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Ich war erleichtert, als mein Vater starb – warum schockiert das so viele?

Foto: Kristine Romano.
Als ich den Titel von Jennette McCurdy Memoiren las, atmete ich einmal vor Erleichterung tief aus. Ihr Buch I’m Glad My Mom Diedzu nennen, wirkt vielleicht erstmal wie eine schockierende Entscheidung und wie ein Versuch, Aufmerksamkeit zu erwecken. Es ist aber eine Aussage, die ich komplett nachvollziehen kann.
Es mussten erst vier Jahre nach dem Tod meines Vaters vergehen, bis ich den Schaden wirklich erkannte, den sein unberechenbares Verhalten während meiner Kindheit in mir angerichtet hatte. Heute kann ich es vorsichtig als „emotionalen Missbrauch“ bezeichnen – doch fällt es mir bis jetzt schwer, die Worte laut auszusprechen. In diesem Wort – Missbrauch – schwingen bei mir Schuld, Scham und die Angst mit, womöglich falsch zu liegen.
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Aber wie sollte ich es sonst bezeichnen?
Während meiner Kindheit schlug die Laune meines Vaters von einer Sekunde auf die andere immer wieder um. Obwohl er mir gegenüber nie gewalttätig wurde und ich nie an seiner Liebe für mich zweifelte, schien ich ihn doch irgendwie zu nerven. Er ging immer davon aus, ich wollte ihn damit provozieren, wenn ich zu laut atmete, zu schnell sprach oder den „falschen“ Ton in der Stimme hatte. Seine Wut kochte schon nach den kleinsten, scheinbar belanglosesten Dingen über. Wenn ich einen Löffel fallen ließ oder es wagte, ihm zu widersprechen, konnte ich beobachten, wie er seine Stirn in Falten legte und sich seine Miene sichtbar verfinsterte. In diesen Momenten wusste ich: Mir standen jetzt drei Tage des stillen Zorns bevor, den ich irgendwie verursacht hatte. 
Als sie noch lebte, nannte meine Mutter diese Phasen seine „schwarze Stimmung“. Sie war die Vermittlerin zwischen uns, konnte sich nie einem Streit zwischen uns entziehen. Wann immer es wieder eskalierte, flüsterte sie mir ins Ohr: „Entschuldige dich einfach bei ihm, Schatz, dann ist das alles direkt wieder okay.“ Bis es aber soweit war, ging ich wie auf Eiern und lernte, unsichtbar zu sein.
Meine Mutter starb ganz plötzlich, als ich 20 Jahre alt war, als ihr Brustkrebs nach einem Jahrzehnt überraschend wieder aufflammte. Mein Vater und ich standen unter Schock, kamen uns aber doch irgendwie wieder näher. Die Unsicherheit, die ich in seiner Nähe bis dato empfunden hatte, verwandelte sich in eine sanftere Form des erwachsenen Respekts. Das gelang mir vor allem, weil wir nicht mehr im selben Haus wohnten. Stattdessen unternahmen wir gemeinsame Wochenendtrips, quatschten via Skype und schrieben uns regelmäßig E-Mails, wenn ich beruflich unterwegs war.
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Mit 29 zog ich allerdings wieder bei ihm ein, um ihn zu pflegen, nachdem er nach einer Fibrose-Diagnose schnell bettlägerig wurde. Mir blieb keine andere Möglichkeit: Mein Vater lag im Sterben – und brauchte mich. In seiner letzten Phase zerrte er uns aber zurück in das problematische Machtverhältnis meiner Kindheit, und all die Fortschritte, die unsere Beziehung bis dahin gemacht zu haben schien, lösten sich quasi in Luft auf.
Der Palliativpflege-Expertin Dr. Kathryn Mannix zufolge bin ich mit meiner damaligen Hoffnung, vor seinem Tod noch einmal mit ihm Frieden schließen zu können, aber lange nicht allein. Wenn es tatsächlich zu dieser Versöhnung kommt, kann das später bei der Trauer helfen – muss es aber nicht. „All diese verlorenen Chancen auf Liebe, all die Situationen, in denen uns jemand enttäuscht hat, kommen dann wieder ans Tageslicht. Zur Trauer eines solchen Abschieds gehört auch die Trauer darüber, dass die Beziehung, die wir uns gewünscht oder erhofft hatten, jetzt nicht mehr möglich ist. Aber da ist auch Erleichterung – darüber, dass wir in Zukunft nicht mehr von dieser Person enttäuscht werden können“, erklärt Mannix.
Als mein Vater starb, war ich wirklich erleichtert. Vor allem, weil er nicht mehr leiden musste – aber auch, weil ich mich nicht mehr darauf einlassen musste, eine Rolle zu spielen, die ich hasste. In der Gegenwart meines Vaters musste ich mich immer kleiner machen, jedes Wort genau abwägen und seinen Gefühlen immer mehr Raum geben als meinen eigenen, um ihn nicht zu verärgern. Ich konnte meine Gefühle nie ehrlich ausleben, während er lebte, weil er immer die Kontrolle hatte.
