Manche von uns bekommen schweißnasse Hände, wenn die Ärztin oder der Arzt nach dem Alkoholkonsum fragt. Und die Reaktion ist dann oft fast schon Oscar-würdig: eine kurze nachdenkliche Pause, ein grübelndes Stirnrunzeln, gefolgt von: „Hmm, eigentlich nicht so viel… vielleicht ein, zwei Gläschen Wein pro Woche?“
Ganz egal, ob das der Wahrheit entspricht oder ob die Zahl eigentlich deutlich höher ist, die Antwort fühlt sich irgendwie immer wie eine Lüge an. Warum? Wegen des Stigmas, das mit dem Thema verbunden ist. Eine gesunde Beziehung zum eigenen Alkoholkonsum lässt sich durch diese Vorurteile kaum aufbauen.
Mark Holmes will genau dagegen etwas tun. Er arbeitet als Krankenpfleger und ist spezialisiert auf Alkoholprobleme. Zusätzlich ist er “Drink Coach“ bei der Haringey Advisory Group on Alcohol. HAGA ist eine britische Organisation, die in Form von Online-Beratungen Menschen dabei hilft, ihre Beziehung zum Alkohol zu hinterfragen. Die meisten Frauen, die Mark via Skype berät, sind etwa 29 Jahre alt und mittelständisch.
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„Ich glaube, mit Alkohol sind die größten Vorurteile verbunden“, sagt Mark. „Ein Koks- oder Cannabis-Problem wird meiner Meinung nach gesellschaftlich eher akzeptiert als eine Alkoholsucht. Alkoholabhängige gelten als schwach.“
Der Alkoholkonsum in Deutschland geht seit den 1980ern immer weiter zurück. So lag der Pro-Kopf-Verbrauch 2017 bei 10,5 Litern pro Jahr – 1980 waren es noch 15,1 Liter. Und auch Jugendliche trinken nicht mehr so häufig wie früher: Nur 9,5 Prozent der 12- bis 17-Jährigen tranken 2019 wöchentlich, wohingegen es vor 15 Jahren noch über 21 Prozent waren. Trotzdem zeigt der deutsche Alkoholatlas 2017 einen Trend unter sozial höher gestellten Frauen: Von den Frauen mit hohem Sozialstatus trinkt etwa die Hälfte mindestens jede Woche Alkohol, ein Fünftel von ihnen sogar riskante Mengen. Verglichen mit sozial niedriger gestellten Frauen haben sie den höchsten Konsum. Und wenn du jetzt denkst, damit sei eher die Generation deiner Eltern gemeint, die pikiert die Stirn runzelt, wenn es im Restaurant zur Rechnung keinen Schnaps aufs Haus gibt, liegst du falsch. Schon unter den 18- bis 29-jährigen Frauen mit gutem Bildungsstand trinkt jede Fünfte mindestens wöchentlich, und rund 15 Prozent sogar gefährlich viel.
Aber sind daran wirklich nur wir selbst schuld? Oder können wir es eventuell irgendwie der Getränkeindustrie in die Schuhe schieben, die seit ein paar Jahren den Markt mit edlen Drinks flutet? „Ich vermute, die Industrie hat bemerkt, dass junge Leute weniger trinken – dafür aber immer Hochwertigeres“, sagt Mark. Seiner Meinung nach profitieren Getränkemarken heute von unserer Bereitschaft, mehr Geld für weniger Alkohol auszugeben, nur weil ein Gin vielleicht dreifach destilliert wurde und die Flasche ja so hübsch aussieht.
