Als Teenagerin bekam ich die Diagnose PCOS (polyzystisches Ovarialsyndrom). Die Wörter „Diabetes Typ 2“ oder „Insulin“ fielen dabei nie.
PCOS ist eine chronische Erkrankung, die die Funktionsfähigkeit der Eierstöcke beeinträchtigt. Typ-2-Diabetes betrifft meist Menschen im Alter von über 45 Jahren und sorgt dafür, dass der Blutzuckergehalt zu hoch ist. Und weil PCOS meist jüngeren Menschen diagnostiziert wird, erklärt die Gynäkologin Michelle Swer von London Gynaecology, „wirkt das Risiko einer Typ-2-Diabetes-Erkrankung in diesem Alter gering“. Vielleicht wurde mir deswegen einfach nur die Anti-Baby-Pille verschrieben, um meinen Zyklus regelmäßiger zu machen, und geraten, ich solle wiederkommen, wenn ich schwanger werden wollte – ohne auch nur einen Tipp dazu zu bekommen, wie ich mich vor Diabetes Typ 2 schützen könnte. Ich wünschte, diese Informationen hätte mir meine Ärztin damals mitgegeben. Denn heute weiß ich, dass eine PCOS-Erkrankung das Risiko für Typ-2-Diabetes im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen um das Vierfache erhöht.
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Das hat Dr. Jan Toledano, Expertin für weibliche Hormone und Gründerin der London Hormone Clinic, auch schon bei zahlreichen ihrer Patient:innen beobachten können. „Ich glaube, dass viele Ärzt:innen PCOS nicht gut verstehen. Das wiederum bedeutet, dass dann auch die Betroffenen ihre Krankheit nicht gut verstehen“, meint sie. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt schon jemals PCOS-Betroffene behandelt habe, die bei ihrer PCOS-Diagnose darüber aufgeklärt wurden, wie sich Typ-2-Diabetes verhindern ließe.“ Das Traurige ist, dass sich das Risiko, mit PCOS an Diabetes zu erkranken, mit dem richtigen Wissen drastisch reduzieren lässt.
Seit meiner Diagnose sind elf Jahre vergangen, und es sieht nicht so aus, als habe sich die medizinische Lage seitdem groß verbessert. Eine Studie ergab, dass zwar nicht alle PCOS-Erkrankten auch tatsächlich Insulinprobleme haben (es sind „nur“ rund 65 bis 70 Prozent), aber dennoch alle Patient:innen standardmäßig darauf behandelt werden sollten. Das gilt vor allem, weil das PCOS die häufigste hormonelle Störung bei Menschen mit Gebärmutter im gebärfähigen Alter ist; rund vier bis zwölf Prozent von ihnen sind davon betroffen.
Dr. Toledano ist übrigens der Meinung, dass „PCOS“ der falsche Begriff für die Erkrankung sei. Sie erklärt: „Der Name ist irreführend, weil er nahelegt, die Krankheit werde von den Ovarien (Eierstöcken) ausgelöst. Das stimmt nicht! PCOS entspringt einer Veranlagung zu Diabetes – das ist tatsächlich beides dasselbe. Das zugrundeliegende Problem ist ein gesteigertes Risiko zur Insulinresistenz. Oder um es einfacher zu sagen: Eine betroffene Person kann mit Kohlenhydraten und Zucker nicht so gut umgehen.“
Dr. Toledano erzählt, das Ganze ließe sich mit mit einem Auto vergleichen, das statt mit Benzin mit Diesel vollgetankt wird: Mit diesem Kraftstoff kann es einfach nicht fahren. Dasselbe passiert bei PCOS im Körper. „Es ist egal, ob du Früchte oder ein Brötchen isst: Im Fall einer Insulinresistenz üben Zucker und Kohlenhydrate jeder Art Druck auf die Bauchspeicheldrüse aus“, erklärt sie. „Dadurch steigt das Insulin, und der Körper produziert jede Menge Östrogen – was wiederum dafür sorgt, dass du zum Beispiel unter PMS, starken Monatsblutungen oder manchmal auch gar keiner Periode leidest. Wenn du demnach keinen ‚normalen‘ Eisprung hast, entstehen Zysten an den Eierstöcken.“
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Obwohl junge Menschen nicht dem typischen Profil für Diabetes Typ 2 entsprechen, gibt es sie eben doch – und sie bekommen kaum medizinischen Support. Die 33-jährige Lizzie zum Beispiel „hätte nie damit gerechnet“, mit Anfang 30 die Diagnose Typ-2-Diabetes zu bekommen. Sie war 17, als sie nach heftigen, schmerzhaften Blutungen und übermäßigem Haarwuchs (Hirsutismus) mit PCOS diagnostiziert wurde. „Daraufhin verschrieb man mir die Pille, und mein Arzt empfiehl mir eine Wohltätigkeitsorganisation für PCOS-Betroffene. Das war es dann aber auch“, erzählt sie. Danach war sie bei der Recherche auf sich allein gestellt und fühlte sich außerdem sehr im Stich gelassen, nachdem man ihr gesagt hatte, sie würde eventuell mal Schwierigkeiten haben, schwanger zu werden. „Ich musste mich immer selbst um meine Gesundheit kümmern“, sagt sie. Im September 2023 bekam sie dann die Diabetes-Diagnose. Weil es davon mehrere Fälle in ihrer Familie gibt – und die Gene hier sehr wohl eine Rolle spielen, meint Dr. Toledano –, war Lizzie zwar durchaus schon vorher davon ausgegangen, dass sie selbst mal Diabetes bekommen könnte. Aber eben in ihren 40ern oder 50ern, nicht mit Anfang 30.
