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Politik: Wer wir sagt & ich meint – Ausschluss unter dem Deckmantel des Plurals

1. Person Plural. Wir. Eigentlich mag ich wir. Wir steht für Plural und damit für unterschiedliche und mehrere Ichs, die da unter dem Pronomen Wir vereint werden. Und wo doch der egoistische Individualist zur Figur der Postmoderne avanciert zu sein scheint, müsste man ja überall nur noch Ich lesen und hören. Denkste Puppe! Denn das Pronomen Wir erfreut sich großer Beliebtheit in der Medienlandschaft. Besonders gern, wenn über Geflüchtete, Migranten und dem Islam von denen, die keine Geflüchteten, MigrantenInnen oder Muslime und Muslima sind, gesprochen wird, nimmt der Gebrauch der 3. Person Plural inflationäre Ausmaße an.
So sind sich im Zuge des kürzlich verabschiedeten Integrationsgesetzes die meisten Kommentatoren und „Experten“ in den deutschen Medien wieder einmal einig, wie wichtig nicht nur die Sprach-, sondern auch vor allem die Integrationskurse seien, in denen den Geflüchteten „unsere Werte und unsere Kultur“ näher gebracht werden solle. In den Polittalkshows der Öffentlichen wird gefragt: „Welche Zuwanderer wollen wir?“ und die Grünen Politikerin Katrin Göring-Eckardt will „den Islam bei uns einbürgern“. Aber was „uns“ eigentlich am meisten besorgt, sei die Bildung von Parallelgesellschaften und Ghettos. Das müssten „wir“ vermeiden, denn da wisse man ja nun aus der jüngsten Vergangenheit, was ansonsten bevorstünde: islamis(tis)cher Terror.
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Ich frage mich, wen dieses Wir meint? In wessen Namen es spricht? Im Namen einer Zeitung, in der ein Artikel erscheint? Im Namen einer Partei? Eines Fernsehsenders? Oder doch im Namen eines einzelnen Autors, der unter dem Wir seine multiplen Identitäten vereinigt sieht? Wohl kaum.

Ich frage mich, wen dieses WIR meint?

Julia Lehmann
In den Zusammenhängen, in denen dieses große Wir gebraucht wird, spricht es im Namen von Deutschland, vom Deutschsein und im Namen einer christlich-jüdischen Tradition – was immer das alles auch heißen mag. Wenn von „unseren Werten und unserer Kultur“ gesprochen wird, meinen die „Experten“, die christlich-jüdischen Werte in Deutschland. Die deutschen Werte. Wenn „wir“ uns fragen, welche Zuwanderer „wir“ wollen, ist es nicht ein Land das fragt und noch nicht einmal eine Nationalität. Es sind „wir“, die deutschen Deutschen, also eben nicht alle Deutschen. „Wir“ christlich-jüdische Deutsche, die den Islam, der (noch) nicht zu „uns“ gehört, einbürgern müssen. „Wir“ Deutsche, die nicht in Parallelgesellschaften leben und alles, was von dem abweicht, was „wir“ als „unsere Werte und Kultur“ bezeichnen, mit Parallelgesellschaft stigmatisieren können.
Dieses Wir ist also kein wirkliches wir, kein Plural, keine Pluralität. Nein, dieses Wir spricht im Namen von ganz wenigen. Und das ist ein Problem. Warum?

Dieses WIR ist also kein wirkliches wir, kein Plural, keine Pluralität. Nein, dieses WIR spricht im Namen von ganz wenigen.

Julia Lehmann
1. Die Sprecher des Wirs maßen sich an, für ein ganzes Land sprechen zu können. Sie suggerieren mit der Verwendung dieses Pronoms, dass sie wüssten, was die Meinung aller in diesem Land Lebenden ist. Das ist aber unmöglich. Meine Meinung ist in diesem Wir zum Beispiel nicht vertreten. Und wenn von diesen nebulösen christlichen-jüdischen Werten die Rede ist, dann frage ich mich nicht nur wie die aussehen, sondern woher der Wirsprecher weiß, dass diese Werte unsere sind. Fragen die Experten in den Talkrunden, welche Zuwanderer „wir“ wollen, meinen sie doch eigentlich, welche Zuwanderer sie wollen. Ich würde, fragte man mich, zum Beispiel aber sagen, dass weder ich noch ein Experte darüber entscheiden darf, welche Zuwanderer ich oder er in diesem Land haben will. Dennoch fragt die Talkrunde im Namen des Wir! 2. Die Sprecher des Wirs gehen demnach nicht nur davon aus, dass sie für ein ganzes Land sprechen können, sondern gehen in ihrer Anmaßung von einer Homogenität aus, die es gar nicht gibt. Wenn von „unseren Werten und unserer Kultur“ gesprochen wird, dann wird angenommen, es gäbe einen von allen in diesem Land Lebenden vertretenen Konsens darüber, wie diese Werte und diese Kultur aussehen. Dass der Inhalt, der diese Worthülsen füllen könnte, dann auch meistens leer bleibt, spricht nur dafür, dass keiner von den Sprechern so richtig weiß wovon er redet. Ich auch nicht. Und deshalb spreche ich auch nicht von unseren Werten und unserer Kultur und frage auch nicht, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Und, falls jemand mich doch fragt, würde ich mich eher fragen, ob das Christentum zu mir gehört oder nicht und an meine Kindheitserinnerungen denken, in denen ich als Kind areligiöser Kommunisten mit meiner besten Freundin ihren Papa zur Moschee begleitet und muslimische Hochzeiten besucht habe noch eher als ich an christlichen teilgenommen hätte. Also einheitlich ist das nicht. Kann es auch gar nicht und soll es auch gar nicht. In diesem Land leben 80 Millionen Menschen. Wie kann man davon ausgehen, dass jede einzelnen Person zu einem einzigen Wir verschmolzen werden kann? 3. Will der Wirsprecher ja auch gar nicht. Was er eigentlich will, ist seine Meinung und die Meinung einiger weniger als allgemeinen Konsens ausgeben. Denn das bringt ihm Vorteile, schafft Zugänge und sichert ihm Macht und Repräsentation. Und wenn immer die gleichen entscheiden und bestimmen, was „wir“ wollen und wer „wir“ sind, dann bleiben es auch immer die gleichen, die das Wir bilden. Denn nur die, die überhaupt Zugang zu den Kanälen haben, in denen sie, das, was sie denken und entscheiden, artikulieren können, können an dem, was unter Wir verstanden wird, Einfluss nehmen. Diejenigen, die vielleicht andere Werte haben oder sich keiner christlich-jüdischen Tradition verpflichtet sehen oder sich aus welchem Grund auch immer nicht von diesem Wir repräsentiert fühlen, werden nicht wahrgenommen und bleiben unsichtbar.

