Solange ich denken kann, gelten 10.000 Schritte am Tag als Goldstandard – der ultimative Maßstab des Gehens. Uns wird vermittelt, wir sollten jeden Tag so viele Schritte hinter uns bringen, um unser (vermeintlich) optimales Gesundheitslevel zu erreichen. Demnach sind die 10.000 Schritte in vielen Fitness-Trackern das voreingestellte, manchmal unerreichbare Tagesziel. Und obwohl wir uns zwar scheinbar auf diese Zahl als Ideal geeinigt haben, kann kaum jemand erklären, woher diese eigentlich kommt. Wer hat entschieden, dass 10.000 das erstrebenswerte Ziel sein sollte? Oder ist diese konkrete Zahl womöglich nur ein Mythos?
Es stellt sich heraus, dass wir die Vorstellung, wir müssten täglich 10.000 Schritte – oder rund acht Kilometer – laufen, in Wahrheit einem Versehen verdanken. Und natürlich ging es dabei darum, ein Produkt zu vermarkten. Die Harvard-Professorin für Epidemiologie Dr. I-Min Lee, die zu körperlicher Aktivität forscht, erzählt gegenüber Refinery29, dass eine japanische Firma in den 1960ern einen Schrittzähler namens „Manpo-kei“ entwickelt habe, was übersetzt so viel heißt wie „10.000-Schritte-Zähler“. „10.000 Schritte, das ist eine sehr einprägsame Zahl“, meint Dr. Lee – und diese Zahl wurde immer bekannter. „Irgendwann wurde sie verwendet, ohne dass irgendjemand sie groß hinterfragte“, erklärt sie.
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Mit der Zeit wurde die 10.000 zum globalen Maßstab für viele Schrittzähler, von Fitbits bis hin zu Apple Watches. Das führte dazu, dass Konsument:innen glaubten, diese Zahl sei das ultimative Schrittziel. Und obwohl wir dieser Empfehlung jetzt schon seit Jahrzehnten folgen (oder ihr zumindest Glauben schenken), ist dieser Maßstab für unsere Gesundheit laut Dr. Lee gar nicht so nützlich.
Eine Studie von 2021, veröffentlicht im JAMA Network Open, begleitete über zehn Jahre hinweg 2.110 Erwachsene, die jeden Tag ihre Schritte zählten. Die Studie ergab, dass diejenigen, die mindestens 7.000 Schritte am Tag machten – nicht 10.000 –, ein geringeres Risiko aufwiesen, frühzeitig zu sterben, als diejenigen, die keine 7.000 Schritte erreichten. 2019 hatten Dr. Lee und ihre Kolleg:innen in der Fachzeitschrift JAMA Internal Medicine bereits eine Studie mit ähnlichen Ergebnissen veröffentlicht. Auch sie waren zu dem Schluss gekommen, dass sich die gesundheitlichen Vorteile oberhalb von 7.500 Schritten pro Tag tendenziell nicht mehr zu steigern scheinen. Ihre Untersuchungen konzentrierten sich allerdings hauptsächlich auf ältere Frauen von 62 bis 101 Jahren. Wer jünger ist, profitiert laut Dr. Lee durchaus von einer höheren Schrittzahl.
Dabei gibt es auch einen psychologischen Aspekt zu bedenken. Manche Leute empfinden die 10.000 vielleicht als unerreichbare Zahl, was entmutigend wirken kann. Andere fixieren sich womöglich sehr stark auf diese Zahl und werden unruhig, wenn sie sie nicht jeden Tag erreichen. Diese Besessenheit davon, so konkrete Ziele zu erreichen, kann deiner Gesundheit sogar schaden, anstatt ihr zu helfen.
„Ich finde Zahlen-Ziele für manche Menschen super, für andere wiederum schlimm. Das gilt für Zahlen auf einem Schrittzähler genauso wie auf einer Waage“, meint Dr. Jill Grimes. Sie ergänzt, dass wir uns zugunsten unserer Gesundheit eher darauf konzentrieren sollten, was uns wirklich zur Bewegung motiviert. „Bei jungen Erwachsenen ist das vielleicht das Gefühl, fit genug für einen Ski-Trip zu sein, oder auch einfach quer über den Campus laufen zu können, ohne davon erschöpft zu sein“, erklärt Dr. Grimes. „Es ist entscheidend, dich auf die Motivation hinter der Bewegung zu konzentrieren.“
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Die gute Nachricht: Dr. Lee zufolge zählen alle Schritte – ob nun 10.000, 7.000 oder 2.000. Wenn dir die 10.000 unerreichbar vorkommt, empfiehlt Dr. Lee, dir vielleicht vorzunehmen, 2.000 Schritte mehr als sonst zu machen. Und bei denjenigen, die körperlich nicht dazu fähig sind, so viel herumzulaufen, können auch tägliche Kraftübungen mit dem eigenen Körpergewicht oder Gewichten helfen.
Im Zweifel ist jede Form der Bewegung besser als gar keine – und obwohl uns die 10.000 zwar ein konkretes Ziel liefert, auf das wir hinarbeiten können, sollten wir uns darüber wirklich nicht den Kopf zerbrechen.
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