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Das Problem: Von Premium-Drinks werden wir natürlich genauso betrunken wie von ihren billigeren Verwandten. Ein Cocktail für 15 Euro kann uns ebenso abfüllen wie ein paar Dosen Bier aus dem Supermarkt. „Letztens unterhielt ich mich mit einer Frau, die mir sagte, sie würde jeden Abend eine halbe Flasche “edlen Wein“ trinken“, erzählt Mark. „Ich wies sie darauf hin, dass das etwa anderthalb Flaschen Wodka pro Woche entsprach – und da fiel sie aus allen Wolken.“
Prosecco, so Mark, spielt übrigens in einer ganz anderen Liga. „Prosecco erlebt in den letzten drei, vier Jahren einen echten Hype. Das Marketing dazu ist der Wahnsinn.“ Heute ist es gesellschaftlich akzeptiert, beim Friseurbesuch ein Gläschen zu trinken; gerne lassen wir auch bei Freund*innen den Korken knallen, anstatt eine Tasse Tee zu schlürfen. Und die hübschen Bläschen haben eine ganz bestimmte Zielgruppe. „Und das sind nicht die Männer – Prosecco wird für Frauen beworben.“
Der hohe Preis des Alkohols kann dabei fast schon beruhigend wirken: „Wenn man sich mal durch Instagram scrollt, sieht man da überall Leute, die von ihrer Gesundheit besessen sind“, sagt Mark. „Sie achten genau auf ihre Ernährung und trinken fleißig ihre Eiweiß-Shakes – nur beim Alkohol haben sie keine Ahnung, was drin ist.“ Kein Wunder: Alkoholische Getränke sind bisher von der Kennzeichnungspflicht ausgenommen. Zutaten und Nährwerte stehen nicht auf der Flasche. Wie viele Kalorien, wie viel Zucker und Fett in unserem Lieblingscocktail schlummern? Wer weiß.
Was wir aber wissen: Zu viel Alkohol ist ungesund, ganz egal, wie teuer er ist. Trotzdem neigen viele dazu, wegzuhören. Mark beschreibt das so: „Was Alkohol angeht, würden sich viele wohl gern die Ohren zuhalten, nach dem Motto: Ist doch alles nur Blabla.“ Wer seinen eigenen Alkoholkonsum also kritisch hinterfragen möchte, wird erst einmal mit einer ganzen Menge an Vorurteilen konfrontiert. Ein Selfie vom Anonyme-Alkoholik*innen-Treffen ist schließlich nicht so instagrammable wie ein farbenfroher Cocktail. Noch dazu reden wir uns gern ein, AA sei für Leute mit einem echten Alkoholproblem. Für diejenigen, die es ohne ein paar Flaschen gar nicht durch den Tag schaffen würden.
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Bei seiner Arbeit trifft Mark Menschen aus allen Ecken der Gesellschaft. Als Drink Coach berät er nicht nur Leute, die tatsächlich ein Suchtproblem haben. Sie trinken vielleicht bloß ein bisschen zu viel und trauen sich daher nicht, Hilfe bei den Anonymen Alkoholik*innen zu suchen. „Das mit solchen Gruppen verbundene negative Stigma ist enorm – zu Unrecht. Das sollten wir endlich alle begreifen.“
Dabei wollen die meisten seiner Klient*innen gar nicht völlig auf Alkohol verzichten. „Fast jede*r sagt mir, einfach etwas weniger trinken zu wollen“, berichtet er. Nur manche entscheiden sich dann doch für die totale Enthaltsamkeit, weil sie mit einem Alles-oder-nichts-Ultimatum besser klarkommen. Die meisten wünschen sich jedoch einfach eine gesündere Beziehung zum Alkohol. Viele seiner Kund*innen trinken nach der Beratung ähnlich viel wie vorher. „Aber eben mit einer ganz neuen Perspektive. Sie lernen, das Trinken anders zu genießen.“
Und woran erkennst du nun, dass du ein bisschen Hilfe gebrauchen könntest? Das ist recht einfach: Wenn du dir schon darüber Gedanken machst, ist das ein guter Anfang. „Schon früh ein Auge auf den eigenen Konsum zu haben, kann viel ausrichten“, sagt Mark. Das unabhängige Info-Portal Alkohol? Kenn dein Limit bietet einen Alkohol-Selbsttest an, bei dem du herausfinden kannst, ob du prinzipiell zu viel trinkst.
Du bist dir trotzdem noch unsicher? Mark empfiehlt, ein Alkohol-Tagebuch zu führen – nur für dich selbst. Dadurch kannst du herausfinden, warum du an diesen Tagen getrunken hast und ob es schon zur Gewohnheit geworden ist. Machst du das, um dich selbst für etwas zu belohnen? Trinkst du, weil es dir einfach schmeckt? Diese und weitere Fragen können dir dabei helfen, einen Eindruck über deinen Konsum zu bekommen, so Mark.
Am allerwichtigstenist es aber, mit anderen offen darüber zu sprechen – denn nur sokönnen wir etwas gegen das mit Alkohol verbundene Stigma unternehmen.