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Zur Trauer eines solchen Abschieds gehört auch die Trauer darüber, dass die Beziehung, die wir uns gewünscht oder erhofft hatten, jetzt nicht mehr möglich ist. Aber da ist auch Erleichterung – darüber, dass wir in Zukunft nicht mehr von dieser Person enttäuscht werden können.

Dr. Kathryn Mannix, Palliativpflege-Expertin
Im Vergleich dazu ist die Freiheit, die ich seit seinem Tod empfinde, ein unglaubliches Gefühl. Ich habe endlich die Worte gefunden, um sein abschottendes Verhalten zu beschreiben, und weiß heute, dass er emotional sehr unreif war. Ich verstehe außerdem endlich, wie sich dieses emotionale Trauma auch auf meine eigenen Beziehungen ausgewirkt hat. Mein enormer Unabhängigkeitsdrang und meine Unfähigkeit, um Hilfe zu bitten, machen mich zum perfekten Beispiel einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeit samt Bindungsangst. Ich schützte mich selbst, indem ich Mauern um mich herum aufbaue – ganz ähnlich wie er.
Wenn jemand stirbt, stirbt damit nicht automatisch auch deine Beziehung zu diesem Menschen. Es verändert sich aber sehr wohl etwas daran. Die Beziehung wird zu etwas Statischem; sie verliert ihre Dynamik und emotionale Hitze, und sie nimmt nicht mehr so viel Raum ein.
Jetzt, da ich endlich ein wenig Distanz zu meiner Beziehung zu meinem Vater gewonnen habe, sehe ich ihn in einem ganz anderen Licht – und das scheint auch Jennette McCurdy mit ihrer Mutter so zu gehen. Anstatt inmitten einer turbulenten und immer unsicheren Dynamik zu leben, haben wir beide nun die Chance, die Wogen zu glätten, sie kritisch zu betrachten und uns endlich wirklich einzugestehen, was da eigentlich passierte.
Wenn man Mitglied im „Trauer-Club“ wird, gewinnt man damit automatisch die beeindruckende Fähigkeit hinzu, völlig Fremde sofort zu verstehen – weil euch dieselbe Trauer verbindet. Diese Bindung spüre ich zum Beispiel mit McCurdy. Auch ich bin Schriftstellerin, empfinde Trauer, wurde als Kind emotional missbraucht. Durch ihr Buch hat auch sie eine neue Perspektive auf ihre Mutter entdeckt. „Es vereinfachte unsere Beziehung auf eine sehr erleichternde Weise“, erzählte sie in der Sendung Good Morning America. „Es fühlt sich jetzt so an, als könnte ich sie einfach nur vermissen. Und ich denke, das ist nur möglich, weil ich beim Schreiben dieses Buches viele Wunden heilen konnte.“
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Die Trauer- und Verlust-Betreuerin Karen Chaston erklärt mir, wie wichtig es tatsächlich ist, dir selbst einzugestehen, dass sich das Verhalten deiner Eltern auf dich ausgewirkt hat – und wie wichtig es gleichzeitig ist, ihnen zu vergeben. „Das tust du letztlich aber für dich selbst, nicht für sie. Und wenn du ihnen vergibst, heißt das auch nicht, dass du ihr Verhalten damit gutheißt oder auch nur akzeptierst“, sagt sie. „Du vergibst, damit du mit alldem abschließen kannst. Damit du die dunkle Masse aus Gefühlen in dir endlich lösen kannst.“
Wenn ich heute versehentlich Besteck fallen lasse, bin ich immer noch sofort angespannt und warte direkt darauf, die Wut meines Vaters abzubekommen. Das Einzige, was ich heute aber abbekomme, ist der verängstigte Blick meiner kleinen schwarzen Katze im Flur – vermutlich eine ziemlich gute Darstellung meiner eigenen Unruhe. Ich frage mich immer noch, ob mein Vater mir meine Angst damals ansah. Ob er meine angespannten Muskeln bemerkte – ob er spürte, dass ich sofort bereit war, mich zu verteidigen und mich zu entschuldigen. Manchmal scheint sich mein Körper daran sogar besser zu erinnern als mein Kopf.
Wenn jemand stirbt, sind die Schmerzen, die diese Person zu Lebzeiten anderen zugefügt hat, nicht automatisch alle wieder beglichen. Tatsächlich kann es Betroffenen sogar dabei helfen, sich ihre eigenen Missbrauchserfahrungen einzugestehen, wenn sie diese in Worte fassen. Vor allem, wenn sie bis heute darunter leiden.
Ich hasse meinen Vater nicht, überhaupt nicht. Ich trauere weiterhin um ihn. Gleichzeitig würde ich mir aber selbst keinen Gefallen damit tun, die Konsequenzen seines Verhaltens für meine eigene Psyche zu ignorieren. Jetzt, da er nicht mehr da ist, kann ich mein Leben endlich nach meinen Bedingungen leben, anstatt immer zuerst seine zu beachten. Und irgendwie glaube ich, er wäre vielleicht sogar stolz darauf.
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