Von einer Essstörung loszukommen ist an sich schon ein sehr beschwerlicher Weg. Unsere Gastautorin, Jess Mann, stand das Ganze durch, während sie außerdem in einer ganz anderen lebensverändernden Phase steckte. Ihre Geschichte erinnert daran, wie kompliziert das Leben doch werden kann, wenn unendliche Freude, Furcht und harte Arbeit gleichzeitig auf uns einprasseln. Aber sie erinnert auch daran, dass man das alles überstehen kann.
Es war drei Tage vor meinem Geburtstag. Meine Schwester erzählte mir, dass sie eine Eistorte mitbringen wolle und ohne auch nur darüber nachzudenken, wusste ich, dass ich das Abendessen ausfallen lassen würde, um ein Stück davon essen zu können, ohne mich schuldig zu fühlen. Dass ich hungrig werden würde, spielte keine Rolle. Hunger spielte in den 15 Jahren, in denen ich an Magersucht und Fressanfällen litt, generell keine Rolle, wenn ich Entscheidungen übers Essen zu treffen hatte. Es ging nie darum, ob ich unfassbar hungrig (gut) oder zu voll gefressen (schlecht) war. Es ging immer nur darum, ob ich es verdiente, etwas zu essen - ob ich es mir verdient hatte.
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Ich beendete das Gespräch mit meiner Schwester, legte auf und begann mit der Planung für die Party.
Ich entschied, dass ich auch auf der Arbeit nichts essen würde. Ich würde bis zwei Stunden vor der Party warten und dann etwas Gesundes essen (genau gesagt: einen langweiligen Salat), dann würde ich mir ein Glas Wein und ein Stück Kuchen gönnen, ganz ohne schlechtes Gewissen. Obwohl es bis dahin noch eine Weile hin war, wusste ich bereits, dass das Ganze in einem Desaster enden würde. Wenn dieser Geburtstag genau so verlief, wie alle anderen bisher, würde ich wahrscheinlich irgendwann gegen 2 Uhr morgens vor dem Kühlschrank enden, Kuchenreste in mich hinein stopfen und mich dabei wie die letzte Versagerin fühlen.
Doch ich schob den Gedanken erst einmal beiseite und richtete meine Aufmerksamkeit auf eine andere dringende Angelegenheit. Ich ging nach Hause und pinkelte auf einen Teststreifen.
Zwei Linien erschienen.
Ein paar Jahre zuvor hatten mein Ehemann und ich entschieden, dass wir bereit für ein Baby wären. Ich war gerade 30 geworden und kämpfte seit mehr als zehn Jahren mit einer Essstörung. Da ich nun bald Mutter werden wollte, holte ich mir professionelle Hilfe, machte tatsächlich Vorschritte und konnte bald wieder weitestgehend normal mit Essen umgehen.
Etwa ein Jahr später hatte ich eine Fehlgeburt. Genau auf diese Gelegenheit hatte meine Essstörung wohl gewartet. Eines der vielen Dingen, die dir niemand über eine Fehlgeburt erzählt, ist: Egal, wie viele Ärzte und Freunde dir sagen, dass dich keinerlei Schuld daran trifft, du wirst dich immer fragen, was du falsch gemacht hast. Mein Selbstwertgefühl brach in sich zusammen und meine gestörten Verhaltensweisen hatten mich bald wieder im Griff. Es war einfacher zu kontrollieren, was ich aß, als zu kontrollieren, wie ich mich fühlte. Jedes Mal, wenn ich wieder einmal versucht hatte, zu hungern und am Ende doch wieder einen Eimer Erdnussbutter auslöffelte, sagte ich mir, dass ich es für mich ja auch gar keinen Grund gab, gesund zu werden. Ich verdiente es einfach nicht. Ich klammerte mich an die Krankheit, wie an eine Rettungsweste und ich war sehr gut darin, sie zu verstecken. Da mein Gewicht immer auf einem Level blieb, dass allgemein als gesund angesehen wurde, schöpfte Verdacht, ich könnte ein Problem haben. Niemand kam auch nur auf die Idee, einmal genauer hinzuschauen.
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Nun war ich also wieder schwanger. Angesichts des Ergebnisses fühlte ich mich erleichtert und war aufgeregt und in der nächsten Minute plötzlich furchtbar ängstlich. Meine Essstörung war zu einer permanent kontrollierenden Stimme in meinem Kopf geworden. Ich würde mit dem Hungern und den Fressanfällen aufhören und damit anfangen müssen, besser auf mich achtzugeben – nur wie?
In einer Schwangerschaft ist Ernährung sehr wichtig. Es gibt hunderte Bücher und Blogs, die einem erzählen, wie, was und wann man essen soll. Ich las fleißig, schlug meine neuen Richtlinien und Essensregeln nach, um diese in mein Leben zu integrieren. Ich wollte sichergehen, dass ich es richtig machte. Ich war bereit, mich dem Thema Essen noch einmal von einem ganz anderen Standpunkt aus zu nähern. Dann kam die Übelkeit.