„Wenn man mir von der Diabetesgefahr schon vor 16 Jahren, bei der Diagnose, erzählt hätte – welchen Unterschied hätte das machen können?“, fragt sie sich. Heute nimmt Lizzie Metformin, ein Diabetesmedikament, und musste ihre Ernährung umstellen (was nicht leicht war, weil sie zusätzlich glutenintolerant ist).
Tatsächlich spielt die Ernährung im Zusammenhang mit PCOS ohnehin eine große, problematische Rolle. Eine neue Studie im akademischen Magazin Reproductive Sciences ergab, dass PCOS-Betroffene häufiger unter Essstörungen leiden – insbesondere unter Bulimie und der Binge-Eating-Störung. Auf TikTok teilte eine PCOS-Ernährungsberaterin namens Alex Okell diese Studie, und ihr Video wurde inzwischen von Tausenden Leuten angesehen. Die Häufigkeit der Essstörungen unter PCOS-Betroffenen erklärt sie sich mit den fehlenden Informationen, die PCOS-Patient:innen zu ihrer Ernährung bekommen. Wenn sie in einem mehrgewichtigen Körper leben – eines der typischen PCOS-Symptome ist nämlich Gewichtszunahme –, bekommen sie bei Ärzt:innen laut Okell häufig zu hören: „Nehmen Sie einfach ab.“ Allein schon diese Aufforderung ist problematisch, und wird nur noch verschlimmert, weil die Betroffenen nichts zu ihrer potenziellen Insulinresistenz erfahren.
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Das kennt auch die 34-jährige June-Ann, die von ihren Ärzt:innen aufgrund ihres Körpergewichts schon oft nicht ernst genommen wurde. „Jedes meiner Gesundheitsprobleme wurde auf mein Gewicht geschoben“, erzählt sie – ihr PCOS hingegen wurde ignoriert, und das, obwohl sie die Diagnose schon mit 17 Jahren bekommen hatte und es in ihrer Familie mehrere Diabetesfälle gab. Keine:r ihrer Ärzt:innen sprach mit ihr damals über Insulinresistenz. Sie drückten ihr lediglich Info-Flyer zu PCOS in die Hand und forderten sie auf, wiederzukommen, wenn sie schwanger werden wollte. Mit 32 bekam sie dann die Typ-2-Diabetes-Diagnose. „Ich wurde von meinen Ärzt:innen nie ernst genommen. Es ging ihnen immer nur um mein Gewicht, und PCOS war bei meinen Beschwerden nie ein Thema. Ich glaube, das liegt daran, dass sie selbst gar nicht viel darüber wussten.“
Alles, was sie heute über ihre Erkrankung weiß, verdankt sie ihrer eigenen Recherche. Mittlerweile produziert sie dazu sogar einen eigenen Podcast. „2020 scrollte ich mich gerade durch Instagram, als ich auf ein paar Posts zu PCOS stieß, in denen es darum ging, dass sich die Krankheit gar nicht nur auf die Eierstöcke auswirken kann, sondern zum Beispiel auch deine Haut oder mentale Gesundheit beeinflussen kann. Das war für mich echt beruhigend, weil ich dadurch wusste, dass ich mir das nicht alles nur eingebildet hatte. Es gab einen Grund dafür, warum es mir so ging“, erzählt June-Ann. Etwa ein Jahr später merkte sie, dass ihr andauernd die Finger einschliefen – ein typischen Anzeichen für Prädiabetes. Heute folgt sie einem strikten Ernährungsplan, um die Krankheit unter Kontrolle zu bekommen, und nimmt ebenfalls Medikamente ein. Außerdem telefoniert sie alle zwei Wochen mit einer Ernährungsberaterin.
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Der 33-jährige trans Mann Shane hat ebenfalls PCOS und Angst davor, mal an Diabetes zu erkranken. Deswegen bemüht er sich darum, dem mithilfe seiner Ernährung und sportlichen Aktivität vorzubeugen. Als er die PCOS-Diagnose bekam, hatte er das Glück, dass seine Ärztin das Diabetesrisiko immerhin erwähnte; sie ging aber nicht weiter darauf ein. „Das Gespräch lief eher nach dem Motto: ‚Sie haben eine starke Periode, und Sie haben stärkere Gesichtsbehaarung. Das deutet auf PCOS hin.’ Sie konzentrierte sich bei der Behandlung nur auf das Körperliche, das Sichtbare – und nicht darauf, was die Krankheit eigentlich medizinisch mit mir machen kann“, erzählt er. „Heute habe ich PCOS-Kochbücher, die mir mehr über PCOS beigebracht haben als jeder Arzt und jede Ärztin.“ Was ihn außerdem triggerte: „Von meinen Ärzt:innen wie eine Frau behandelt zu werden, obwohl auch Männer diese Probleme haben können.“
Es gibt durchaus Tests, die zeigen können, ob jemand insulinresistent ist oder ob das Risiko dazu besteht. Swer zufolge geraten die aber leicht in Vergessenheit. „PCOS-Betroffene sollten sich alle drei Jahre mithilfe eines Bluttests auf ihren glykämischen Status untersuchen lassen, um eventuelle Veränderungen im Blick zu behalten“, rät sie. Dr. Toledano ergänzt, dass abnormale Hormonwerte beim LH/FSH-Quotienten sowie beim SHGB (sexualhormonbindendes Globulin) auf eine Insulinresistenz hindeuten können. Und mit der richtigen Behandlung lassen sich diese Werte „komplett korrigieren“, betont sie.
Niemand sollte über die eigene Gesundheit im Unklaren gelassen werden, bloß weil etwas nicht gründlich genug erklärt wird. Das nächste Mal, wenn ich mir mein Blut untersuchen lasse, werde ich genau deswegen um einen der eben genannten Tests bitten, um mir selbst einen besseren Überblick über meine Gesundheit zu verschaffen.
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