktoren im Hinterkopf – deine sozialen Muskeln wieder in Topform?
Wie bei anderen Muskeln ist es am wenigsten anstrengend und am produktivsten, sie langsam zum Einsatz zu bringen und in regelmäßigen Abständen Gebrauch von ihnen zu machen.
Fanny rät dazu, mit einer sehr kleinen Gruppe anzufangen und gemeinsame Aktivitäten im Voraus zu planen. „So kannst du dem Wiedersehen etwas Struktur verleihen und es in Gang bringen. Auf diese Weise wird es auch etwas geben, worüber ihr reden könnt. Immerhin haben viele von uns im Moment das Gefühl, nicht viel zu sagen zu haben.“
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Sie ist davon überzeugt, dass alles umso einfacher werden wird, je länger die Lockdown-Phase zurückliegt. „Je mehr unsere Leben wieder jenen vor dem Ausbruch der Pandemie ähneln, desto stärker werden sich unsere alten Reflexe wieder bemerkbar machen. Kurz gesagt: Akzeptier deine Nervosität, um sie besser überwinden zu können. Gib dich natürlich und lass den Dingen ihren Lauf.“ Nutze die Übergangszeit, während der sich Corona-Regeln allmählich lockern, dazu, um zu üben, dich wieder an soziale Situationen zu gewöhnen.
Fanny warnt auch davor, zu viel über soziale Kontakte nachzudenken. Außerdem betont sie, wie wichtig es ist, offen darüber zu sprechen, wie seltsam alles ist, besonders, wenn du dich ängstlich fühlst oder Schwierigkeiten beim Umgewöhnen hast. Zu erwähnen, wie schwer es ist, durch eine Maske zu kommunizieren oder wie seltsam es sich anfühlt, wieder persönlich miteinander zu sprechen, nimmt der Situation etwas Spannung. „Wir sitzen alle im gleichen Pandemie-Boot. Wenn du also etwas leicht Unbeholfenes tust oder sagst, wird dein Gegenüber bestimmt nachsichtig sein.“
Das Wichtigste ist es, sich wirklich zuzuhören. Respektier die Vorstellungen anderer davon, was ein mögliches Risiko darstellen könnte. Versuch also nicht, deine Mitmenschen in Umgebungen oder Situationen zu bringen, für die sie noch nicht bereit sind. „Wir müssen die Bedenken und Grenzen unseres Gegenübers respektieren, Dinge aushandeln und Kompromisse eingehen. Nur so können wir uns treffen und gemeinsame Zeit auf eine Art und Weise verbringen, die auch den Bedürfnissen der anderen Person entspricht“, sagt Gill. Wenn wir das nicht tun, könnte das dazu führen, dass wir anfangen, soziale Kontakte ganz zu vermeiden – und ausweichendes Verhalten kann Vermeidung nur noch weiter verschlimmern.
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Anstatt diese Umstellung als Herausforderung zu sehen, sollten wir sie als wertvolle Gelegenheit betrachten, unsere Grenzen neu zu entdecken, uns das zu gönnen, was wir während des Lockdowns doch so vermisst haben und wieder zu lernen, einander zuzuhören. Kate Murphy, Journalistin und Autorin von You're Not Listening: What You're Missing and Why It Matters weist darauf hin, dass es in Hinblick auf Geselligkeit und Zuhören „nichts Besseres als einen Entzug gibt. So lernen wir, das, was wir eine Zeit lang nicht hatten, zu schätzen. Wenn alles wieder seinen normalen Lauf nimmt, werden wir Traditionen des gegenseitigen Zuhörens wiederaufleben lassen.“ Die Fähigkeit des Zuhörens aufrechtzuerhalten und wiederzubeleben – selbst in Zeiten von Social Distancing –, kann ein Weg sein, um soziale Milieus viel einladender zu machen, als sie es vor der Pandemie waren. Das wiederum kann uns helfen, die kollektive Trauer, das Trauma und die Hoffnung in Bezug auf 2020 zu verarbeiten.
Als ich von meinem Nachmittag mit meinen Freunden nach Hause kam, war ich erschöpft, aber auch gut gelaunt. Unsere relative Müdigkeit und soziale Unbeholfenheit bedeutete, dass unsere gemeinsame Zeit intensiv, hoffnungsvoll, heilend und fröhlich gewesen war. Obwohl ich mir beim Unterhalten ein bisschen mehr Mühe geben musste als früher, fühlte ich mich durch das Zusammensein mit Menschen, die mir am Herzen liegen, so belebt wie seit Monaten nicht mehr.
Wenn du dir immer noch Sorgen um deine Social Skills machst, kann dich Fanny beruhigen. Sie hält es nämlich für unwahrscheinlich, dass unsere soziale Unbeholfenheit von Dauer sein wird. Aufgrund ihrer Untersuchungen glaubt sie, dass sich die meisten Erwachsenen recht schnell wieder an die neuen, alten Umstände gewöhnen und sich in der Gesellschaft anderer Menschen wieder wohlfühlen werden. „Auch, wenn die Lockdown-Phase nicht zu enden scheint und viele Menschen sich während dieser Zeit einsam gefühlt haben, war niemand von uns jemals komplett von der Gesellschaft abgeschnitten (wie Schiffbrüchige). Wir hatten grundlegende Interaktionen, wir haben andere Menschen gesehen und mit ihnen telefoniert, die Nachrichten verfolgt, und so weiter. Es ist also unwahrscheinlich, dass die Situation schwerwiegend genug war, um irgendwelche schlimmen, länger anhaltenden Schäden verursacht zu haben.“
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