Ihr kennt sicher diese Szenen aus diversen Filmen, in denen eine Schwangere gerade dabei ist, irgendetwas zu tun und urplötzlich erscheint dieser gewisse überraschte Ausdruck auf ihrem Gesicht und sie rennt ins Badezimmer? So läuft das nicht. Es ist nicht, als würde jemand sagen: „Hey! Überraschung! Du musst dich jetzt übergeben!“ *Würg* „Und jetzt ist alles wieder gut!“
Ich habe nie erbrochen, aber jeden Tag gegen die Mittagszeit überkam mich die Übelkeit. Im Laufe des Nachmittags wurde sie immer schlimmer, bis ich über den Boden meines Wohnzimmer kroch und schließlich einfach dort liegen blieb und hoffte, der Raum würde endlich aufhören sich zu drehen. Manchmal verharrte ich bis 18.30Uhr in dieser Stellung, bis ich schließlich ins Bett ging. Aber so verzweifelt ich auch war, für jemanden, der an einer Essstörung leidet, war das ein absolutes Traumszenario: Erzwungene, kontinuierliche Appetitlosigkeit.
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Bei einer Untersuchung in der 13. Schwangerschaftswoche sah sich die Hebamme mein Gewicht an und runzelte die Stirn.
„Sie haben 4 Kilo in einem Monat abgenommen“, sagte sie ernst. Meine Mann warf mir einen besorgten Blick zu.
„Übergeben sie sich? Bekommen sie überhaupt etwas hinunter?“ fragte die Hebamme.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe mich noch nie übergeben“, brachte ich langsam hervor. „Aber am Nachmittag ist es immer besonders schlimm, ich bekomme fast gar nichts hinunter?“
„Salzstangen? Joghurt? Smoothies?“
Ich nickte. „Das geht. Zumindest ein wenig davon. Mir ist nur die ganze Zeit so übel. Meistens schlafe ich einfach nur.“ Sie blickte wieder auf den Patientenbogen.
„Gut, versuchen sie alle paar Stunden ein bisschen was zu essen. Das geht so nicht weiter“, sagte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. „Bei unserem nächsten Termin sollten sie zugenommen haben oder wir müssen ihnen etwas verschreiben.“
Ich nickte erneut und fragte mich, was sie einem während einer Schwangerschaft wohl verschreiben würden, damit man zunahm. Die Alles-mit-Käse-Diät?
Im Auto auf dem Weg nach Hause tätschelte mein Mann meine Hand. Außerdem sagte er noch eine Menge aufmunterndes Zeugs, aber ich war so mit meiner Essstörung beschäftigt, dass ich ihn nicht hören konnte. Sie redete mir gerade ein, dass ich niemals eine dieser Frauen sein würde, denen man schon von hinten ansah, dass sie schwanger waren; dass ich die Frau sein würde, die auf ihrer eigenen Babyparty das Stück Kuchen ausschlägt und dass alle davon beeindruckt sein würden. Ich war so sehr darauf trainiert, mich für jedes Gramm, das ich zunahm, zu schämen und auf jedes, das ich verlor, stolz zu sein, dass ich selbst in diesem entscheidenden Moment an nichts anderes denken konnte.
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Zu Hause setze ich mich ins Badezimmer. Ich dachte daran, wie ich gerade einmal drei Monate zuvor auf diese zwei Striche gestarrt hatte und wusste, dass mein Leben sich verändern würde. Dann erinnerte ich mich daran, wie ich ein Jahr zuvor hier gesessen hatte, kurz nachdem ich mein Baby verloren hatte.
Es war an der Zeit zu lernen, meinem Körper zu vertrauen. Ich hatte schon viel zu lange auf die Lügen meiner Essstörung gehört. Jetzt musste ich mich auf die Stimme meines Körpers verlassen, die mich daran erinnerte, dass der wichtigste Teil einer Schwangerschaft ist, auf sich selbst zu achten – wirklich auf sich zu achten, den eigenen Körper zu lieben, weil er sein Bestes für dich gibt. Egal, ob du ihn misshandelt und geschlagen hast oder ihn hast hungern lassen, alles, was dein Körper von dir einfordert, ist, dass du auf ihn achtgibst.
Ich wusste nicht, was in dieser Schwangerschaft noch passieren würde, aber ich wusste, dass ich meinem Körper bereits genug zugemutet hatte. Und als ich da nun so in meinem Badezimmer saß, sagte ich mir selbst: „Ich vergebe dir.“ Und dann weinte ich eine ganze Weile.
Schwanger oder nicht, ich war bereit Mutter zu werden. Ich verdiente es, endlich damit aufzuhören, meinen Erfolg daran zu messen, was ich mir selbst verkniffen hatte. Mein Baby verdiente eine Mutter, die ihm nicht nur ein Vorbild war, was ein gesundes Essverhalten anging, sondern ihm auch ein gutes Beispiel für Selbstachtung und Liebe war. Für uns beide schwor ich, mir die Unterstützung und professionelle Hilfe zu suchen, die ich brauchte und diese, wann immer es in Zukunft wieder nötig sein würde, in Anspruch zu nehmen. Ich wollte nicht, dass mein Baby jemals den gleichen Schmerz erleben müsste, den ich jeden Tag erlebt hatte.
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Als ich aus dem Bad kam, umarmte mich mein Mann.
„Geht es dir gut?“ fragte er.
„Ja“, erwiderte ich und atmete tief ein. „Ich habe Hunger.“
Wenn du das Gefühl hast, du oder eine Person, die du kennst, leidet möglicherweise an einer Essstörung, findest du Hilfe bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
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