4.
Womit ich bei dem Hauptproblem in der medialen Verwendung des Wir angelangt wäre. Denn die Benutzung des Wortes Wir zieht eine Trennung zwischen „Wir“, die im Namen von einer imaginierten homogenen Einheit sprechen, die es nicht gibt und „Denen“, die davon ausgeschlossen werden. Die Geflüchteten zum Beispiel. Die MigrantenInnen zum Beispiel. Die Muslime und Muslima zum Beispiel. Denn eigentlich meint das Wort Wir nämlich gar nicht Wir, sondern es meint: Wir weiße, heterosexuelle, wohlhabende, zumeist auch noch männliche, Christen, die das Bild von Deutschsein und damit das Wir bestimmen. Und das ist ein Bild, das noch nie eine Entsprechung in der Realität gefunden hat. Die ist nämlich sowohl christlich wie muslimisch als auch areligiös. Sie ist weiblich, männlich und trans*. Queer, homo und hetero. Arm, mittelständisch und wohlhabend. Sie ist hier geboren, eingewandert und geflüchtet. Deutsch-, englisch- türkisch-, arabisch-, russisch- oder auch spanischsprachig. Und sie hat Werte, die nicht von allen geteilt werden und eine Kultur, die sich aus vielen Subs zusammensetzt. Man muss diese Menschen aber sprechen lassen, damit auch sie das Wir formen können. Das will der Wirsprecher aber nicht. Denn dann würde er seine Vorrangstellung verlieren und wer will das schon?
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Wenn immer die gleichen entscheiden und bestimmen, was „wir“ wollen und wer „wir“ sind, dann bleiben es auch immer die gleichen, die das WIR bilden

Julia Lehmann
So lange aber die, die im Namen von einer imaginierten einheitlichen deutschen Nation oder Kultur sprechen, nicht Platz für die machen, die sie ausschließen, kann der Wirsprecher nur Angst haben, dass „seine Werte und seine Kultur“ missachtet und Parallelgesellschaften diese gefährden werden. Wenn er aber einsieht, dass seine nicht die einzigen Werte sind und die Frage nach dem parallel erst das Wozu beantworten müsste, kann man vielleicht auch anders darüber diskutieren, worum es tatsächlich geht, wenn von „unseren Werten“ und parallelen Gesellschaften die Rede ist, um dann differenziert über Ursachen und Gründe von radikalen Islamismus zu reden. Denn das Problem an solchen Gegenden wie Molenbeek in Brüssel ist nicht das parallel. Das gab es nämlich immer. Da braucht man nur einmal nach Berlin Mitte oder Prenzlauer Berg zu fahren. Da lebt meine Freundin, die seit acht Jahren in Berlin lebt und kaum mehr als ein paar Wörter deutsch spricht, die gerade ausreichen, um sich in Cafés glutenfreie Speisen und laktosefreie Latte Macchiatos zu bestellen.
Doch eigentlich sind selbst diese Vokabeln nicht wirklich notwendig, da in den Orten, wo sie sich aufhält, eigentlich fast überall englisch gesprochen wird. Es gibt hier sogar Bars oder Friseurläden, da sprechen die Angestellten überhaupt kein deutsch. Sie sprechen englisch oder spanisch. Meine Freundin geht regelmäßig zum Yoga. Die Klassen werden auf Englisch angeboten. Im Kino am Kanal werden alle Filme mit englischen Untertiteln gezeigt. Ihre Freunde, die aus Spanien, Italien, Brasilien, England oder den USA kommen, sprechen auch kein deutsch. Und sie brauchen es auch nicht, denn sie bewegen sich in einem Umfeld, in dem sie auch ohne deutsch zurechtkommen. Meine Freundin hat außer mir keine deutschen Freunde, kennt andere Bezirke allenfalls vom Hörensagen und mag Deutschland und die Deutschen im Allgemeinen auch nicht besonders. Sie lebt polyamorös und findet die Freiheit des Marktes nicht so toll. Sie muss aber keinen Sprach- oder Integrationskurs besuchen und lebt doch ganz schön parallel. Es scheint also gar nicht um etwaige Werte oder Tradition zu gehen, die den Geflüchteten, Muslime und Muslima und MigrantInnen erst beigebracht werden müssen. Nein, es geht einzig und allein um Zugang zu Privilegien, Repräsentanz, Geld und Anerkennung, was leider Güter sind, die ziemlich einheitlich, homogen und christlich-jüdisch verteilt sind. Und daran ändert auch ein Wir nichts.

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