Wer liebt ihn nicht, den Drink nach der Arbeit? Das Feierabendbier mit Kolleginnen oder der gediegene Gin Tonic mit Freunden ist der krönende Abschluss eines jeden Arbeitstages. Für Menschen, die keinen Alkohol trinken, fühlt sich das allerdings oft anders an.
„Ich trinke Wasser“ – plötzlich entgleisen die Gesichtszüge der Anderen, die Augen werden groß.
Man könnte vermuten, dass das eine simple persönliche Entscheidung ist, die andere Menschen nicht einmal tangieren würde. Für ausreichend Gesprächsstoff sorgt sie dennoch allemal. Die Fragen und Kommentare, die ich mir regelmäßig anhören muss, und die Blicke, die von verwundert über ungläubig bis hin zu „OMG, was ist los mit dir“ reichen, unterstreichen meinen vermeintlichen Einhorn-Status. Das alles musste sich wahrscheinlich noch nie jemand anhören, der in seinen Zwanzigern Alkohol trinkt.
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„Trinkst du wirklich gar nichts?“ und „Machst du das schon immer?“: Wenn zwei Freunde essen gehen und unterschiedliche Dinge bestellen, wird doch auch nicht schockiert gefragt, warum man nicht das Gleiche isst. Dabei geht es ja nicht einmal um die Fragen per se. Wenn wir uns unterhalten und darauf zu sprechen kommen, dass ich keinen Alkohol trinke, darf man durchaus nachhaken. Aber es muss auf Augenhöhe passieren, wie mit allem anderen auch. Mich von Minute eins zu belagern, mich womöglich sogar zu fragen, ob ich schwanger sei, ist schlicht taktlos und unangebracht.
Und das hört bei den Fragen nicht auf. Wie oft mir mit einem zwinkernden Auge trotzdem ein Glas zugeschoben wird –„Probier’ doch mal! Mir hat’s am Anfang auch nicht geschmeckt!“ Mit den Kommentaren kommt oft auch eine bestimmte Wahrnehmung: Ich, die keinen Alkohol trinkt, kann wahrscheinlich nicht den gleichen Spaß haben wie sie, die einen Shot nach dem anderen kippen. Entspannte Abende und Sonnenuntergänge ohne ein Glas Wein? Das kann ja gar nicht gehen.
Wann sind alkoholreiche Abende eigentlich zum Standard geworden? Und warum muss man sich dem entweder beugen oder eine Inquisition über sich ergehen lassen? Warum sorgt Enthaltsamkeit in der freitäglichen Barsitzung für Irritation?
Themen, die Taktgefühl und eine mächtige Portion Empathie erfordern, führen auch schnell zu Trotzreaktionen im Stil von „Das darf man ja wohl noch fragen/sagen dürfen“. Und die Reaktion lautet immer wieder: Nein, darf man nicht. Benimmexpertin Jacqueline Whitmore riet mir auf meine Frage hin, wie ich unangenehme Fragen umgehen könnte, einfach ein Glas Soda oder Ginger Ale zu bestellen, weil das optisch nicht gleich auffallen würde. Am besten mit etwas Limettenzeste im Glas, dann sieht es noch mehr nach Longdrink aus. Aber warum muss ich denn überhaupt erst so tun? Nehmen wir an, ich wäre wirklich schwanger oder möglicherweise trockene Alkoholikerin. In einem Kreuzverhör zu sitzen macht das alles weder leichter, noch amüsanter.
Wenn nichts hilft, rät Whitmore dazu, den Spieß umzudrehen. „Wenn jemand nicht aufhört zu fragen, kann man unter Umständen auch einfach mal zurückfragen ‚Warum interessiert dich das eigentlich so brennend?‘ oder ‚Warum trinkst du eigentlich?‘. Dann wird oft nichts mehr gefragt“.
Wer das liest, selbst gerne Alkohol trinkt und das nächste Mal jemanden kennenlernt, der nicht trinkt: Es kann tausend Gründe dafür geben. Vielleicht hat sie es einmal probiert und es hat ihr einfach nicht geschmeckt. Vielleicht ist sie schwanger. Vielleicht liegt der Grund noch viel tiefer. Solange das unklar ist, wünsche ich mir nur das: Verkneift euch bitte die Frage.